Kriegerische Zeiten im Rätikon

Aus dem Rhätikon (von R. Wäber)
… Auch wir, Freund K. und der Schreiber dieser Zeilen, zählen uns zu den „kleineren Leuten“, und da uns die Aufgabe Oberst Wieland’s als Bergfahrer wie als Militärs gleich sehr anzog, wollten wir einen Versuch auf diesem Felde machen und einer fröhlichen Berg- und Passwanderung das Nützliche einer Recognoscirung im westlichen Rhätikon gesellen.
Das gewählte Gebiet weist auf kurzer Strecke eine ganze Reihe solcher kleiner Pässe auf und ist sowohl an landschaftlicher Schönheit wie an historisch interessanten Erinnerungen reich. An der Schwelle unseres Jahrhunderts, als sich die Halbbrigaden der französischen Republik mit den österreichischen Regimentern um den Besitz der Luziensteig stritten, belebten sich die einsamen Gebirgspfade wiederholt mit österreichischen Truppen, die über das unwirthliche Grenzgebirge vom Vorarlberg her nach Graubünden zogen. Wir wollten also dieses Stück unserer Grenze von Grund aus kennen lernen und dabei die Wege suchen, die jene fremden Gäste im Frühling des Jahres 1799 gekommen sind, um andere Fremdlinge auf Schweizerboden zu bekämpfen. (Die historischen Notizen sind folgenden Werken entnommen: Erzherzog Karl, Geschichte des Feldzuges von 1799; W. Meyer, Biographie Hotze’s, u. Marès: Précis historique de la campagne du Général Masséna dans les Grisons. Einige Wegangaben verdanken wir dem bekannten Führer Fortunat Enderlin in der Bündt Maienfeld, der noch Augenzeugen jener Tage gekannt hat.)

Es war am 16. August 1881, als wir selbander die wohlbepackten Tornister auf den Rücken schwangen und zum alten Städtlein Maienfeld hinaus den nahen Bergen zuwanderten. Unsere Absicht war, von der Luziensteig aus auf direktestem Wege, also durch das „Glecktobel” hinauf, nach dem Gamperthonthale im Vorarlberg zu gelangen. Der Himmel schien uns ungnädig; sein Blau hatte einem trübseligen Grau das Feld geräumt und Frau Sonne sieh hinter den Wolkenvorhang zurückgezogen.
Der Nachmittag war schon ziemlich vorgerückt, als wir uns von den Festungswerken dem Eingange des Glecktobels zuwandten. Ein leidlicher Weg führte uns am linken Ufer des Gleckbaches steil empor im Dunkel der Tannen, durch die der graue Himmel grämlich herabschaute. Als sich nach einer Weile scharfen Steigens der Wald lichtete und wir ins Freie traten, fanden wir uns schon ganz im Kessel des Tobels, dessen Abschluss hoch oben der Sattel des Gleckkammes zwischen Gleckhorn und Hoch Furnis bildet. Zu unserer Linken ragten die Thürme des Gyrenspitz und Falknis, rechts stieg der Bergwald stotzig empor und vor den Ausgang des Tobels legte sich breit der Fläscherberg mit seinen Blockhäusern. Wildheuer waren emsig beschäftigt, ihr Heu vor dem drohenden Regen zu bergen; es war hohe Zeit: schon fielen einzelne Tropfen und bald rauschte über Wald und Wiese der Regen herab, vor dem wir unter den dichten Aesten einer Tanne am Waldrand Obdach suchten.
Zweimal schon hat schweizerische Gebirgsartillerie den Uebergang durch das Tobel hinauf nach den Maienfelder und Jeninser Alpen gemacht. Nach vergeblichen Versuchen gelang es zum ersten Male im Jahr 1870, je einen Zug von jeder der beiden Batterien über den Gleckkamm zu bringen, nachdem Tags zuvor Hauptmann Simonett, der Bezirksingenieur von Splügen, die nöthigsten Wegarbeiten geleitet hatte. Im obersten Drittheil des Tobels ist eine längst verlassene Gypsgrube; bis dorthin kamen die Pferde auf dem alten steilen Saumwege leidlich fort, aber von dort bis zur Passhöhe hatte ein neuer Weg zwischen den Felsköpfen hindurch angelegt werden müssen. Der zweite Uebergang geschah vor wenigen Jahren unter dem jetzigen Chef der Gebirgsartillerie. Es ist ein rauhes Stück Arbeit gewesen; beide Male mussten an einigen Stellen die Pferde abgepackt und die Geschütze von der Mannschaft getragen werden.
