Zum Alvier-Panorama

Stehen wir an einem sonnigen Morgen im vielbesuchten Ragaz und lassen unsern Blick über die wunderherrliche Umgebung gleiten, so eröffnet sich uns nach Norden das prächtige Rheinthal, beidseitig von imposanten Gebirgsformen begrenzt, die infolge ihrer harmonischen Gruppirung ein Gesammtbild ergeben, wie es imposanter, überwältigender und anmuthiger zumal wohl schwerlich wieder zu treffen wäre.

Zwei dieser Formen sind es vorwiegend, die unsern Blick fesseln; einerseits der felsstarrende Falknis, anderseits aber die pittoreske Alvierkette, die uns als ihre letzten Ausläufer noch die Gauschla (2312 m) und den Gonzen (1833 m), der in jähem Absturze unmittelbar bei Sargans die Thalsohle erreicht, entgegensendet.

Diese Kette ist eigentlich blos die nach Südosten abbiegende Fortsetzung der Churfirstenkette und bietet infolge ihrer isolirten Lage eine Fülle von Aussichtspunkten, deren einige getrost mit den berühmtesten der Schweiz von gleicher Höhe sich messen dürfen.

Die Gipfelpartien der ganzen Kette gehören durchweg der Kreideformation, das Fussgestell der jurassischen an; vom Rheinthal, sowie vom Toggenburg aus steigen die Schichten allmälig an, um in imposantem Absturze dem Wallensee die Schichtenköpfe zu weisen. Der höchste Punkt der ganzen Kette ist die Faulfirst (2413 m), deren Rundsicht aber von der des weiter südöstlich gelegenen, nur wenig niedrigeren Alvier (2363 m) bedeutend übertroffen wird. Das ganze Gebiet ist Freiberg und beherbergt nach der Zählung der Wildhüter weit über 200 Gemsen, so dass sich sehr oft Gelegenheit bietet, die munteren Thiere zu belauschen.

Die Besteigung des Alviers selbst ist absolut leicht und gefahrlos, steigt doch an schönen Sonntagen das Landvolk zu Hunderten dem Gipfel zu, um den Sonnenaufgang zu geniessen. Lange wurde der prächtige Berg fast ganz vernachlässigt. Erst seit der Erbauung der auf dem Gipfel thronenden Clubhütte und der gleichzeitigen Anlage zweier vollkommen sicherer Wege durch die Section „Alvier” des S.A.C. wurde der Berg beachtet und ist nun in wenigen Jahren schon ein vielbesuchtes Wallfahrtsziel der Bergfreunde geworden.

Die Distanzen von den benachbarten Eisenbahnstationen aus sind folgende:

1. Von Mels aus: Mels – Kurhaus Palfries 2 ½ Stunden (retour 1 ½ Stunden, Vormittags), Palfries-Gipfel 1 ¾ – 2 Stunden (Führer Hobi in Mels gut).

2. Von Trübbach aus: Nach Palfries (Kurhaus) 3 Stunden (Nachmittags), Palfries – Alviergipfel 1 ¾ – 2 Stunden (Führer Hanselmann in Oberschaan).

3. Von Sevelen aus: Direct in 4 – 4 ½ Stunden (kürzester, leichtester, sicherster Weg), retour 2 ½ Std. (Führer Tischhauser in Sevelen ausgezeichnet).

4. Von Buchs aus: 5 Stunden, retour 3 Stunden (Führer Stricker in Buchs).

Es lässt sich somit die Tour von Ragaz aus in einem Tage (via Sevelen) ohne grosse Anstrengung, via Trübbach oder Mels in 1 ½ Tag ganz bequem machen. In letzterem Falle richtet man sich gewöhnlich so ein, dass man Nachmittags von Trübbach abmarschirt, um nach 3stündigem, sehr bequemem Marsche zum Uebernachten das primitive, originelle Kurhaus Palfries zu erreichen, von wo der Gipfel am Morgen leicht in 1 ¾ Stunden gewonnen werden kann. Der Mangel an Comfort wird in Palfries durch die ungezwungene Gemüthlichkeit reichlich ersetzt und bei einigermassen bescheidenen Ansprüchen lässt es sich hier oben ganz prächtig leben.

Vorerst geht es sanft aber stetig ansteigend circa drei Viertelstunden lang die prächtigen Alpweiden von Palfries hinan und schon auf diesem Wege beginnt sich die grossartige Umgebung nach und nach den Blicken zu entfalten.

