Scheienfluh und Sulzfluh

Als ich im Sommer 1890 die Partnunerberge besuchte, hatte ich im Sinn, dieselben planmässig und vollständig zu begehen. Der erste Tag war für eine Wanderung über ein reines Schiefergebirge – Schiers, Stelserberg, Kreuz, Aschüel, Kühnihorn, Schafberg, Garschinafurke, Partnun – bestimmt, der zweite Tag für eine Gratwanderung, gewürzt mit einigen Klettereien über den rein krystallinischen, vielzackigen Kamm vom St. Antönierjoch bis zum Aeusseren Gweilkopf, in Aussicht genommen, den dritten Tag gedachte ich den wilden und imposanten Kalkformen der Scheienfluh und der Sulzfluh und endlich den vierten Tag dem Madrishorn und seinen Trabanten, die in geologischer Beziehung Schiefer-, Kalk- und Urgebirge in sich vereinigen, zu widmen. Die zwei ersten Tage verliefen bei schönem Wetter auch ganz programmgemäss, die zwei andern aber fielen des strömenden Regens wegen buchstäblich ins Wasser. Da es zugleich meine letzten Ferientage waren, so musste der Rest des Programms aufs nächste Jahr verschoben werden. Dieser Rest ist nun, trotz manchen durch das Wetter bewirkten Hindernissen, zum grossen Theil nachgeholt worden. …

Scheienfluh
Am 19. September 1891 hatte ich mich, erst Nachmittags von Schiers aufbrechend, über den Stelserberg, den Fajunkawald, Aschtiel und St. Antönien nach Partnun begeben. Etwas nach mir traf auch Herr Pahl aus Schiers, Mitglied unserer Section des S.A.C., mit einem Begleiter, von Küblis kommend, in der von Herrn Pleisch trefflich geführten Pension Sulzfluh ein. Es war mir sehr angenehm, dass diese beiden Herren ihre noch etwas unbestimmten Pläne zu Gunsten des meinigen aufgaben, denn nun brauchte ich mein Vorhaben nicht allein auszuführen. Am folgenden Morgen brachen wir um 4 Uhr gegen Plassecken auf. Hier interessirten uns besonders die grossen, trichterförmigen Löcher, in welchen die Bäche der dortigen Gegend verschwinden, um dann unter dem Graustein durch ewig verborgene Wege zu wandeln. Es ist das auch eine jener merkwürdigen Erscheinungen, an denen unser Gebiet so reich ist und die der Geologie und physikalischen Geographie desselben erhöhtes Interesse geben. …
Vom obersten Trichter stiegen wir nordwestlich über steile Grashalden zwischen herabziehenden Felsrippen direct auf die Mittelfluh (2342 m) hinauf, dann über den Kamm des Berges mit einigen Gegensteigungen bald über kahle Felsplatten, bald über mit Schutt untermischten Grasboden zum Schafläger (2487 m) und über Punkt 2543 m zum südlichen Gipfel der Scheienfluh (2628 m), wo wir um 6 Uhr 20 Min. ankamen und bis 7 Uhr verweilten. Auf dem Wege hieher waren uns einige mächtige Spalten aufgefallen, in der Gestalt nicht unähnlich gewaltigen Gletscherschründen. Die Aehnlichkeit wurde noch erhöht durch die Beschaffenheit der Felsen, die bald weissschimmernden, bald schmutzig angelaufenen, zerschründeten und an der Oberfläche unregelmässig wellenförmig gestalteten Gletschern vielfach täuschend ähnlich sahen. Die grössten Felsspalten durchzogen den Berg in geraden und krummen Linien der Länge nach von Norden nach Süden, kleinere trafen in allen Richtungen auf die Hauptspalten. An mehreren Orten sah es aus, als wäre der Berg bis tief in sein Inneres förmlich zerspalten und als wären dicke tafelförmige Platten in der Ablösung begriffen, um später westlich gegen den Partnunersee in die Tiefe zu stürzen. Auch konnten wir von oben herab an den senkrechten Wänden deutlich solche durch Klüfte vom übrigen Berg getrennte Tafeln erkennen, die aussahen wie sich ablösende Rindenstücke. Der Scheienzahn ist wohl ein solches durch die Verwitterung stark zerstörtes und gar eigenthümlich geformtes Rindenstück. An andern Stellen sieht man die verhältnissmässig frischen Abbruch- und Ablösungsflächen, während die zugehörigen Rindenstücke schon in die Tiefe gestützt sind und in Blöcke zerbrochen auf der grossen Schutthalde liegen. Der Blick über die gewaltigen Westwände hinunter in das Reich der Zerstörung ist grandios und schauerlich, fesselnd und doch wieder abschreckend.