Der Regen hatte nachgelassen; es huschte sogar ein Sonnenstrahl über die nassen Matten und wir brachen wieder auf. Hoch über dem Bach, am linken Thalhang, zog sich der schmale Weg hin; steiler und schlechter werdend, führte er bald über Wiesland, bald durch Waldstreifen empor; wilder wurde die Landschaft, rauher der Weg, über Schutthalden und Felsen hinanführend, und jetzt pfiff ein kalter Wind das öde Tobel herauf, uns eisigen Regen ins Gesicht peitschend. Da stehen wir endlich auf dem welligen Rasenboden des Gleckkammes, und dort unten zu unserer Rechten liegen die Hütten der Alp „Bad“, die wir, durchnässt und frierend, im letzten Schimmer des Tages erreichen.
Die ganze Nacht durch trommelte der Regen auf das Hüttendach, und am Morgen sah die Landschaft trostlos grau in grau gemalt aus. Am Gleckhorn flatterten einzelne Streifen des Nebels, der dort, wo wir die Alpen von Eck und Stürvis vermutheten, in dichter Masse das Hochthal füllte; von unserem Excursionsgebiet, der Kette des Rhätikon, war keine Spur sichtbar.
Da das Wetter den ganzen Vormittag über gleich schlecht blieb, wurde der Rückzug über Jenins angetreten. 24 Stunden nach unserem Ausmarsch rückten wir wieder im Städtlein Maienfeld ein; der erste Anlauf war abgeschlagen und es regnete immer noch.
Als wir zwei Jahre später desselbigen Weges fuhren, glänzten die Häupter der Kurfirsten in neuem Schnee; am Falknis droben jagten sich die Nebel, und wenn der Berg auf Augenblicke sichtbar wurde, zeigte auch er den neuen, bis weit herab reichenden Schneemantel: aber über Allem lachte die nach langem Unwetter siegende Sonne.
Die Reise galt dem von den Maienfelder Alpen nach dem Saminathal führenden Uebergang, dem 13 Jes-Fürkli oder Samina-Joch. Unser bisheriges Kartenmaterial, Blatt X der Dufourkarte und Blatt Bludenz-Vaduz der österreichischen Generalstabskarte, war durch das eben erschienene Blatt 273 (Jenins) des Siegfried-Atlas vermehrt worden. Statt des Glecktobels schlugen wir den Umweg über Guscha und den Gyr ein.

Da waren wir wieder bei der gesperrten Eingangspforte Graubündens, bei den Werken der Luziensteig, angekommen. Es ist schon viel Kriegsvolk aus aller Herren Ländern die Strasse zwischen Gyrenspitz und Fläscherberg gezogen, und oft hallten die Felswände vom Kampflärm wieder, vom Schwabenkrieg bis auf die Zeiten Masséna’s und Hotze’s. Wie wurde im Frühjahr 1799 um den Pass gestritten! Im Oktober des vorhergegangenen Jahres hatten die Oesterreicher seine Werke besetzt; im März 1799 wurden sie ihnen von Masséna entrissen; am 1. Mai versuchte Hotze, die Steig wieder in seine Gewalt zu bringen; der Angriff misslang, doch 14 Tage später wurde ein erneuter Versuch mit Erfolg gekrönt und der Pass von den Kaiserlichen wieder gewonnen.

