Die prachtvolle Witterung hat auch in unsere Ortschaften mehr Leben gebracht. «Ebnat-Kappel als Kurort», ist kein frommer Wunsch mehr, sondern in erfreulicher Weise zur Wirklichkeit geworden. Täglich speist eine recht ordentliche Anzahl, die mit jeder Woche steigt, in den hiesigen Gasthöfen. Logis finden die werthen Gäste zu billigem Preise in Genüge bei Privaten. In dieser Beziehung wird wirklich eine Lücke im Kurwesen ausgefüllt. Wer die grossen Summen, welche die Luxusbad- und Kurorte erheischen, nicht aufwenden kann oder will, den laden wir in unser heimisch Thal, an den Fuss unserer Gebirgs- und Alpenwelt ein. Er findet hier die Schönheiten der Natur, die Angenehme der Gesellschaft, die günstigste Gelegenheit für Molkenkuren usw. so gut wie in den Kurorten von altem Ruf und kann sich dabei in einfacher und komfortabler Weise, wie es seiner Gewohnheit oder Neigung entspricht, einrichten.
Wir hoffen, dass andere toggenburgische Orte, deren Lage es erlaubt, das gegebene Beispiel namentlich in Bezug auf Verschönerungen nachahmen; was gilts, wir begegnen vor Umfluss von zehn Frühlingen dem quickenden «Yes» auf unseren Strassen.
Wer ausharret kommt an’s Ziel!
Immer mehr machen die sozialen Verhältnisse Landaufenthalte, Luft-, Bad- und Molkenkurorte zur Erholung wie zum Vergnügen zur Nothwendigkeit. Was früher dem Reichen zum Vergnügen und zur Gewohnheit war, ist selbst dem Mittelstande zum Bedürfniss geworden, nur ist letzterer angewiesen, Orte aufzusuchen, die ohne ihre Leistungen zu schmälern, den Anforderungen desselben doch entspricht.
In erfreulicher Weise hat das obere Toggenburg seine Thore geöffnet, um einer nach frischen Luft haschenden Welt Erholung zu gönnen und es gebührt desshalb dem Kurverein Ebnat-Kappel volle Anerkennung.
Es sind aber wohl noch viele interessante Punkte in dieser Alpenlandschaft, die noch verkannt und verborgen nur in ihrer nächsten Umgebung ihre Reize bieten.
Jeder Tourist kennt wohl der Kurfürsten stattliche Reihe, weniger aber das wonnige, eben Alpenthal zu ihren Füssen, mit zwei Stunden langer Ebene, verborgen am Fusse des Selun mit seiner Wildmannshöhle (9 ¼ Klafter tief in den Bauch des Berges, nicht 1000 Fuss) oder das Donnerloch auf der Ebene von Sollamatt mit seinem langen Echo aus dem gähnenden Schlund des Kraters.
Neben dem Malerischen der Formation muss nicht minder anziehend sein, die Reichhaltigkeit der alpinen Flora, die durch den Alpenrosenkranz wie durch die rasenbildende Silene, durch leuchtende Annemonen wie durch honigduftende Nigritellen allgemein gleich überraschen wird, während dem Botaniker seltene Spielarten der hohen Pflanzenwelt sich bieten werden.
Allgemein bekannt ist des Säntis überraschende Fernsicht, der neu erstellte Weg aber von Unterwasser aus, der von jedem mit Leichtigkeit passirt wird, da von da aus, respektive im Gasthof zum Sternen, sichere Führer und nöthigenfalls Reitpferde bis an den Fuss des Berges zu erhalten sind. Einer der Führer, Rüdlinger, hat bereits einen Ruf erhalten durch seine humoristischen Einfälle und die seltsame Benutzung seines Kopfes als Trommel bei der tragischen Besteigung des Säntis unter Blitz, Donner und Hagel durch eine Gesellschaft von Lichtensteig.
Wenige Fremde kennen aber die leichten Alpentouren von Unterwasser aus nach den schönen Alpseen von Schwendi und Gräppelen, Erstere, 2 anmuthige Seen am nordöstlichen Abhange des Käsernrucks, liegen in einer stillen, malerischen Mulde, dicht bekränzt vom grünen Tannenwald, eine Gondel, die auf denselben ist, sowie das zum Baden so vortreffliche Wasser bieten auf dieser Stelle einen Hochgenuss. Da dieser Punkt vom Sternen aus in einer halben Stunde erreicht wird, eignet sich diese Excursion vortrefflich für Spazierfahrten der Kurgäste des Toggenburgs. Im gleichen Verhältnis steht der See auf Gräppelen am Fusse des Lütispitz.
Am interessantesten, jedoch am wenigsten bekannt, ist der malerische Wasserfall in der Thurschlucht vom Kämmeritobel. Von Unterwasser aus in nördlicher Richtung zweigt sich ein kleines Seitenthälchen ab, das nördlich von fruchtbarem Wiesengelände, südlich von einem Waldkranze umsäumt wird, in seinem Herzen die junge Thur bergend. Ein wölbender Buchenhain bildet den Hintergrund des Thälchens und unter seinem schattenden Dach klemmt die Thur sich durch Fels und Gestein; am äussersten Punkt, wo die Thalwände von Ost nach Nord sich die Hände reichen, kommt abwechselnd in kühnem Wasserfall und aus grausiger Schlucht die Thur herab in ein gewölbtes Bassin, «Stube» genannt. Rings umschlossen in diesem steinernen Becken treiben still sich die Wogen, abgeschlossen von der Welt in dumpfem Echo erdröhnend. Imposant ist der Anblick, plötzlich aus dem malerischen Wiesengelände in diese Schlucht geführt zu werden, die kaum mehr einen offenen Blick gen Himmel gestattet.
Dieser romantische Punkt, kaum zehn Minuten vom Gasthof zum Sternen entfernt, dürfte jedem Reisenden empfohlen sein, um so mehr, da bis jetzt alle Reisehandbücher selbst unbegreiflicher Weise Berlepsch-Kohl, darüber schweigen. Wohl bedarf der Weg zur vollen Besichtigung des Wasserfalls bei grossem Wasser etwelcher Verbesserung, es hat aber Hr. Postpferdehalter Looser beim Sternen Schritte gethan. Interessant wäre des Nachts eine bengalische Beleuchtung dieser Schlucht; diese Manipulation sollte eine Gesellschaft nicht unversucht vorübergehen lassen, sie würde gewiss gerne von den Bewohnern von Unterwasser unterstützt und einen schweigenden Hochgenuss erhalten.
(Quelle: Alpenpost 1873)