Der Uebergang zur nördlichen und höchsten Spitze (2630 m) machte uns ordentliche Schwierigkeiten. Auf dem Grat selber war er nicht möglich wegen einem tiefen, senkrechten Einschnitt zwischen den beiden Spitzen. Wir hätten nun etwas südöstlich absteigen und dann rechts unter den obersten Felsabsätzen durchgehen sollen, um schliesslich wieder nordwestlich anzusteigen, dann hätten wir gar keine Schwierigkeiten gehabt und wären rascher vorwärts gekommen. Aber wir waren mit Suchen zu weit nordöstlich hinunter gerathen und stiegen nun nicht gern wieder auf, um in einer andern Richtung abzusteigen. Wir erzwangen darum den Abstieg in der einmal eingeschlagenen Richtung, mussten darum aber einige schwierige Passagen machen, namentlich zwei enge Felskamine hinunterklettern und auf schmalem Band uns um eine vorspringende Bergkante herumschwingen. An einigen Stellen waren unsere Arme und Beine fast nicht lang genug, um die betreffenden Kletterkünste auszuführen, der Abstand zwischen gutem Griff und sicherm Tritt mehr als einmal fast zu gross, und es war gut, dass wir zu Dreien waren und uns gegenseitig helfen konnten. Einmal etwa beim u des Namens Scheienfluh in der Karte angekommen, hatten wir alle Schwierigkeiten überwunden und konnten auf deutlich vorgezeichneter Bahn über Schutt und Fels zur höchsten Spitze aufsteigen, die wir um 7 Uhr 40 Min. erreichten.
Die Aussicht ist nicht sehr umfassend, man sieht zwar wohl noch die höchsten Spitzen der Silvrettagruppe und der Albulakette, erhält aber doch keinen Ueberblick über diese zwei Gebirgsmassen, und es fehlen im Bild wichtige Punkte, wie z.B. der Piz Buin und der Piz Kesch, die durch die Litzner- und die Madrisagruppe verdeckt werden. Eigenartig ist aber die nächste Umgebung, und es herrscht hier das Grossartig-Schauerliche, das Wild-Erhabene entschieden vor, besonders beim Blick auf die Sulzfluh und auf die Scheienfluh selber, sowie auf den zwischenliegenden Grubenpass. Doch mischen sich in das vorwiegend düstere Bild auch einzelne freundliche Züge, besonders vertreten durch den Partnuner- und den Tilisunasee, das grüne Thal von St. Antönien und die sanften Formen der Vorberge des Rhätikon.
