Exkursion auf den Alvier (2363 M.)
Je nach dem Willen und der gemeinsamen Uebereinkunft der Theilnehmer kann die Tour nach Wallenstadt (resp. Bärschis) am dazu bestimmten Samstagabend pr. Bahn oder von Weesen auf pr. Schiff, von solchen, die über die ganze Tageszeit gebieten können, auch zu Fuss über Kerenzen, Walenguflen, Murg, Terzen und Mols gemacht werden, – ein Spaziergang, der durch seine stets wechselnden Scenerien ebenso interessant ist, als eine Fahrt auf dem romantischen Walensee an einem klaren Sommerabend und leider viel zu wenig frequentirt wird, wie die Touristen überhaupt dem herrlichen Walenseegebiete heute noch viel zu wenig Ehre angedeihen lassen.
In Flums oder Mols nimmt man Nachtquartier; da aber das Alvierpanorama in Folge seiner vielfachen Eigenthümlichkeiten den höchsten Reiz beim Sonnenaufgang bietet, so wird man wahrscheinlich von Flums aus über Furkels und Castellun, von Mels aus durch die Spina am Abend noch das «Haus» auf der hübschen Alp Balfries zu erreichen suchen, von wo aus alsdann in der Morgendämmerung der Gipfel in kurzer Zeit gewonnen ist.
Der Alvier ist mit Recht der besuchteste Berg des Sarganserlandes und Werdenbergs; denn sein Panorama verbindet eine solche Lieblichkeit und Grösse zu der schönsten Harmonie, wie selten ein so leicht zu erreichender Höhepunkt unserer Nachbarschaft. Das ganze Rheinthal «vom Bodan bis zu Bündens Schnee», und das Seezthal mit dem Walensee direkt zu Füssen, die mächtigen Gipfelreihen der Tyroler-, Bündner-, Glarner-Alpen etc., die lieblichen Voralpen der Ostschweiz und Vorarlbergs dehnen sich in weitem Bogen vor dem Beschauer aus, und besonders ist es ein Bild, das den glarnerischen Clubisten sehr interessiren wird: er kann da den ganzen Bau des als Grenzmauer zwischen Glarus und St. Gallen sich aufthürmenden Gebirgswalles mit einem Blicke überschauen.
Der Abstieg kann 1) über Balfries und Mattug nach Trübbach, 2) über Balfries und Spina nach Ragnatsch, 3) über Balfries und Castellun nach Wallenstadt, 4) über den Gonzen und die Gonzenalp nach dem Eisenbergwerk und Sargans genommen werden, welch letztere Tour wohl am meisten Interesse bietet und als Hauptlinie aufgestellt wird. …
(Quelle: Alpenpost 1872)
Tourenberichte. Der Alvier.
Der Alvier im St. Galler Oberland geniesst in engern speziell zürcherischen Kreisen den Ruhm, einer der lohnendsten Gipfel, mit der relativ geringen Höhe von 2363 m, zu sein, auf welchem eine der grossartigsten Rundsichten geboten wird, die derjenigen des Säntis in vielen Teilen erfolgreiche Konkurrenz macht. In der Schutzhütte auf der Spitze ist seit letztem Sommer, dank der Initiative des werdenbergischen Alvier-Club, eine bessere Ordnung eingekehrt, und darf jetzt der Besuch jedem Alpinisten und Bergfreunde warm empfohlen werden. Auf der Walenstadter- und Werdenbergerseite grüssen Fahnen, zum Zeichen, dass nun ein ständiger Wirt droben, der nach mässigem Tarif die Besucher mit Speis und Trank versieht; das Heulager mit genügenden Decken bietet dem berggewohnten Besucher bequeme Ruhe. Die Wege sind bis zur Spitze ausgebessert und markiert und so ist zu hoffen, dass man dem von Zürich aus in so bequemer Weise zu erreichenden lohnenden Berg mit seiner wunderbaren Aussicht wieder gerecht werden wird. (5/4 tägige bequeme Tour, Aufstieg von Walenstadt, Mels oder Trübbach aus, Abstieg am besten nach Buchs, von wo aus nach Zürich sehr gute Bahnverbindung besteht.) Ist doch der Aufstieg total ungefährlich dem Wege nach, auch für mit Schwindel behaftete leicht gangbar und wie gesagt eine Aussicht infolge seiner günstigen Lage, die ihresgleichen sucht, und jedem Besucher vollkommene Befriedigung bieten wird. Also auf! Auf zum Alvier!
