Wer Ragaz oder vielmehr die grosse Badanstalt neben dem Flecken Ragaz seit einigen Jahren nicht gesehen hat, der kennt es nicht wieder, wenn er jetzt dahin kommt, und wenn man bedenkt, dass Ragaz als Bad erst dreissig Jahre alt ist, so haben wir da einen riesigen Fortschritt. …
Die Einrichtungen des Bades blieben aber noch lange sehr primitiv, obgleich die Heilkraft des Wassers in Ruf gekommen und in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhundert ein kleines Kurhaus gebaut war, das mitten über der Tamina auf Balken ruhte, welche zu beiden Seiten in die Felswände eingelegt waren. Wie die Kur noch im 15. Jahrhundert beschaffen war, erzählt der gelehrte Felix Hemmerlin (Malleolus) aus Zürich in seinem 1451 erschienenen Traktat von warmen Bädern. Man pflege sechs oder sieben Tage im Bade sitzen zu bleiben, darin zu essen und zu schlafen, eine einzige Nacht dazwischen ausgenommen, wo ausserhalb einmal der völligen Ruhe gepflegt werde, und einer solchen intensiven Kur unterwerfe man sich, weil das Hinaufsteigen aus der Schlucht und das Hinabsteigen wegen des steilen Weges und der hängenden Leitern so schauderhaft und gefährlich sei. Ein Wirthschaftsgebäude scheint damals in der Kluft noch nicht gewesen zu sein; aber auch später, als ein solches eingerichtet war, wurden die Badegäste in einem Sessel an Stricken herabgelassen und kamen durch eine Oeffnung des Hausdaches in das Haus. Wer zum Schwindel geneigt war, liess sich die Augen für die Fahrt in die Unterwelt verbinden. In regnerischen Sommern war eine dortige Badekur besonders grausig und schaurig. …
((1543)) schilderte Sebastian Münster in der „Cosmographey“ die Badeeinrichtung von Pfäfers: „Ich wollt dir gern dis Bad mit einer Figur vor Augen stellen, wann es müglich were. Es ist so gar zwischen den grawsamen hohen Felsen beschlossen, dass man sein Gelegenheit nicht anzeigen kann. Es ist ein treffliche weite Spelunk, von zweyen hohen Felsen erwachsen, under welchen der ein ganz gebogen ist, wie ein Gewölb, und neigt sich gegen dem andern, und lassen oben in der Höhe gegen Mittag ein Oeffnung, dass die Sonn Sommerszeiten zu Mittag ein Stund ungefährlich darein scheinen mag, aber dennoch ganz dunkel da unden ist, dass man auch um den Mittag eines Lichts in den engen Gemachen bedarf. Dann es stehn unden gleich über dem fliessenden Gletscherwasser drey oder vier Häuslein, darinnen man kocht und kleine Stüblin hat. Am andern Felsen, der schlecht über sich geht, sind grosse und tiefe Löcher gehawn, starke Hölzer darein gelegt und zu einer Brücken geordnet, die haldet oben herab, dass man jetzundt mit Pferden hinabkommen mag bis zum Badt. Dis Wasser ist ziemlich warm, aber nicht heiss, dringt herfür durch ein Spalt des Felsens und ist Sommerszeit ein Fluss so stark, dass es Wasser genug hett für 2000 badender Menschen, wann sein Quell auf einer Weite were. Nun aber ist der Kasten (auch in Felsen gehawen) so eng, dass nicht viel über 100 Menschen darin sitzen mögen, die sich dannoch ganz eng und nah zusammen schmücken müssen, und sitzen da in der Dunkelheit, wie die Seelen in St. Patricii Fegfeuer. Ehe die Bruck oder Steg ist gemacht worden, sind viel Menschen Schwindels halb wider ungebadet hinweg gezogen, da sie gesehen haben die gähe Tiefe, so man hinab hat müssen steigen zum Bad.“