Da wir keinen Steinmann vorfanden, so errichteten wir selber einen und übergaben ihm einen Zettel mit unsern Namen. Dann traten wir um 8 Uhr 30 Min. den Abstieg gegen Tilisuna an, und zwar genau auf dem Grenzkamm bis zum Grubenpass (2235 m) und von da nach dem Fürkli bei 2222 m. Dieser Abstieg bot keine nennenswerthen Schwierigkeiten, erforderte aber an einigen Stellen der stark ausgebildeten Schratten wegen behutsames und langsames Gehen. Um 9 Uhr 50 Min. waren wir in der Tilisunahütte, wo wir zu unserer Freude und Verwunderung den von Herrn O. v. Pfister im letzten Jahrbuch des S.A.C. todt-gesagten Papa Marent antrafen. Er ist weit über 70 Jahre alt, geht aber doch noch jedes Jahr mehrmals und ohne sichtbare Anstrengung auf die Sulzfluh, oder macht seinem Nachbar Pleisch in Partnun, der auch kein heuriges Häslein mehr ist, einen Besuch, unterhält einen Theil des Weges dorthin und holt weit unten im Gampadelzthal das für die Hütte nöthige Holz herauf. Gewiss Proben von grosser Rüstigkeit für einen hohen Siebenziger. Wir haben uns gut unterhalten mit ihm und bei Gesang und Guitarrenspiel einige fröhliche Augenblicke hier zugebracht.

Sulzfluh
Um 11 Uhr 20 Min. nahmen wir wieder Abschied von der gastlichen Hütte und ihrem gemüthlichen Alten und schritten der Sulzfluh zu. Der Aufstieg ist hier sehr leicht und führt ungefähr längs der Landesgrenze über ein meistens ziemlich sanft ansteigendes Felsplateau, das nur da und dort von einigem Schutt bedeckt oder von mehr oder weniger ausgebildeten Schratten durchfurcht ist. In grössern Vertiefungen und Gräben finden sich immer, auch im Hochsommer, die Reste von zusammengewehtem Schnee. Der ganze Weg ist sehr aussichtsreich und bietet auch dem Naturforscher manche interessante Erscheinung, wie Rundhöcker, Gletscherschliffe, Schratten, hie und da eine undeutliche Versteinerung, einige genügsame kalkliebende Pflanzen. Doch ist die Flora äusserst spärlich vertreten; wir befinden uns in einer ausgesprochenen Berg- und Felswüste, die sich vom Plasseckenpass bis zur Todtalp der Scesaplana ausdehnt. Gerade dieser wüstenartige Charakter mit seiner lautlosen Stille und mit den Bildern des Todes und der Zerstörung, diese nackten und starren Felsenmassen verleihen diesen Gebirgen einen eigenartigen Reiz, etwas Grosses und Imposantes. Nach Ueberschreitung des weiten Felsplateaus tritt man gerne für eine kleine Weile auf das Gletscherchen, das Einen, fast immer mit tragendem Schnee bedeckt, leicht zur obersten, wiederum kahlen und arg verwitterten Spitze bringt. In wenigen Minuten ist auch diese erstiegen. Um 1 Uhr 10 Min. standen wir beim Steinmann und hatten also von der Tilisunahütte an eine Stunde und 50 Minuten gebraucht.
Es war ein prächtiger Tag, sonnig und warm, der Himmel ungetrübt blau und der Horizont rein, darum auch die Aussicht vollkommen und uneingeschränkt. Vom Bodensee und den Appenzeller Bergen bis zur Berninagruppe und vom Bündner Oberland bis zur Oezthalergruppe lag das schöne Alpenland vor uns ausgebreitet da. Eine Gruppe löst die andere ab, eine Kette folgt der andern in unendlicher Mannigfaltigkeit. Die Albulakette vom Flüelapass bis zum Splügen, die Silvretta- und die Berninagruppe erscheinen in ihrer vollen Majestät und Schönheit mit allen ihren Hauptgipfeln, nicht mehr nur verkümmert und stückweise wie noch auf der Scheienfluh. Auch die Tödikette präsentirt sich gut, besser als von der Scesaplana, aber doch nicht so gut, wie etwa vom Hochwang. Nach Norden und Nordosten reicht der Blick über die Vorarlberger Höhen und die Fervalgruppe bis zu den Algäuer und Bayerischen Alpen mit der Mädelegabel, der Zugspitze u.a. An Thälern aber sieht man ausser dem Gauer- und St. Antönierthal nicht viel, kleine Stücke nur des Prätigaus, des Rheinthals und des Silberthals mit dem dörfer- und häuserbesäeten Bartholomäusberg. Merkwürdig ist die schöne, regelmässige, halbkreisförmige Moräne, welche die mächtige Ganda am Südfuss der Sulzfluh begrenzt und von der einstigen Existenz eines gewaltigen Gletschers erzählt. Sie ist auf der Excursionskarte deutlich eingezeichnet und erreicht ihr Südende bei 2052 m Höhe. Eines der anziehendsten Details des weiten Gebirgskranzes ist die Drusenfluh, die wie eine kahle Felseninsel aus dem grünen Meer der sanftwelligen Formen der südlichen und nördlichen Vorberge hoch aufragt.