Nun wird der Fuss des zwischen Gauschla und Alvier herausspringenden prächtigen typischen Schuttkegels, über welchen der Weg bequem in vielen Zickzack der Höhe des Kamins zuführt, erreicht. Es ist letzteres eine steile Felsspalte, in der eine künstlich angelegte steinerne Treppe sehr rasch und absolut gefahrlos zur Kammhöhe emporführt. Die ganze Scenerie hat etwas Hochgebirgsartiges. Am oberen Ende des Kamins eröffnet sich uns wie mit einem Zauberschlage ein wunderbar grossartiger Einblick in das tausend-gipflige Gewirr der Vorarlberger und Tyroler Alpen, eine Ueberraschung, die in keiner Weise hinter der des Kriesiloches am Pilatus zurücksteht. In circa einer halben Stunde vom Fusse des Schuttkegels an gerechnet wird diese Stelle erreicht und in weiteren zwanzig Minuten der noch folgende Weg, der höchst romantisch am Rande jäher Wildheuplanken zur Clubhütte auf dem Gipfel führt, gefahrlos und bequem zurückgelegt.

Sollte indessen jemand gar zu sehr dem Schwindel unterworfen sein, so lässt sich diese Strecke auch umgehen, indem man etwas gegen die Schmelzwasserseelein niedersteigt und an ihnen vorbei den Sevelenweg gewinnt, der auch dem Schwindligsten gestattet, sich seiner zu bedienen. Der Rückweg kann wieder über Palfries oder noch besser stets auf gutem Wege nach Sevelen oder Oberschaan (Trübbach) genommen werden. Von diesen Punkten aus führt dann die Eisenbahn direct nach Ragaz. Nicht genug ist es anzurathen, einmal auf einem Berggipfel einen ganzen Tag zuzubringen, und auch zu diesem Ende würde sich unser Alvier vorzüglich eignen. Versuchen wir es, einen solchen Tag in kurzen Zügen zu schildern.

Wir sind früh aufgebrochen und haben den Gipfel vor Sonnenaufgang erreicht. Geisterhaft, frostig starren uns die Bergesriesen im Halbdunkel entgegen. Nach und nach beginnt es zu dämmern. Schärfer und klarer zeichnen sich die scharfzackigen Gräte von dem stetig sich hellenden Himmel ab. Schon erkennen wir die näheren Formen. Immer kräftiger, mächtiger bricht der Tag herein, immer mehr weicht die graue, die frostige Nacht — da blitzt es jählings fern südwärts in goldigem Lichte auf: es sind die Engadiner Riesen, die prächtigen Gipfel der Berninagruppe, die der Sonne den ersten Gruss entbieten. Auch im Westen beginnt es zu glühen: die fernen Berneroberländer. Nun folgt der Tödi mit seinen Vasallen, dann die Graubündner, der Glärnisch und endlich schiebt sie sich selbst über den scharfgezackten Horizont empor, die herrliche, goldrothe Sonnenkugel, ringsum ein Meer von Licht ergiessend. Noch herrscht tiefes, blauduftiges Dunkel im Thal, noch regt sich kein Wesen, kein Laut, und stumm bewundernd geniessen wir das herrliche Schauspiel.

Doch immer tiefer hinunter steigt der erwachende Tag, laut und lauter wird’s im Thal. Vieltausendstimmig dringt das geschäftige Treiben der emsigen Welt zu uns schon empor, bis endlich der Tag die volle Herrschaft gewinnt.

Da fesselt ein herrliches Bild unsern Blick: das goldbraunduftige Rheinthal, vom silberblitzenden Rheine in vielfach gewundenem Bande durchzogen. Links ist es begrenzt von der herrlichen Sentisgruppe, rechts von den in unvergleichlich schwungvollen Formen aufragenden Dreischwestern, im Hintergrunde abgeschlossen vom silberglänzenden Bodensee. Deutlich erkennen wir das fernschimmernde Lindau und nur ungern trennen wir uns von dem grossartigen und doch wieder so lieblich harmonischen Bilde.

Doch sieh! da unten in jäher Tiefe, fast 2000 m unter uns, tiefer als der Meeresspiegel unter Rigikulm, grüsst der tiefblaue Wallensee! Beidseitig springen bewachsene dorfbelastete Schuttkegel in die blauleuchtende Fluth hinaus. Rechts streben in jähen Hängen die Churfirsten gewaltig empor, links die wilde Mürtschengruppe und im Hintergrunde die malerischen, zierlichen Wäggithaler. Auch diese Partie zählt unstreitig zu jenen, die nur wenige ihresgleichen finden.