(Quelle: Alpina 1900)
Berichte aus den Sektionen.
Sektion Bodan (Thurgau): … Zur Alvier-Tour hatten sich 15 Mann eingefunden. Von Trübbach über Azmoos, allwo uns durch des bekannten Meisterschützen blondem Töchterchen eine flotte Bewirtung zuteil wurde und deren schmuckes Gesichtchen bewirken mochte, dass auch einem ältern Knaben unterm Brusttuch ordentlich warm werden konnte, gelangten wir nach einem cirka dreistündigen Aufstieg nach der Alp Palfries. Im gastlichen Kurhaus bezogen wir nach einigen urgemütlichen Stunden unser Nachtquartier. Morgens 4 Uhr Tagwacht. Unter fröhlichem Jauchzen und Plaudern gings über die prächtige Alp Palfries und in geflissentlicher Langsamkeit den steilen Hang hinauf durch das «Kamin» auf den Gipfel unseres Reisezieles. Der herrliche Morgen, die wundervolle Aussicht auf die edlen Formen der Kurfirsten, die grauen Hörner, die Glarner Alpen und namentlich aber auf den zu unseren Füssen liegenden tiefblauen Walensee bewirkten, dass unser Herz und Sinn aufgingen und wir aus voller Kehle in die taufrische Morgenluft hinausjubelten. So erging es auch unserm rührigen Photographen W., der manch gelungenes Trüpplein auf originellem Hintergrund zu fixieren verstand. Nachdem in der ziemlich antiken Alvierhütte der wettergebräunte Hüttenwart und ein Wiener Piccolo, dem die Geheimnisse der Kochkunst eingeprägt werden sollen, uns mit Kaffee, Gaismilch und Südländer gestärkt hatte, erfolgte der Abstieg. Einen möglichst direkten, vollständig gefahrlosen Weg verfolgend, gings hinunter über saftige Alpentriften und durch prächtige Waldungen. Um 12 ½ Uhr langten wir in Buchs an mit den schönsten Blumenkindern und Pflänzchen des Berges geschmückt, von welch’ letztern manches in die lateinische Küche wanderte. In der Bierbrauerei R. wurde denn auch unterm Kommando des Obersten R. dem von der herausfordernden Alpenluft noch gesteigerten Appetit durch einen frugalen Mittagstisch, wobei auch fein präparierte Forellen nicht fehlten, Genüge gethan, und in dem Bewusstsein, unsern Reiseplan, bei dessen Durchführung man sich auf die eigenen Glieder angewiesen sieht, glücklich zur That gemacht zu haben, fuhren wir zu unsern Penaten zurück.
(Quelle: Alpina 1902)
Ein Abenteuer am Alvier.
Seit Wochen wegen Unfalles an das Bett gefesselt, habe ich nun Musse, die Zeitungen der letzten Wochen, die ich wegen Geschäftsüberhäufung zurücklegte, zu durchblättern. Da finde ich nun auch eine Schilderung über die Zerstörung der Alvierhütte, die mir lebhaft eine auf dem Alvier verlebte Episode in Erinnerung bringt und die ich hier wiedergeben will.
Am 26. August 1907 wars. Mit einem Clubgenossen hatte ich eine Spitzmeilentour verabredet, aber so gut, dass jeder eine Tour auf eigene Faust machte. Nach Flums zurückgekehrt, erfuhr ich, dass mein Freund bereits wieder nach Zürich verreist sei. Da ich gerade Ferien hatte, und das Wetter gut war, entschloss ich mich, noch auf den Alvier zu gehen. Wenn es auch bereits etwas spät am Nachmittag war, machte mir das keine Sorge, kannte ich doch den Weg von allen Seiten. Mit bekannten Kurgästen auf Gamperdon verabredete ich, ihnen abends 8 Uhr durch ein Feuersignal vom Alvier aus meine glückliche Ankunft zu melden.
