Wildmannlisloch.
Auf der Tüfelisalp, an den Kurfirsten, befindet sich eine tiefe Höhle, in welcher steinerne Bänke und Tische angebracht sind. Da hauste seiner Zeit ein kleines Bergvölklein, von dem jede einzelne Person kaum zwei Fuss hoch war.
Dieses hatte alle verborgenen Schätze der Berge in seiner Gewalt, erzeigte sich aber den Hirten und übrigen Bewohnern der Umgegend dennoch gar freundlich und dienstbar, und immer war etwa ein Männchen bereit, das Vieh auf der Alp zu hüten, ohne dafür einen Lohn zu verlangen oder anzunehmen. (J. Natsch)
Auf der östlichen Seite des Seluner-Rucks liegt eine Höhle, das Wildmannlisloch. Ihr Tor ist so gross, dass man mit Ross und Wagen hineinfahren kann. Sie führt anderthalb Stunden tief in den Berg hinein, und die Gänge drinnen sind so weit, dass mehrere Mann nebeneinander aufrecht gehen können. Vorne haben die Wildmännchen sich Tische und Bänke ausgehauen; eine Viertelstunde weiter innen liegt ein kleiner See, rings von Felsblöcken eingefasst; diese haben sich die Zwerglein zu kühlen Ruhesitzen hergewälzt; noch weiter nach hinten kommen die Wohnungen. Die Zwerge lebten von Wurzeln und Milch. Den benachbarten Sennen halfen sie den Stall «schoren», das Vieh füttern, den Berg heuen. Einst holten sie die Hebamme von Starkenbach, die einem Wildweiblein beistehen musste. Als Lohn erhielt sie eine ganze Schürze voll Erdbrocken. Auf dem weiten Wege aus der Höhle heraus gab sie jedoch auf das wertlose Geschenk nicht acht; als sie heraus ans Tageslicht kam und den letzten Brocken besah, war es reines Gold. (Rochholz, Schweizersagen)
Das Wildemannloch führt zirka 170 Meter in den Berg hinein; weiter vorwärts kann man nicht wegen Enge der Öffnung. Da wohnten ehedem die wilden Männchen; diese halfen den Alpknechten und Talbewohnern oft arbeiten, waren dienstfertig und kamen hie und da ins Tal. Ein Senn stellte diesen Leutchen aus Dankbarkeit einmal ein Essen vor; ein anderer wollte ihnen Kleider geben; von da an sah man die wilden Männchen nicht mehr. (N. Senn, Tagebuch)
Im Wildmannlisloch hausten einst Zwerge. Als sie verdrängt wurden, verwandelten sie sich in die Wurzeln des Allermannsharnisch. (J. Natsch)
Das Rauchloch.
Benachbart liegt auf Selimatt das Rauchloch, eine Erdöffnung, die ähnlich dem Wetterloche des Kamor (im obern Rheintal) ist. Hinabgeworfene Steine hört man lang in der Tiefe rollen; oft steigen Dünste aus ihm empor, die nach dem Volksglauben Regen bringen. (Rochholz, Schweizersagen)
Das Hinterrisi-Männli.
Zwischen dem Käserruck und dem Gamserruck lehnt sich unten am Fusse die steinreiche Hinterrisi an, ein Obersäss. Dort hörte und sah man früher oft ein gespenstisches Männchen während der Nacht. Einst begegnete ein Hündchen diesem Unheimlichen; es bellte hernach die ganze Nacht; am Morgen war es tot. Von jener Zeit an sah man das Gespenst nicht wieder. Sonst, wenn man dieses Männchen jauchzen und brüllen hörte, schneite es auf den Alpen allemal bald ein. (N. Senn, Tagebuch)
In der steinreichen Hinterrisi wohnt das «Hinterrisi-Mandli». Es erscheint, so oft das Wetter abfallen will, nachts schreiend im Scharlachkittel und mit grossem Lamphute und spielt auf einer Geige. (Dr. Henne-Am Rhyn, Deutsche Volkssage)
Der Schatz.