Aus der weiteren Geschichte des Bades Pfäfers hebe ich nur die Hauptmomente ganz kurz hervor. Die von Münster erwähnten Häuslein, welche als Herbergen und Wirthschaftsräume dienten, waren, wie die Badeeinrichtungen, besonders in der rauhen Jahreszeit, stets dem Verderben ausgesetzt. Bald drohte die wilde Tamina, welche mächtige Steine rollte und wo sie ein Ufer fassen konnte, ihre Kraft an ihm versuchte; im Jahre 1624 war eins der kleinen Gasthäuser von einem herabstürzenden Felsblock in den Abgrund geworfen worden; fünf Jahre später war das zweite mitten im Winter durch einen Brand verzehrt. Es hatten sich damals mehrere Personen, um der Ansteckung von der herrschenden s.g. Pest zu entgehen, in dieses gefährliche Winterquartier geflüchtet und da war durch Unvorsichtigkeit der Brand entstanden. Der lange gehegte Plan, die Quelle aus der Schlucht herauszuleiten, wurde 1630 ausgeführt vom Prälaten Jodocus Höslin, welcher auch da, wo noch jetzt das Kurgebäude steht, ein grosses Gebäude mit zwei Abtheilungen, jede von 50 Zimmern und 70 Betten, ausführen liess. Das Badgewölbe wurde in mehrere gemeinsame Bäder abgetheilt. Dies war der Anfang zu weitern Fortschritten im Anfang des 18. Jahrhunderts und in der Folgezeit. Einen neuen Aufschwung nahm das Ganze von 1819 an; es geschah das Mögliche, um bei der beschränkten Räumlichkeit den von Jahr zu Jahr sich mehrenden Kurgästen Aufnahme zu verschaffen. Aber erst durch einen grossartigen Plan gelang es, die unüberwindlich geschienene Schwierigkeit der räumlichen Enge zu beseitigen.
Im Jahre 1838 traf das Schicksal mancher Klöster in der Schweiz auch die Abtei Pfäfers. Sie wurde sekularisirt und damit kam auch die Heilquelle Pfäfers an den Staat St. Gallen. In unserem Jahrhundert der Erfindungen für Friedenswerke und Kriegszwecke kann es nicht Wunder nehmen, dass man nun daran dachte, die Heilquelle von Pfäfers auch insofern zu sekularisiren, dass man sie aus der klösterlichen Eingrenzung befreite und in grösserem Massstabe als es bisher möglich gewesen war, nutzbar machte. Die Ausführung des Gedankens ist aber doch gross zu nennen. Es wurde beschlossen, das Thermalwasser in hölzernen Röhren längs der Tamina bis zu dem dreiviertel Stunden entfernten Dorf Ragaz zu leiten, wo einer Badekur Luft und Licht nicht fehlen würde, zugleich aber zur Linken des Bergstroms eine Kunststrasse von Pfäfers bis Ragaz zu bauen. Man berechnete, dass das Thermalwasser auf diesem Röhrenwege nur etwa 2 Grad R. an Wärme verlieren, also noch mit 27-28 Grad in Ragaz anlangen werde. Das Statthaltereigebäude in Hof Ragaz wurde zur neuen Badeanstalt und zum Gasthaus ausersehen. Zugleich musste man jetzt und in den nächsten Jahren der Fassung und Beherrschung der Quellen bei ihrem Ursprunge eine besondere Pflege widmen. Schon am 30. Mai 1840 konnte die Feier des ausgeführten Unternehmens statt finden. …
Ragaz wurde rasch ein berühmter Kurort, auch schon als man noch nicht auf der Eisenbahn dahin kommen konnte und es wäre ohne Eisenbahn berühmt geworden. Eine Fahrt, etwa von Zürich her, war damals umständlicher als jetzt, aber bei günstiger Witterung weit genussreicher. …
Ragaz würde nur eine nicht eben bedeutende Zwischenstation auf der nach Chur führenden Bahn sein, wenn nicht die Bäder im Hintergrunde ein so grosse Anziehungskraft hätten. Jetzt stehen Omnibus von Gasthöfen in der Reihe, als ob eine bedeutende Stadt in der Nähe wäre. Ich wähle das elegante Gefährte des „Quellenhofs“, denn es liegt mir daran, Ragaz auf seiner höchsten Entwicklungsstufe kennen zu lernen.