Mit Proviant beschwerte ich mich nicht allzusehr, wusste ich doch, dass in der Alvierhütte – in der ich, beiläufig gesagt, bereits so gegen zwanzig Mal schon übernachtet hatte – für genügsame Menschen während der Saison immer etwas zu beissen und zu trinken bereit war. Den Weg nahm ich von Flums direkt über Galsersch, Ruchel, Furggelwald-Schindeln.
Er ist bei Sonnenschein dem «Melser» Weg vorzuziehen und führt an zwei Stellen zu gutem Wasser. Auf dem Weg zerstreut fand ich eine ganze Anzahl Schindeln; als willkommene Nahrung für das abends projektierte Signalfeuer stopfte ich mir damit den Rucksack voll. Die Hitze und der mit der Zeit schwer gewordene Sack drückten gewaltig; ich durfte aber nicht zu häufig rasten, wollte ich vor Nacht auf dem Gipfel sein. Bei der Alp Malun füllte ich nochmals meine Flasche mit dem köstlichen Wasser. Die Hälfte etwa gedachte ich unterwegs noch zu trinken, den Rest aber zur Verdünnung der ersten Flasche des mir von früheren Fahrten her in gutem Gedächtnis stehenden «Oberländers» in der Hütte zu verwenden. Mehrfach wollte beim Aufstieg durch das eine förmliche Glutofenhitze ausströmende Geröll mein Magen aufbegehren, ich beschwichtigte ihn aber jeweils mit einem Schluck Wasser und dem Verweis auf den oben in Aussicht stehenden guten Tropfen. Mehr zu tun vermochte ich nicht, denn mein Rucksack enthielt ausser der Feldflasche und etwas Wäsche nichts als die Schindeln. Selbst die mich sonst überallhin begleitende Notration Schokolade war tags zuvor schon verzehrt und von mir unvorsichtigerweise in Flums nicht erneuert worden.
Etwa um 7 Uhr kletterte ich aus dem Kamin auf den Grat zwischen Alvier und Gauschla. Begegnet war mir bis jetzt kein Mensch, auch hatte ich von oben auf meine Jauchzer keine Antwort erhalten. Dichter feuchter Nebel umfing mich und rasch war es völlig dunkel. Während ich mehrere vergebliche Versuche machte, die Laterne anzuzünden, hörte ich wiederholt Steine vom Gipfel gegen mich herunterrollen, ich dachte mir, es werde jemand von oben herabsteigen. Ich «juchzte» deshalb und rief: «He, kei Stei abegheie». Als Antwort erhielt ich von der Rheintalerseite des Grates von unterhalb her die Frage: Wänd Sie na ufe? Meine Bejahung veranlasste den Mann, zu mir herauf zu klettern und er sagte: «Sie müend dänn ufpasse da obe, s’ischt e grossi Schafheerd d’obe». – Auf meine Frage, ob auch noch weitere Touristen oben seien, erhielt ich den Bescheid: nein, nicht einmal der Hüttenwart sei droben, der sei hinunter, um Proviant zu holen und werde vor morgen kaum zurückkommen. Damit verabschiedete sich der Mann von mir; es war ein Lehrer aus dem Rheintal. Ich überlegte einige Zeit, ob es nicht gescheiter wäre, auch zurückzukehren, hatte ich doch schon wiederholt erfahren, in welch’ fatale Situation man durch Schafherden kommen kann. Da ich aber in der Höhe sich absolut nichts mehr regen hörte, beschloss ich den Aufstieg. Glücklich kam ich auch ziemlich weit hinauf, wenigstens aus der Nebelwolke hinaus, die mich durch und durch genässt hatte. Bereits sah ich auch jenseits an den Hängen der Flumserberge einzelne Lichter. Ich hoffte, die Schafe hätten sich jedenfalls den kleinen Alvier oder doch auf den Gipfel verzogen und ich könne unbemerkt wenigstens das Plateau gewinnen, auf welchem die Hütte steht. Ich kletterte rasch und so leise als möglich weiter, bis ich mit dem Pickel an einen Stein stiess, was einen hellklingenden schrillen Ton verursachte. Erschreckt hielt ich inne und lauschte. Was ich hatte verhüten wollen, hatte meine Unvorsichtigkeit erreicht; die Schafe waren auf mich aufmerksam geworden. Nicht lange gings, kamen vorerst einzelne, dann aber ganze Scharen von Steinen den Berg hinunter. Ich nahm den Rucksack vom Rücken, setzte ihn auf den Kopf und rannte den Weg hinauf. Ich hoffte, damit nicht nur Zeit zu gewinnen, sondern den Schafen auch zu imponieren. Noch hatte ich mehrere Wegkehren vor mir, als bereits die vordersten der Schafe mich erreicht hatten. Diese getrauten sich, da ich den Rucksack drohend überm Kopf schwang, nicht