Auf der Alp Wolzen wachsen in einem Loche Blümchen, wie man sie sonst nirgends finden kann. An dieser Stelle liegt ein Schatz vergraben, den allerdings der Böse selber hütet und der darum nicht leicht zu erlangen ist.
Einst kam eine Jungfrau zum Sennen und bat ihn um ein bisschen Milch. Er entsprach dem Wunsche. Dann bat sie, er solle sie begleiten. Sie führte den Mann an die Stelle, wo der Schatz lag. Den sollte er heben, indem er das Hündchen dreimal schlug, das auf dem Kasten sass. Er schlug einmal; da wurde das Hündchen riesengross. Der Mann erschrak und wich zurück. Nun hörte er einen lauten Knall und hernach das Weinen der Jungfrau. Alles war verschwunden. (E. Höhener)
Die Silbergrube auf Schrina.
Die Kühe waren gemolken, das Abendessen eingenommen, der Rosenkranz nach damaliger Alpsitte beendet, als sich der Senn erhob, um vor dem Schlafengehen noch zu lauschen, wo sich die Herde gelagert haben möchte. Er musste mit dem Ergebnis zufrieden gewesen sein; denn er empfahl sich uns sein liebes Vieh Gott und trat ganz bedächtig wieder zur Hüttentüre herein. Der Tag war heiss und schwül gewesen; nur die den Alpen eigentümliche erfrischende Nachtluft hatte etwas Kühlung in die Atmosphäre gebracht. Ein schwaches Wetterleuchten von den Grauen Hörner herüber verkündete ein fernes Gewitter im Süden. Auch Zusenn, Küher und Baschi schickten sich an, die «Tril» zu betreten. Da klopft’s plötzlich an die Hüttentüre. «Wer ist noch draussen?» fragte etwas verwundert der Senn. «Ein verspäteter Wanderer, der euch um Nachtherberge bittet,» antwortete man zurück.
Sogleich wurde die Türe geöffnet, und herein tritt eine hohe, schlanke, blasse Männergestalt in ausländischer Tracht und mit fremdartig klingender Sprache. Er führte nichts mit sich als einen schwarzen, mit goldenem Knopf beschlagenen Stock und ein zusammengeschnürtes Säckchen, das aber wertvolle Sachen zu enthalten schien. Der Fremde wurde freundlich, doch respektvoll willkommen geheissen. Ermüdet setzte er sich nieder. Bald war ihm ein einfaches Nachtessen vorgesetzt, welches der Fremde mit sichtlichem Appetit verzehrte. Nach und nach ward der ernste Mann redseliger und erzählte den mit grösster Aufmerksamkeit lauschenden Knechten von einem fernen Lande, wo ein ewiger Frühling herrscht, ein ewig blauer Himmel lacht, wo die schönsten, süssesten Früchte ohne Sorg und Arbeit gedeihen – von einer Stadt, weit draussen im Meere stehend, von deren unermesslichen Reichtümern, von stolzen Palästen, von tapfern Rittern und holdseligen Frauen. So entfloh die kurze Nacht gleich einem Zauber. Die Knechte glaubten fast, die geschilderten Herrlichkeiten gesehen und mit erlebt zu haben. Der frühe Morgen war angebrochen, die Hüttengeschäfte besorgt, das Morgenessen beendigt; der Küher schickte sich auf des Sennen Geheiss an, die Herde zur Tagweide in die Butz zu treiben.
Der Fremde fragte nach der Schuldigkeit; denn auch er wollte aufbrechen. «Ihr seid nichts schuldig, guter Freund! Nehmt mit dem guten Willen und dem Wenigen vorlieb!» sagte abweisend der Senn. Da griff der Fremde in das Säckchen und gab dem Sennen eine Barre gediegenen Silbers. «Noch etwas, meine lieben Freunde, muss ich euch offenbaren,» sagte er, als er die Schwelle der Hüttentüre betrat; «lasst heute ab von euerm Tagweidfahren nach der Butz. Haltet euer Vieh in Sicherheit dort im untersten Winkel der Alp, nach dem Käsgadenboden hin; denn heute wird in der Hinterbutz ein furchtbares Unwetter entstehen, dergleichen die Menschen noch keines erlebt haben.»