Mittag ist vorüber. Tiefer und tiefer sinkt die Sonne dem Westen zu. Schon wirft unser Berg lange tiefblaue Schatten in’s freundliche Rheinthal. Wunderbar schöne Lichtcontraste erzeugt die nahe, umgletscherte Ringelspitzgruppe. Aber auch das ferne Graubünden beginnt sich mehr und mehr zu röthen. Die erst noch gelbweiss schimmernden Lichter durchlaufen die herrlichste Farbenscala vom hellsten Gelb bis zum glühendsten Roth. Die höchste Lichtwirkung ist erreicht — ein bezauberndes, erschütterndes Bild. Da erblassen allmälig die tieferen Gipfel. Geisterhaft streben ihre fahlen Häupter zu den sonnenbeschienenen glühenden Riesen empor. Mehr und mehr erblassen auch diese. Nur fern im Süden da steigert sich das glühende Roth noch zu ungeahnter Kraft: es ist die ferne Bernina und mit ihr der Monte della Disgrazia, die der scheidenden Sonne den letzten Gruss entsenden. Auch sie erblassen. Unbeweglich blicken wir sinnend in die herrliche Welt hinaus, bis uns die wachsenden Schatten an Rückkehr erinnern. Der Tornister wird geschultert, der Alpstock erfasst, ein heller, weittönender Jodelruf als Abschied noch, dann geht es zu Thale. Wer jemals solchen Gang gethan, er wird ihn nie vergessen!

Mit Macht rückt der Frühling wieder in’s Land. Höher und höher spannt die Sonne ihren Tagesbogen, immer wärmer, wirksamer entsendet sie ihre Strahlen, dass der Schnee von den Bergen schmilzt und tausend geschwätzige Quellen, von Winters Bann erlöst, in munterem Geplauder zu Thale rauschen. Fliegende, schimmernde Schneebänder huschen in übermüthiger Lust rauschend die Felswand hernieder und schwere, dumpfe Grundlawinen ziehen wuchtigen Sturzes ihre verheerende Bahn. Neugierig durchbrechen der Blumen erste Frühlingsboten das rasch zerfliessende Schneegewand, in emsiger Eile buntfarbige, weitleuchtende Muster in’s braunrothe Grün des Grasteppichs wirkend. Lautjubelnd dem sengenden, staubigen Süden entfliehend ziehen die nimmer müden gefiederten Sänger wieder ein und entbieten vollen Herzens dem ewig jungen Frühling den schmetternden Jubelgruss.

In schimmernder Klarheit blicken die Berggewaltigen auf das emsig geschäftige Treiben der Tiefen hernieder; sie freuen und schmücken sich auf nahen Besuch. Wie lange hatten sie einsam den Winter verträumt! nur wenige treue Freunde hatten sie nicht ganz vergessen und ihnen die lange Winterszeit durch herzlichen Besuch gekürzt.

Doch jetzt, wo alles sich jubelnd erneut, wo alles keimt und spriesst und blüht, wie wird da dem Bergfreund so eigen um’s Herz, wie zieht es ihn fort mit Allgewalt, hinaus, hinauf in die lichtblaue Welt, in den schimmernden Duft der Berge! Wie liebreich begrüssen sie ihn, die alten Bekannten, und ziehen ihn empor mit urgewaltiger Kraft, um ihm neue, herrliche, unvergessliche Erinnerungen mit zu Thal zu geben!

Nun denn, so sei’s! Den Alpstock zur Hand, wir fahren zu Berge, zu Berge! Und gilt der Besuch dem herrlichen Wallensee und geht’s dann empor zu des Alviers felsigen Zinnen, so soll es mich doppelt freuen.

Das beigelegte Panorama, im Auftrage der Section Alvier ihrem Namenspatron zu Ehren gezeichnet, eine Erstlingsarbeit und daher in vielem noch sehr mangelhaft, wird uns leicht und sicher orientiren, und sollte ein genauer Beobachter hie und da etwas nicht ganz in Ordnung finden, so möge er versichert sein, dass es nicht an gutem Willen und an Fleiss, sondern blos an der nöthigen Uebung gebrach. Das nächste Mal soll’s besser werden. Und nun: «von Herzen glückliche Reise!»

(Quelle: S. A. C. Jahrbuch 1880. S. Simon, Topograph)

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