Ich hatte Ragaz seit zehn Jahren nicht gesehen. Damals war mir „Hof Ragaz“ als ein Hotel ersten Ranges erschienen, jetzt kam es mir nur vor als eine ältere Zubehör zu dem grossen Prachtbau des „Quellenhofs“ mit seinen neuen Nebenbauten in den schönen Gartenanlagen. Die Umwandlung des Ganzen hat erst in den letzten zwei Jahren stattgefunden und ist so grossartig, dass man sie amerikanisch nennen kann. Der Direktor Simon, der jetzige Eigenthümer, ist auch ein Mann von amerikanischem Unternehmungsgeist und verbindet damit den Geschmack eines Künstlers. Er ist Architekt, hat früher in Petersburg palastartige Bauten ausgeführt, dann in St. Gallen zum neuen Bahnhofsquartier den Impuls gegeben und ist auch besonders für den Neubau von Glarus thätig gewesen. …
Wenn Ragaz schon bisher ein Kurort von europäischer Berühmtheit genannt werden konnte, so ist durch die neuen Einrichtungen dafür gesorgt, dass fortan noch mehr europäische Menschheit hier ausruhen und neue Lebenskraft sich holen kann und wann ist wohl das Bedürfnis dazu grösser gewesen als eben jetzt?
… Die hölzernen Röhren am linken Bord der Tamina entlang sind jetzt durch eiserne ersetzt und wie diese an sich solider sind, so befinden sie sich auch nicht mehr auf der Oberfläche des Bordes, sondern sind eingelegt und dadurch den Einflüssen der Witterung und dem Verderben nicht ausgesetzt. …
Quellenhof und Hof-Ragaz haben zusammen 80 Bäder in grösseren und kleineren, mit mehr oder weniger Eleganz ausgestatteten Räumen. Ich konnte mir ein grösseres Kabinet auswählen und unwillkührlich kam mir die Vergleichung der hiesigen Einrichtungen mit dem Badeapparat in den kellerartigen dumpfen Spelunken in Baden im Aargau, wo man sich freut, wenn man seine Zeit abgesessen hat. Wie das Murmeln einer Quelle unterhält im Quellenhof das fortwährend in gleichem Masse abfliessende und zuströmende reine und klare Thermalwasser und die baulichen Einrichtungen sind der Art, dass auch die Luft oberhalb rein bleibt und nicht ein feuchter Niederschlag belästigt. Für Douchen ist natürlich vielfach gesorgt und ingeniös sind die Apparate, um einzelnen Theilen des Körpers, z.B. einem gelähmten Arm ein durch starke Strömung potenzirtes Spezialbad zuzuwenden. Eine vorzügliche Zugabe zu den sonstigen Badeeinrichtungen ist das neue Schwimmbad. Neben der Badehalle unter dem Dach eines besonderen Gebäudes ist ein 80 Fuss langes und 30 Fuss breites Bassin, in welches von dem reichlichen Thermalwasser fortwährend eine genügende Quantität zuströmt. Die Temperatur des Wassers in dem Bassin ist regelmässig 22-23 Grad R. Den beiden Geschlechtern sind in diesem Schwimmbade bestimmte Tagesstunden für ihre Schwimm-Turniere zugetheilt.