an mich und ich kam, war mir die Hauptsache war, noch leidlich vorwärts. Wie eine Wetterwolke kam aber plötzlich die ganze Herde herbei und ich war, ohne dass ich wusste wie, mitten drin. Von vorn, von hinten, von der Seite wurde ich beschnuppert, betupft und schliesslich gestossen. Die vordersten Tiere wollten mir nicht nur die Hände, sondern auch das Gesicht lecken und standen deshalb an mir auf. Da die hintern Tiere beständig nachdrängten, konnten die vordern auf den Hinterbeinen stehenden nicht mehr von mir weg, all mein Zureden auf die Menge half nichts; ich musste Gewalt brauchen und mit dem Rucksack dreinschlagen. Für eine Strecke, die man sonst in 5 Minuten zurücklegt, brauchte ich etwa eine halbe Stunde. Eines Berggenossen stereotyper Ausdruck auf Touren «s’ischt nüd ring uf dere Welt», kam mir da in Erinnerung und ich hätte gerne aufgelacht, wenn die Situation etwas weniger ungemütlich gewesen wäre. Ich machte wiederholt den Versuch, den Rucksack anzulegen, um die Hände freizubekommen; wie ich aber nur mit der Hand die Riemen richten wollte, hatte ein grosser starker Bock, dem ich besonders gefallen musste, seine Vorderbeine auf meiner Brust und seine Schnauze in meinem Gesicht. Ein Freudenschrei entrang sich meiner Brust, als ich endlich der Hütte ansichtig wurde; mit Huronengebrüll schwang ich, nachdem ich ebenes Terrain unter mir wusste, Rucksack und Pickel um mich und drängte der Hütte zu. Alle Schlauheit musste ich anwenden, meinen Rücken an die Hüttentür zu bringen; der grosse Bock mochte meine Absicht merken, er machte beständig Boxerbewegungen mit dem Kopf, die mit dem Rucksack parieren musste. Schliesslich erreichte ich, mit der einen Hand rückwärts tastend, die Türfalle, ich drückte darauf und merkte zu meiner Genugtuung, dass die Tür dem Druck nachgab. Ich machte noch einen Ausfall nach vorn und drückte mich dann rückwärts in die Hütte, rasch die Türe zudrückend und diese vorsichtshalber mit Pickel und Stühlen verbarrikadierend. Als ich merkte, dass diese den nachdrängenden Tieren Stand hielt, warf ich mich, tropfnass wie ich war, erschöpft auf die Pritsche, bis mich mein Versprechen betr. das Feuersignal und mein brennender Durst auftrieben. Vorerst wollte ich das erstere erledigen. Ich packte deshalb die Schindeln aus dem Rucksack, alles war feucht. Dann spähte ich aus der Türe, ob die Schafe sich gelegt. In der Nähe der Hütte schien die Luft sauber und ich ging mit dem Bündel Schindeln und einem Wisch Papier auf den nahen Gipfel hinter der Hütte. Vergeblich waren aber meine Bemühungen, das Papier und die Schindeln in Brand zu stecken, fast das ganze Schächtelchen Zündhölzer opferte ich. Auf dem Boden kauernd hatte ich nicht bemerkt, dass ich während meinem Tun einen Zuschauer gehabt; erst als ich mich wieder zur Hütte begeben wollte, erblickte ich den anhänglichen Bock, der meine Bewegungen für Angriffserklärungen aufgefasst haben mochte und, den Kopf am Boden, eben auf mich los wollte. Mit einem Büschel Schindeln erwehrte ich mich seiner Zärtlichkeiten und retirierte zur Hütte. Allem Anschein nach hatte ich die Türe nicht richtig eingeklinkt, es waren einige Schafe in die Hütte gedrungen und hatten in dieser und in meiner Wäsche eine greuliche Unordnung angerichtet. Jetzt hatte ich aber genug; mit dem Besen trieb ich die Gesellschaft hinaus und verrammelte die Türe. – Mein Durst! Ich zündete mir die Laterne an und wollte etwas zum trinken suchen. Kaum aber hatte ich Licht, so ging an der Türe und den beiden Fenstern der Spektakel wieder los. Durch beide Fenster glotzten die Augen der Tiere und der Bock versuchte die Fenster einzudrücken. Es gab keine Ruhe, bis ich das Licht auslöschte. Im Dunkeln tappte ich nun auf den mir gut bekannten Gestellen herum, speziell da wo der Wein aufbewahrt wurde; ich fand aber alles nur leere Flaschen. Schliesslich blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit meinen par Schluck Wasser, die ich noch in der Feldflasche hatte, zu begnügen und auf die Pritsche zu kriechen und so gut als möglich zu schlafen.