Nach einer genussvollen Stunde verliessen wir den schönen Punkt um 2 Uhr 10 Min. und rannten in förmlichem Wettlauf durch das schutterfüllte Gemstobel hinunter zum Partnunersee und zur Pension Sulzfluh, die wir schon um 3 Uhr 20 Min., also 70 Minuten nach dem Verlassen der Spitze, erreichten. Hier hatten wir noch Zeit zu einem Plauderstündchen mit Vater Pleisch und zu einer wohlverdienten Restauration. Dann ging’s wieder in Eilmärschen hinaus nach Küblis, das wir in 2 ¼ Stunden erreichten und von wo uns der Abendzug wieder nach Schiers brachte.

(E. Imhof, Section Scesaplana)
(Quelle: SAC Jahrbuch 1891)

***

Als ich am 25. Juli 1897 … zur Sulzfluh hinüberblickte, … erwachte in mir das Verlangen, die Ersteigung derselben über die Nordwestflanke auszuführen. Das Problem einer Begehung der Nordwestflanke der Sulzfluh war nicht neu, … und es wurden in der That mehrere Ersteigungsversuche unternommen, die aber alle resultatlos verliefen. …
Im Frühjahr 1899 schrieb ich Führer Josef Both, ich wolle so bald als möglich den geplanten Sulzfluhaufstieg versuchen, und bat ihn, mich zu benachrichtigen, wenn er glaube, dass die Schneeverhältnisse dem Unternehmen günstig seien. …
Am 14. Juli früh 5 Uhr verliessen Both und ich die obere Sporer Alpe und wanderten in mässigem Tempo zum Drusenthor (7 Uhr). Von da stiegen wir über steile, brüchige Felsen, nicht schwierig, jedoch etwas mühsam, gegen den zu den Wänden der Sulzfluh streichenden Grat hinauf und schritten auf dessen Nordseite, uns immer so hoch als möglich haltend, über Fels, Geröll und steile Schneeflecken zu einem mässig steilen, etwa 20 m hohen, unten engen, oben über 2 m weiten, leichten Kamin mit eingeklemmtem Block. Aus dem Kamin heraus kletterten wir über ein Wandl auf den schmalen Grat, der, bald breiter werdend, horizontal unter die hohe, sehr steile Runse führt, welche den Aufstieg zum Sporer Gletscher ermöglicht (8.25).
Bei unserem Weggang von der Alpe waren die Berge noch frei von Gewölk, und wir glaubten auf einen schönen Tag rechnen zu dürfen; doch je höher wir kamen, desto mehr umzog sich der Himmel, und schon von 7 Uhr an waren wir streckenweise ganz in Nebel gehüllt. Glücklicherweise lichtete sich letzterer jedoch mitunter, so dass wir mehrmals noch die Felsen bis zum Gletscher hinauf überblicken konnten. Nach 8 Uhr aber wurde der Nebel immer dichter und schien uns nicht mehr verlassen zu wollen.