Der Thurm, dessen weiße Zinnen 100 m ob der Straße so kokett aus dem Grün des Buchwaldes hervorgucken, und der die rechte Flanke des Werkes schützen und den Weg von Guscha sperren soll, stand damals noch nicht; der Weg, der uns nun im kühlen Waldesschatten emporführt, war offen. Das haben die Oesterreicher büssen müssen, als Masséna am 6. März die Luziensteig angriff. Nach grossen Schwierigkeiten war es ihm gelungen, bei Trübbach eine Bockbrücke über den hochgehenden Rhein zu erstellen, über die seine Infanterie das rechte Ufer gewann, bevor sie nur ganz vollendet war. Um 3 Uhr Nachmittags standen die Franzosen, ohne Sturmgeräth, ohne Artillerie vor den Werken, die mit sechs Compagnien und fünf Geschützen besetzt waren. Der Angriff war gewagt; es galt, die Verbindung des österreichischen Hauptquartiers in Feldkirch mit den in Graubünden stellenden Truppen zu unterbrechen und am rechten Rheinufer festen Fuss zu fassen. Links die starke Stellung der Oesterreicher in dem befestigten Feldkirch, vor sich das unwegsame Gebirge, im Rücken die schlechte Brücke von Trübbach, musste sich Masséna zum raschen Sturm auf die Luziensteig entschließen. Er leitete das Unternehmen selbst, detaschirte zwei Grenadiercompagnien nach dem Guscherweg hinauf und ein Bataillon über den – ebenfalls nicht gesperrten – Fläscherberg nach dem Rücken der Position und stürmte mit einem Bataillon in der Front. Viermal wurde der Angriff zurückgeschlagen. Die Grenadiere waren endlich im tiefen Schnee durch den steilen Wald zwischen Balzers und den Schanzen auf den Guscherweg gelangt und senkten sich nun nach dem Pass herab; die beim Rappentobel ausgestellten österreichischen Posten wurden erschossen, und bei Einbruch der Nacht, als Masséna die letzten vier Reservecompagnien zum letzten Sturme vorgesandt und die rechte Flügelredoute des Werkes genommen hatte, drangen die Grenadiere im Rücken der Schanzen ein; die Luziensteig ward nach heissem Kampf erobert und die Strasse nach Graubünden war für die Oesterreicher verloren.

Vor uns liegt die Häuserreihe von Guscha, wo man nach dem Volksmund den Hühnern Steigeisen anlegt und die Kinder anbindet, dass sie nicht erfallen. Die Luziensteig war für das friedliche Dörflein, dessen Fenster im Abendsonnenschein weithin über’s Rheinthal glänzen, ein gefährlicher Nachbar, und die Kriegsfackel hat auch diesen abgelegenen Winkel nicht verschont. Bei der Wiedereroberung Bündens durch Oesterreich im Jahr 1622 leuchteten die Flammen des Dörfleins ins Land hinaus, ein Zeichen der wilden Horden Ballestra’s, und anno 1799 pfiffen hier die Kugeln der Franzosen und Oesterreicher.
Die Häuser zerfallen; nur noch drei Familien – alle den Namen „Joost“ führend – hausen auf Guscha, und bei Florian Joost, dem wohlbekannten Jäger, bezogen wir das Nachtquartier auf der Guscher Alp, eine halbe Stunde ob dem Dörflein.

Eine kalte, klare Nacht war heraufgezogen; die Strahlen des Mondes versilberten die schneeigen Spitzen des Falknis und im bläulichen Duft glänzten die Lichter von Ragaz durch die Lücke der Luziensteig in unsere Bergeinsanikeit herauf.
Am Morgen genossen wir die prächtige Aussicht auf dem dachsteilen Guscher Grat, und als es Mittag war, lagen wir bei den obersten Heuställen des Guschertobels – hier „Bargün“ genannt – im hohen Grase und warteten auf unsern Wirth Flury, während nah und fern die Sensen der Wildheuer erklangen.
Um zwei Uhr kam Meister Joost vom Heuen den steilen Abhang heraufgestiegen; er wollte uns über „auf dem Gyr“ nach dem Fläscherthäli (Radaufis) führen und wir brachen auf, dem Grate zu, der den Kessel von Guscha vom liechtensteinischen Wildhaustobel trennt und der jenseits der Grenze „Mazoura“ genannt wird; über Geröllhalden gelangt man von hier aus zur Alp Lavena hinunter.
Hier führte in der Nacht des 30. April 1799 Major Quelf ein österreichisches Bataillon von Lavena herüber und vertrieb die Guscha besetzt haltenden Franzosen. Es war dies eine der Kolonnen, die Hotze bei seinem ersten Versuch, die Luziensteig wieder zu gewinnen, über die Berge nach dem Rücken der Werke detaschirt hatte.

Am Abhang des Falknis, hoch über dem Guschertobel, gings nun der Uebergangsstelle ob dem Gyrenspitz zu; der Weg war des neuen weichen Schnee’s wegen etwas misslich und erforderte Vorsicht. Um vier Uhr waren wir dort, circa 120 m oberhalb Punkt 2167 der topographischen Karte „auf dem Gyr“, angekommen; unter uns fallen die Wände der „Thürme“ schroff ab zum Glecktobel, das sich zum Gleckhorn zu unserer Linken emporzieht; nach Süden dringt der Blick über die weinberühmte Herrschaft und die alten fünf Dörfer bis nach der ehrwürdigen Bischofsstadt Chur, nach Osten inss tief eingeschnittene Prättigau, und dazwischen erhebt sich das Gewirr der Spitzen und Hörner des Bündnerlandes.