Gegen 8 Uhr morgens erschien dann endlich der Hüttenwart mit Proviant. Verwundert fragte er mich, ob ich denn gestern Nacht keinen Durst gehabt hätte. Ich erzählte ihm, wie ich die Hütte nach etwas Trinkbarem ausgesucht, aber nichts gefunden hätte. Da lachte der Mann laut auf und wies auf zwei unverkorkte, auf dem Tische stehende Flaschen «Oberländer» hin. Ich erinnerte mich, im Dunkeln auch an diesen Flaschen herumgetastet zu haben, ich hielt sie aber, eben weil keine Pfropfen darauf waren, für leer.
Jetzt gelüstete mich natürlich nicht mehr nach Wein; ich liess mir einen Kaffee machen und stieg dann hinab, durch die Strahleggfurggel nach Flums. ….
(Quelle: Alpina 1910)
Berichte aus den Sektionen. Sektion St. Gallen. Botanischer Bericht von der Alviertour (11./12. Juli 1914).
Es muss einer schon ein vernageltes Gehirn und ein total versteinertes Herz haben, wenn er nicht aufjauchzend oder still und bewundernd den Gürtel betritt, wo die echten, lebenswarmen Alpenpflanzen ihre hundert und aber hundert farbigen, feinduftenden Blütenfähnlein gehisst haben. Unter uns liegt der schweigsame, hochernste Alpenwald mit seinen Recken und Kampfesbrüdern im krausen Legföhrengebüsch. – Taufrisch glänzt’s im Morgensonnenschein von der Alpenmatte; langsam haben sich die Pflänzchen den Schlaf aus ihren Blütenaugen gerieben. Gelb und blau und weiss, dann und wann auch rot schon leuchtet’s zu dieser Jahreszeit aus allen Ecken. Sollen wir sie aufzählen nach Arten und mit deutschen und lateinischen Namen, die alle nur unser Gehirn belasten, das Herz aber kalt lassen? Wie ganz anders, wenn uns der Exkursionsleiter vom Leben und Treiben der Alpenpflänzchen erzählt, ja sogar von einzelnen, deren geheimste und intimste Lebensgeschichte enthüllt, die da zeigt, dass jede Alpenpflanzenart im Vereine mit andern einen besondern Haushalt führt. Ja, ja, der Individualismus dieser Pflänzchen; nicht von Schablone, Erziehung und Drill. Wohl leben und arbeiten sie alle für den grossen Pflanzen- und Naturstaat, aber so, dass jedes einzelne für sich den Vollteil für’s irdische Leben abgewinnt. Nicht rein egoistisch-materialistisch, wie der wunderbare Herr der Schöpfung – homo sapiens der Jetztzeit genannt, nicht rein altruistisch, d. h. für andere und den Staat verblutend – aber beides zusammen. O schöne, goldene Mitte! Wann, wann leuchtet sie einstens auch der Menschheit?
Doch höher hinauf! Das war ja nur die Alp der Viehweiden. Wie gescheit sind sie doch, die Blumen, dass sie ihre Blüten entfalten, bevor der rauhe Zahn des Alpenkühleins sie knickt.