Da wir auch noch Regen befürchteten, brechen wir schon (8.35) wieder auf. Ein an der Felswand zur Rechten hinaufziehender Riss führt uns in die Runse hinein. Hier verbinden wir uns durch das Seil und steigen über steilen Schnee bis unter den riesigen, wasserüberronnenen Block, welcher die Runse sperrt. Rechts von diesem Blocke erhebt sich eine unersteigliche Wand, links ist eine sehr steile, nasse Platte von 5–6 Meter Höhe, die zu einem steilen, kurzen Kamin führt, und weiter links ist wieder Steilwand. Der Überhang des Blockes bildet das Dach einer kleinen Nische, deren Boden aus Schnee besteht. Im Hintergrund der Nische ist Raum genug, dass wir vor dem vom Blocke herabspritzenden Schmelzwasser geschützt stehen und unsere Rucksäcke bergen können. Nun überlegen wir, was weiter zu thun sei. Der Block selbst kann direkt nicht erklettert werden, und die Wand nördlich der Platte sieht auch nicht weniger einladend aus; so werden wir’s also mit der der Platte versuchen müssen.
Dieselbe zeigt sich jedoch bei näherer Besichtigung als völlig griff- und trittlos, und vergeblich suchen wir an ihr nach Rissen, wo sich die mitgebrachten Mauerhaken eintrieben liessen. Aber rechts oben, wo der kurze Kamin ansetzt, befindet sich eine kleine Abseilzacke. Vielleicht gelingt es uns, über diese das Seil zu werfen und an demselben hinaufzuturnen. Wir werfen es abwechselnd wohl zehn- bis fünfzehnmal, wobei der Werfende genötigt ist, aus der Nische herauszutreten und dabei stark durchnässt wird. Immer gleitet das Seil von der Zacke ab. So geht es also auch nicht. Ich stosse nun unsere beiden Pickel bis zur Haue in den Boden der Nische, binde mich vom Seile los und befestige mein Seilende an den Pickeln. Dann bereite ich mir auf dem Schnee unter der Platte einen guten Stand. Jetzt schwingt sich Both, der mittlerweile die Kletterschuhe angezogen hat, auf meine Schultern und lässt sich von mir an der Platte hinaufschieben, bis er schliesslich auf meinen ausgestreckten Armen steht. Doch auch von diesem erhöhten Standpunkte aus will es ihm nicht gelingen, die Zacke zu erreichen. Ein erneuter Versuch, das Seil über dieselbe zu werfen, verläuft eben so resultatlos wie unsere Wurfversuche von der Nische aus, weil, wie sich jetzt erst zeigt, Steine zwischen Zacke und Wand eingeklemmt sind.
Schon erlahmt meine Armkraft, und auch Boths Beine beginnen zu zittern. Langsam und bedächtig lässt er sich deshalb zurückgleiten und ruht auf meinem Kopfe stehend ein wenig aus. Dann drücke ich ihn abermals in die Höhe, und jetzt – ein kleiner, kühner Sprung, er hat die Zacke erfasst und schwingt sich zu einem Tritte auf. Nun entfernt er die eingeteilten Steine an der Zacke und lässt zu seiner grösseren Sicherheit das Seil hinter derselben durchlaufen. Noch 6-7 m hoch muss er ziemlich schwierig und ausgesetzt gerade emporklettern, bis er einen, allerdings nicht besonders guten Stand findet. Dann mache ich mich zum Nachfolgen bereit. Zuerst schnelle ich das Seil von der Zacke ab, binde es mir wieder um den Leib und knüpfe hierauf Rucksäcke und Pickel an unser zweites Seil, welches ich mir ebenfalls umbinde. Mit Unterstützung durch das Seil erreiche ich hierauf die Zacke, und wenige Augenblicke später stehe ich neben Both und ziehe unser Gepäck nach. Ein kurzer Quergang über Schutt führt uns an die rechte (südliche) Wand der Runse, wo sich unmittelbar über dem grossen Block ein guter Rastplatz befindet.