Der Fremde stieg der Butz zu. Auf einmal war er den erstaunten Blicken der Knechte entschwunden, welch letztere sich auch vornahmen, seinen Warnungen pünktlich nachzukommen. In banger Erwartung kam der Nachmittag. Völlig wolkenlos war der Himmel; doch schwül war die Luft, heisser noch als gestern. Voll Unruhe suchte das Vieh den Schatten dunkler Tannen. Da bildete sich etwa um 2 Uhr über der Spitze des Frümsel ein ganz kleines, graues Wölkchen. Immer grösser und grösser ward es, zudem aber auch immer deutlicher die Gestalt eines furchtbaren Drachen annehmend. Jetzt folgten Blitz auf Blitz, Donner auf Donner; ein furchtbarer Sturm tobte die Hinterbutz herunter; dumpfdröhnend rauschte der Hagel hernieder. Die ganze Alp schien nichts als Feuer, Hagel, Wolke und Gischt. Die Erde zitterte, der Berg krachte, als ob er sich spalten wollte. Vom nächtlichen Dunkel umhüllt, nur vom grellen Blitze erhellt, vor Entsetzen starr standen die Knechte beim Vieh, glaubten, der jüngste Tag sei angebrochen, und gaben sich samt der Herde verloren. In ihrer grössten Angst riefen sie ihren gewohnten Abendgruss: «Ave Maria!» Und sieh! Die Elemente legten sich. Freundlich schimmerte die Abendsonne bereits durch die Wolken. Die Gegend trat wieder an das Tageslicht. Der Wolkendrache, immer noch donnernd und feuersprühend, zog am Himmel hoch über den blauen Walensee nach dem gegenüberstehenden Mürtschen, dort bis in die späte Nacht sein Unwesen treibend und die ganze lange Strecke mit Hagelschossen überschüttend. Auf dem Drachen sahen die Knechte das Bild des Fremden, riesengross, ernst und traurig dareinblickend.
Welche Veränderung entdeckten sie aber in ihrer Nähe! Ein etwa zehn Minuten breiter Strich auf der östlichen Seite der Alp zeigte dem Auge die fürchterlichsten Verheerungen. Hoch oben vom Frümsel bis hinab auf Wiesen hatten sich zwei gähnende Bergklüfte geöffnet; unten, ausserhalb der Alp, war von den rasenden Bergbächen alles voll Schutt und Trümmer. Ausser diesem Reviere hatte die Gegend nichts zu leiden gehabt; im Gegenteil schien die Natur im grössten Frieden gelegen zu haben; auch kein Stück Vieh war den Hirten abhanden gekommen. Die Knechte hatten in dem Fremden einen Venediger erkannt, der mit Hilfe des Dachen im Kamm des Frümsel eine grosse Menge Silber gehoben hatte.
Noch heutzutage heisst jene Kluft und Runs, die am Fusse der Frümselspitze beginnend in die damals sich öffnenden zwei Grundbäche einmündet, die Silbergrube. (J. Natsch)
Die weissen Gemsen.
Ein Quintner Gemsjäger sah auf den Freibergen der Kurfirsten sechs schneeweisse Gemsen mit hochroten Füssen. Obwohl er wissen konnte, dass nach einer alten Überlieferung das Töten solcher Gemsen Unglück bringe und auch ohnehin das Erlegen von Gemsen auf den Freibergen gesetzlich verboten sei, übernahm ihn die Begierde, eine zu schiessen.
Als er dann aber in geeigneter Distanz auf einen prächtigen Bock anlegte und schoss, flog sein Stutzer in vielen Stücken auseinander und verstümmelte ihm die Hand auf grausige Weise. (J. Natsch)
(Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen von J. Kuoni. St. Gallen, 1903)