Jetzt wird’s holperig. Denn an den steilen Südwänden des Alvier arbeitet jahraus jahrein schon viel tausend Jahre lang der grosse Werkmeister Verwitterung. Der nagt an Felsen und Wänden, und was nicht niet- und nagelfest ist, wird abgestossen wie von unsichtbarer Hand und poltert zu Tal, und die Lawinen bilden da und dort den flotten Schlitten zum Transport.
Geröllhalde! Schutthalde! Grosse Sturzblöcke bis zur Weidealp hinunter, dazwischen Alpenrosen und viel hundert Farbenaugen anderer Pflanzen, die sich ihr Leben zu sichern wussten gegen Tritt und Zahn des Alpenviehs. Aber die Alpenrose bildet nicht den sonst feurigen Kranz als Halsgeschmeide um die Felskolosse. War nicht der Mensch da, der aus demselben die schönsten Edelsteine herausgerissen – roh – vandalisch!
Und nun die Bewohner der Geröllhalde! Nicht das fröhliche Murmeltier, das sonst in diesem Revier ganz sicher heimisch ist, aber die sonderbarsten Pflänzlinge mit ihren seilartigen Wurzeln, so lang wie Schiffstaue, deren Ende tief, tief im Boden versteckt ist. Mag das rauhe Geröll darauf drücken, wie es will, mag es im Rutschen da und dort Blätter und Blüten vernichten, immer wieder schlüpft das Leben heraus, frisches, tatenfrohes Leben. Das kämpft mit dem Tode und kriegt ihn ‘runter. – Menschlein, Menschlein, wie viele Deiner Sorte meinen, das Lebenstau zerschneiden zu müssen, wenn des Schicksals Sturzblöcke auf schön geschmiedete Tatenpläne herunterpoltern und diesen und jenen erbarmungslos zertrümmern!
Es gibt Wege, die keine Wege sind; auch wenn der Siegfried-Atlas sie noch so breit und schön eingezeichnet hat. Alvierweg – Südseite: Seil her! Pickel ‘raus! Tanzschühlein in den Rucksack! Wozu hat der Mensch vier Extremitäten? Also ‘nauf!
Da sind sie schon, die machtgebietenden, schroffen Wände der Gauschla zur Rechten! Welch Runengewirr in ihrem Antlitz! Ja, ja, der Zahn der Zeit! Plagt er nicht auch etwa Dich, den Himmelsstürmer!
Aber sieh Dir die Runen an, die Spalten, Ritzen und Schmisse im Gestein! Tot! Nein! Viel Leben, schönes, herrliches Leben! Aber klein, oft winzig klein. Und welche Farben auf den Blütenkissen, die da drauf und drin sitzen im Felsen! Pack’s nur an, wenn Dein Fuss zittert! Das ist sicherer Griff! Du fürchtest, es könnte reissen. Bewahre! Alles haftet an einer einzigen Wurzel; tief, tief verborgen in den feuchten Schründen des harten Felsens, und zwanzig Pferde bringen sie nicht unversehrt heraus. Und das Polster? Wie schmiegen sie sich da zusammen alle die Kleinen, hart aneinander. Frost und Hitze sollen nur kommen, wir behalten Wärme und Wasser hübsch beisammen. Kriegsvorrat in Hülle und Fülle! Und gegen Feinde stehen Tausende wie ein Mann. Das haben wir gelernt: «Eintracht macht stark» Unsere Devise: «Einer für Alle, Alle für Einen!» Schweizer, warum schaust Du auf zu Deinen Bergen und hörst nicht, was Dich das kleinste Pflänzchen lehrt da droben? Und sieh, wie sie leuchten, die Blütenaugen, alle friedlich nebeneinander! Da ist nicht Neid und Missgunst; jedes Blümchen freut sich mit dem andern, dass ihm der Herrgott auch ein schön’ Gewändlein gegeben hat. Und der Mensch, die Gesellschaft, die Nationen und Staaten Europas im 20. Jahrhundert: «Geht heim und schämt Euch Alle vor uns Kleinen!» Wir da oben wissen: Ein Pflänzlein allein ist verloren, im Zusammenhalt liegt unsere Kraft und Existenz.