Nach kurzer Rast führte uns Meister Flury quer durch die tief eingerissenen Schluchten und über die Rippen des Berges nach dem Grat, der sich von der Falknishöhe hinüber nach der Gleckwand schwingt. Hier öffnet sich der Blick in das Hochthal von Radaufis mit seinen drei blauen Seelein und hier verabschiedete sich unser freundliche Wirth und Führer.
Wir stiegen über die Platten des Grates hinab zum obersten der Seelein. In engen Felswänden eingebettet liegt es da, unergründlich tief, und wer seine Tiefe messen will, der erregt den Zorn der Berggeister, dass das stille Gewässer laut brausend aufschäumt. Von einer Kuh, die einst hineingefallen, kam nichts mehr zum Vorschein, als die Glocke, die im Kathrinenbrunnen zu Balzers unten zu Tage sprang. So meldet die Sage.
Bald war das Hochthal, in dem die Heerden von Fläsch weiden, durchwandert und die Alp Sarina erreicht, und eingedenk genossener Gastfreundschaft stiegen wir noch hinan zu den Hütten des „Bades“ am Gleckkamm. Da war nun das wunderbare Landschaftsbild, das uns vor zwei Jahren die grauen Nebel verhüllt hatten: schöne Alpweiden senken sich hinab zum Bergwald, der das Thal zwischen Tschingel und Aebigrat füllt, und darüber baut sich das gewaltige Massiv des Alpsteins auf, überragt von der aus Schnee und Eis aufstrebenden Pyramide der Scesaplana, die in den letzten Strahlen der sinkenden Sonne erglühte.
Früh Morgens gings durch die thaufrischen Wiesen hinab nach den Alpen von Eck und Stürvis. Wo jetzt die stattlichen Hütten von Stürvis liegen, war vor Jahrhunderten ein Dörflein, dessen Bewohner, des rauhen Klima’s und der langen winterlichen Einsamkeit müde, im 16. Jahrhundert nach Maienfeld ausgewandert sind. Die Bathönier und Nigg, die Enderlin und Gamser stammen von den alten Stürvisern, und das Glöcklein, das einst die Hirten des hohen Bergdörfleins zur Messe rief, läutet nun ihren Nachkommen zu Maienfeld in den Rath. Das Gemäuer der Kirche stand noch im vorigen Jahrhundert, jetzt sieht man nur noch wenige Spuren auf dem Kirchhügel. Die Geschichte des Stürviser Liebespaares Elly und Oswald, die noch auf den Alpen wie im Thale lebt, ist durch David Heß’ Erzählung in weiteren Kreisen bekannt geworden. Noch zeigen die Sennen den Stein, an dem die Stürviser des Dörfleins lieblichste Blume, schön Elly, und auf der andern Seite des Felsens ihren Verlobten in Schnee und Eis erstarrt fanden. Sie wusste ihn im nächtlichen Schneesturm unterwegs von Maienfeld, war ihm entgegengegangen und in der schneidenden Kälte seiner harrend entschlummert; todtmüde und erschöpft vom schweren Anstieg mit hochbepacktem Räf war er am nämlichen Felsblock niedergesunken, um nicht mehr aufzustehen, und so, nur durch den Stein getrennt, Jedes ohne des Andern Nähe zu ahnen, sind Beide von des Todes kalter Hand berührt worden.
Ob den Hütten von Stürvis rauscht der Bach, der vom Hochthal von Jes kommt, in schönem Fall über eine Wand herab. Auf gutem Wege steigen wir hinan; dicht bei dem Wasserfall beginnt die Felstreppe von Jes; im Zickzack führen ihre rohen Stufen die Wand hinauf, und gleich bei den untersten derselben finden wir Buchstaben und Zahlen in einfacher Umrahmung in den Fels gemeisselt. Die Maienfelder Werkmeister Danner (heute Tanner) haben die Jahreszahlen ihrer Arbeit am Felsweg und ihr Wappen, die Tanne, im 17. und 18. Jahrhundert hier verewigt.
Das Hochthal von Jes war erreicht. Umrahmt von hohen Felsen zieht es sich hinan zum scharfgezackten Grenzgrat, an dessen tiefster Stelle die feine Scharte des Uebergangs uns den Weg wies. Die Hütten standen leer; der Schneefall der letzten Tage hatte Mensch und Vieh hinabgetrieben. In einem alten Ortslexikon der Schweiz finden wir den Namen der Alp „Jyes“ geschrieben; diese Schreibweise entspricht genau der Art, wie der Name von den Sennen ausgesprochen wird.