Dass in wirthschaftlicher Beziehung der Quellenhof ein Hotel ersten Ranges ist, brauche ich kaum zu erwähnen. Es sollen dort 300 und in dem damit verbundenen Hof Ragaz 200 Personen Quartier finden können. Der gemeinsame Speisesaal für beide Hotels ist im Quellenhof und von genügender Grösse, da sich die Gäste auf die Tables d’hote um 1 Uhr und um 5 Uhr vertheilen und am Abend à la carte gespeist wird. … Dreimal am Tage spielte die treffliche Kurkapelle in dem Musikpavillon in den Anlagen oder in dem bedachten Gange bei der Badhalle oder in dem untern Saal des für sich stehenden Restaurationsgebäudes, welches Lesezimmer, Billard, Rauchzimmer etc. enthält. …
… Auf dem seit 1839 zu einer Fahrstrasse gebahnten Wege von Ragaz bis zu dem über 500 Fuss höher liegenden Bade Pfäfers ist vieles anzustaunen. … bis man unmittelbar vor den sich zusammenschliessenden Felswänden der Hauptschlucht den Gebäudecomplex des Bades erblickt. Um die Mittagszeit bei heiterem Himmel, der doch auch hierher seinen Segen spendet, und in der Vorahnung der Finsternis des dahinter liegenden, oft dem Orkus verglichenen Schlundes, gewährt das Hauptgebäude einen freundlichen Anblick, gewöhnlich dominirt aber der Ernst, zumal wenn man auf die Kranken und Bresthaften blickt, welche auf den Bänken daneben etwas frische Luft schöpfen oder auf engem Raum mühsam den Versuch einer Bewegung wagen. Pfäfers ist kein Modebad, sondern ein Heilbad im ernsten Sinn. Wenn man eintritt, fühlt man sich von Klostermauern umfangen und der freundliche Wirthschafts-Direktor erscheint wie ein milder Prior eines Hospizes im rauhen Gebirge, aber man wird nicht von Laienbrüdern bedient, sondern von blühenden Mädchen, welche kein anderes Gelübde gethan haben als tugendhaft zu sein, ohne der Welt zu entsagen.
Die Badesaison geht in Pfäfers früher als in Ragaz zu Ende, nämlich schon im September. Wie düster und feucht es dann in den Wintermonaten dort sein mag, kann man daraus abnehmen, dass sämmtliche von den Badegästen benutzte Betten, um sie vor dem Verderben durch Feuchtigkeit zu sichern, früher in das Kloster Pfäfers und seit dieses als Irrenanstalt benutzt ist, in das Pfarrhaus von Valens gebracht wurden. Jetzt transportirt man sie wahrscheinlich nach Ragaz.
Die wirthschaftlichen Einrichtungen sind in Pfäfers in ganz anderer Weise grossartig als in Ragaz. … Nach Pfäfers geht niemand, um üppig zu leben und sich in der sogenannten feinsten Gesellschaft zu bewegen. Die Gesellschaft hat hier ihre Rangordnung, welche sich kundgiebt in der Verschiedenheit der zu benutzenden Bäder, wie in den Abstufungen der Quartiere und der Mittagstafeln. Pfäfers hat in einer Region der Gebäude noch den Charakter eines klösterlichen Armenbades behalten, denn die Gemeinden des Kantons St. Gallen können arme Kranke hier unterbringen gegen eine Zahlung von 20 Franken für eine dreiwöchentliche Kur, die Beköstigung einbegriffen. Auch anderen unbemittelten Kranken ist es möglich, hier für eine sehr mässige Ausgabe, wenn auch nicht für eine solche Minimalsumme, eine gründliche Kur zu machen. In der obern Region dagegen, wo eine sehr gute Table d’hote den durch das Baden geschärften Appetit einladet, sind nicht wenige Fremde, welche lediglich den Bädern von Pfäfers denen von Ragaz den Vorzug geben, weil sie jene als unmittelbar an der Quelle befindlich für wirksamer halten, nicht aber aus ökonomischer Berechnung. … Anders als in Ragaz bestand die Badegesellschaft in Pfäfers grossentheils aus Schweizern und das ist wohl die Regel. Eine andere, damit aber doch etwas zusammenhängende Verschiedenheit liegt darin, dass in Pfäfers die Gesellschafter sich schnell mit einander einleben und das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit haben, was in Ragaz entweder gar nicht der Fall ist oder doch nur annähernd in einzelnen Kreisen des grossen Ganzen. Kommt in Pfäfers ein neuer Gast heran, so wird er an der ersten Mittagstafel gemustert; die schon installirten Kurgäste wünschen zu wissen, wer und woher er sei, und dieses erste aus Wissbegierde entsprungene Interesse gestaltet sich, wenn der Neuangekommene nicht unsocial ist, bald zu einem wohlwollenden gegenseitigen Interesse. Ragaz und Pfäfers unterscheiden sich in ähnlicher Weise von einander wie eine grosse und kleine Stadt. …
(Quelle: Wanderstudien aus der Schweiz. Eduard Osenbrüggen, 1867-1881)