Wir sind durch das «grossartige», in aller Welt bekannte Alvier-Kamin hinauf «geschlotet». Jetzt erst auf kurzgrasigem Rasen leuchtet’s auf von Tausenden kleiner Pioniere. Das ist Alpenfrühling; Hochzeitstage Mutter Floras in den Bergen! Sage mir, wo findest Du Schöneres, Reineres im Tale drunten? Wahrhaftig, «ein Gruss Gottes!» «Und stark und kühn und mutig sind wir alle!» So rufen sie laut die Kleinen. «Lass stürmen und rauschen die Alpenwinde, lass brennen die Sonne auf’s harte Gestein, lass Frost und Wetter drohen, wir sind gewappnet, wir ducken uns zu Boden und schützen unsere Leiber vor den Feinden im Pelz und Mantel und hüten sorglich unsere mühsam erworbenen Schätze an Nahrung und Getränken, dass nicht der Tausendstel eines Milligrammes vergeudet werde. Und unter Schneelasten des Winters träumen wir von kommenden frohen Lebenstaten!» «Du kleinmütiger und doch wieder so hochnasiger, hochmütiger, eitler, eingebildeter Mensch Du! Alle Weisheit willst Du gepachtet haben, willst mehr wissen als den schönen Schöpfungsplan, den viele unter Dir sogar bemängeln, bekritteln, verbessern und gescheiter machen wollten. Und Du bist der erste, der die Flinte ins Korn wirft, wenn’s wettert am Menschenhimmel und wenn in Deine feinen, schönen Pläne der Blitzstrahl fährt. Ja, komm’ nur mehr zu uns; wir wollen Dir sagen, was Kampfesfrohmut, Durchhalten und Lebensfreude selbst im grössten Sturme heisst!»
Mit der Zeit sind auch die frostigsten S.A.C.-ler Seelen warm geworden am Herzen der Mutter Alpenflora. Und unvermutet bald standen sie alle droben auf dem Gipfel. Weit der Himmel, weiter, grosser Blick ins All, in die grosse Schöpfung! Und fernes, stilles Leuchten! Wer soll da noch predigen, wo die ganze Natur ein grosser Hymnus auf die Schöpfung ist? Und doch konnte es unser Cicerone nicht lassen, seinem Herzen Luft zu machen. Denn Philosophieren ist nun einmal seine Lust, notabene nicht Philosophie aus gelehrten Systemen, sondern Philosophie, geschöpft aus eigenster Erfahrung und Erkenntnis. Uns klang’s so durch, als hätte er eine geheime Wut auf die Krone der Schöpfung, und die Wut musste er entladen wie ein furchtbares Gewitter. Und doch wusste er noch nichts von dem, was drohend am Völkerhimmel heraufgezogen kam. Und siehe da! Auch die Natur gab ihm volles Recht. Denn tief unten vom Rheintal, vom Walensee herauf, von den Churfirsten und dem Säntis her brodelt’s auf wie aus grausem Hexenkessel und die Nebel fegen förmlich um die Felsenkanten. Mit straffem Finger weist der Tourenleiter nach der Gegend des Buchserberges. «Dort sucht Schutz vor des Himmels Zorn!»
Doch, wer wollte sich dem Frühling der Alpenhöh’n entziehen? Denn Ost- und Nordseite des Berges stecken noch im jüngsten Flor der Soldanellen, Aurikeln, brennend roten Primeln und leuchtend blauen Enzianen. Zweibeinige «Gletscherflöhe» klettern darüber auf die langgezogenen, blendend weissen Schneehalden, und im Saus fährt’s zu Tal.
Aber was wir alles noch gesehen auf dem Obersäss der Alp Matschuel! Dieser Alpenrosenhimmel! Wahrhaftig: Hier geboren werden, hier leben, hier sterben, aber nicht allein. Und hätten wir auf der ganzen Bergesfahrt nur das gesehen und gekostet – es reichte aus, zu sagen: «Es ist eine Lust zu leben.» Und wenn Dir das Schicksal wieder einmal eins zwickt!
Hie Alpenrosenfeuerglanz von Matschuel! – und alle Wogen ebnen sich und der Herzenssturm schweigt, wie jetzo der Berichterstatter. (E. B.)
(Quelle: Alpina 1915)