Von hier stiegen wir noch etwa 30-40 m hoch über Fels, Schnee und Geröll, immer noch recht steil, doch weniger schwierig, zuletzt leicht, in der Runse weiter zum Sporer Gletscher, den wir 10.50 betraten. Damit war unser Berg besiegt, und es schien nun, als wolle er die zu unserer Abwehr ins Feld geführten Nebel wieder zurückrufen; es wurde licht unter uns, und freundlich grüssend blickten die grünen Matten des Prätigaus zu uns herauf.
Dafür scharten sich aber die wild jagenden Wolken um den Gipfel, den wir den ganzen Tag nicht mehr zu Gesicht bekommen sollten. Allein was schadete das. War ich doch an einem herrlich schönen Novembertage des Jahres 1897 so glücklich gewesen, die vielgerühmte Aussicht von der Sulzfluh zu geniessen. Gerne verzichtete ich daher diesmal, unter so ungünstigen Verhältnissen, auf die Besteigung ihres höchsten Punktes, umso mehr, als derselbe vom Ausstieg aus der Runse direkt über den kleinen, harmlosen Sporer Gletscher in 15-20 Minuten ohne jede Schwierigkeit zu erreichen ist und wir mit dem Betreten des Gletschers unser Problem ja gelöst hatten.
In frohem Siegesbewusstsein lagerten wir uns auf dem trockenen Felsen bei der Stange, welche den westlichen Eckpfeiler der Sulzfluh ziert. Jetzt, da Gefahr und Schwierigkeiten überwunden waren, machte der knurrende Magen seine Rechte geltend, und mit wahrem Wolfshunger fielen wir über die Schätze unseres Proviantbeutels her, denen wir bis dahin keine Beachtung hatten schenken können.
Leider gönnten uns die lästigen Nebel, die bald von neuem und in immer grösseren Massen dahergeschlichen kamen, auch hier keine längere Rast. Nach kaum halbstündigem Aufenthalte brachen wir wieder auf, um durch den «Rachen» ins Gauerthal zurückzukehren. In schneidiger Abfahrt ging es über die Firnfelder des «Rachens» hinab, was ich ohne solch kundige Führung bei dem herrschenden Nebel wohl nicht hätte wagen dürfen, und in überraschend kurzer Zeit erreichten wir den Porsalenger Wald. Hier trennten wir uns. Ich schickte Both nach der Ob. Sporer Alpe, um einige von mir dort zurückgelassene Sachen zu holen und übernahm seinen Rucksack, um ihm nach des Tages Mühen diesen Gang möglichst zu erleichtern. In der unteren Sporer Alpe wollten wir uns wieder treffen.
Bei dem «zum Greifen» dichten Nebel steuerte ich aber zu weit nach rechts und kam erst ein gutes Stück unterhalb der Alpe auf den Weg. Zurücksteigen wollte ich nicht mehr, dazu waren mir die beiden Rucksäcke doch zu schwer, und welchen der beiden Wege B. einschlagen werde, wusste ich auch nicht, so hielt ich es für das Beste, allein nach Schruns weiter zu wandern.
Dort war man nicht wenig erstaunt, als ich allein, mit zwei Rucksäcken schwer beladen, des Weges kam, und glaubte schon, meinem Führer sei ein Unfall zugestossen.
Um so grössere Heiterkeit erregte es, als B. in etwa zwei Stunden nach mir mit einem kleinen Bündel in der Hand im Sternen erschien und mir Vorwürfe machte, «weil ich ihn wie einen Handwerksburschen habe hintendrein traben lassen». Es muss ihm aber doch nicht so unangenehm gewesen sein, denn es fiel mir nicht schwer, ihn über die erlittene «Zurücksetzung» zu trösten. …

… Wie ich nachträglich in einer Schrift von D. Stokar lese, soll die Ersteigung der Sulzfluh vom Drusenthor aus schon einmal einem Gemsjäger gelungen sein. Freilich soll derselbe nachher erklärt haben, er würde es um keinen Preis zum zweitenmale thun. …

(Victor Sohm, Sekt. St. Gallen)
(Quelle: Alpina 1900)

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