Die schönen Alpweiden machten wilden Geröllhalden Platz; bald verschwanden die kleineren Trümmer im weichen Schnee, durch den wir nun in heisser Mittagssonne dem Passe zustampften. Der letzte Anstieg ist sehr steil und mühsam; um zehn Uhr standen wir in der Scharte und sahen ins Saminathal hinab. Beschneite Halden senken sich zum grünen Thalboden der Valüna-Alp hinunter, von der aus sich das weisse Band eines guten Weges, den Windungen des Thalbaches folgend, thalwärts zieht bis zum grossen Hüttenviereck der Frastenzer. Dort verliert sich der Weg im Wald, der links zu dem Grate der Drei Schwestern, rechts zum Schönenberg hinansteigt. Hinter uns erhebt der Vilan sein grünes Haupt über den waldigen Abhang des Aebigrates und glänzen die Gipfel und Firne der Bündner Berge: es war keine grossartige, aber eine ungemein liebliche Aussicht von unserem Passe aus.
Die Uebergangsstelle ist so schmal und tief in den Fels eingeschnitten, dass nur Mann hinter Mann in dem Couloir passiren kann, und die Schwärzer, die dann und wann den Weg zu benützen pflegen, werden gut aufpassen müssen, dass ihre Packen nicht rechts und links an den scharfen Platten des Ganges hängen bleiben.
Des Proviantes letzte Flasche wurde geopfert und dann der Rückzug über Jes angetreten. Nach kurzer Rast in den Stürviser Hütten marschirten wir, den schäumenden Wallabach überschreitend, an dessen rechtem Ufer thalaus. Auf schrecklich verlottertem Wege, bald im nassen Lehm des Bachbordes, bald im unergründlichen Morast des Waldes, in dem mächtige gefallene Baumriesen verfaulen, kamen wir an den Trümmern des Schwefelbades Ganey vorbei und in den Seewiserweg und kehrten dann bei Herrn Major Walser, dem Bergkundigen, im gastlichen Hotel Scesaplana zu Seewis ein.

Da waren wir wieder mitten in der Cultur drin. Durch das offene Fenster der traulichen Stube, da wir mit unserem Wirthe beim Malanser sassen und rhätische Geschichten hörten, lachte der Vollmond; tief unten im Prättigau, wo die Lichter von Schiers glänzen, spiegelt er sich in den Wellen der Landquart; am Bergeshang versilbert er die schlanke Thurmspitze, das hohe Dach der Kirche von Seewis und gleitet hinüber zum nahen Wirthshaus, da sich die Seewiser Jugend im Tanze dreht. Johlen, Schleifen und Stampfen tönt durch die helle Sommernacht; es fiedelt die Geige, es brummt der Bass: Seewiser Kirchweih ist heute.

Wieder ein Jahr später waren wir zum dritten Male im Rhätikon. Unser erstes Ziel auf dieser Fahrt war die Scesaplana; sie hatte es uns angethan, als wir an ihrem Fusse nach Seewis gewandert waren; nach ihr sollten die aus dem Gamperthonthal nach dem Prättigau führenden Grenzpässe an die Reihe kommen.
Wir waren von Bludenz her durch das Branderthal gekommen, hatten in Brand Adam Beck, den Wirth des hübschen, neuen Gasthauses, als Führer engagirt und stiegen im letzten Schimmer des Tages die steilen Schutthalden des „Bösen Trittes“ hinan nach dem Lünersee. Geheimnisvoll wie ein Märchen liegt der schöne Bergsee da im Zwielicht der Dämmerung; an seinem Ufer wandern wir noch einige Minuten fürbass und das kleine Wirthshaus ist erreicht. Heller Lichtschein fällt aus seinen Fenstern auf die Felsblöcke des Ufers; die Stube ist angefüllt mit Bergfahrern aller Arten und aller Costüme, und in der Küche dampft und brodelt es, als ob eine Armee zu bewirthen wäre. Das Haus am Lünersee, wie der vorzüglich angelegte und unterhaltene Weg, der so bequem zu ihm heraufführt, sind Werke des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins, dem der Dank aller Scesaplanafahrer gebührt.
Draussen lag die milde Sommernacht über Berg und See. Stern um Stern war heraufgezogen; über den Felsen im Osten wurde es hell und heller; jetzt zittert der erste Strahl des aufgehenden Mondes herüber, und bald strahlte die ganze Scheibe am klaren Himmel und goss ihr Silber herab auf den leicht gekräuselten Spiegel des See’s.
Im ersten Frühlicht des jungen Tages stiegen wir die steilen, zum weiten Plateau der firnbedeckten Todtenalp hinanreichenden Halden empor. Am Rande des Schnee’s war erster Halt; tief unten spiegelt der Lünersee die hellen Töne des Morgenhimmels wieder, von dem sich die grotesken Felsformen von Schafgafall seltsam abheben. Ueber die weiten Schneeflächen folgten wir dem eingestampften Pfade westlich bergan; schon erglühten die höchsten Partien der Felsen zu unserer Rechten in der Morgensonne, und bald sandte sie ihre Strahlen auch zu uns auf den Firn. Das war ein herrlich Wandern am klaren Sonntagmorgen: das warme Weiss des beleuchteten Schneegrates, dem wir zustreben, in prächtigem Contrast zum tiefdunkeln, satten Blau des westlichen Himmels, die kräftigen Töne der Felsen, die im hellen Sonnenschein eine unendliche Mannigfaltigkeit der Farben zeigten; daneben die kalten Schattenpartien des Firns: all das bildete jene wunderbare Farbenzusammenstellung, die wir in der Region des ewigen Schnee’s finden, wenn die allbelebende Sonne fröhliches Leben und Anmuth in die starre, ernste Scenerie der Hochgebirgslandschaft hineinzaubert.
Um 7 Uhr standen wir beim Signal auf der Spitze der Scesaplana. Kein Wölklein war am Himmel, kein Nebel trübte die Fernsicht: die fernste Spitze der Schweizer- und Tyrolerberge war sichtbar, ein Panorama von gewaltiger Ausdehnung, ein gut Theil des Schweizerlandes, Tyrols und Schwabens umfassend, breitete sich in wundervoller Klarheit vor uns aus.
Nach langer Umschau auf dieser höchsten Warte des Rhätikons stiegen wir steil über Fels und Schnee hinab zu der Stelle am felsigen Absturz, da ein Pfahl den neuen Weg nach der Schamellahütte auf Schweizerboden andeutet. 400 m unter uns, am Fusse der Felsen, war das Dach der Clubhütte sichtbar; unser Führer, dem wir einen weiten Umweg gern ersparen wollten, verliess uns hier, und wir suchten uns, mehr rutschend als gehend, den Weg durch die Felsen hinab.
Um 11 Uhr legten wir unsere Tornister in der gut eingerichteten Clubhütte ab und kochten mit vereinten Kräften eine währschafte Erbssuppe; Teller und Löffel bot die Hütte, die weiteren Zuthaten zum Dîner im Hotel Schamella die Tiefe des Ränzels, und im hohen Grase und warmen Sonnenschein genossen wir hier oben eine köstliche Siesta.
Des heutigen Tages Ziel, die Hütten der Alp Fasons, war in geringer Entfernung in Sicht und nach langer Mittagsrast wanderten wir bergab, unserem Ziele zu, wo uns bald ein hoher, kühler Raum mit blitzenden Kesseln und blanken Milchgeschirren aufnahm.
Gegen Abend spazierten wir ein Stück bergan, um den Weg des folgenden Tages zu mustern. Die Hütten der Alp liegen am rechten Abhang des Stegentobels, das sich weiter unten mit dem Valsertobel vereinigt. Folgt man seiner Rinne bergan, so führt sie zur Schlucht des Schafloches, durch die ein Weg nach der Scesaplana hinaufführt. Dort, wo die Felsen des Alpsteinmassivs links schroff zum Grenzgrat abfallen, ist die Uebergangsstelle der kleinen Furka oder des Salarueljoches nach dem östlichen Seitenthale von Gamperthon. Verfolgen wir den Grat weiter nach links, so schwingt er sich bald zu einem breiten, felsigen Gebirg auf mit bizarr ausgezackten Contouren, den „kurzen Gäng“, an das sich der Gipfel des Tschingels reiht, und zwischen diesen beiden Bergen durch, wo die Grenze sich eine kurze Strecke südwärts wendet, führt die große Furka nach dem Hauptthal von Gamperthon hinüber. Eine weite grasreiche Mulde, der Heuberg, senkt sich vom Tschingel herunter; dort hinauf gelangt man ins Tschingelthäli und durch dieses zu einem dritten Grenzübergang, dem in den Platten oder Kellern (Kellernen) ob Jes.
Nun waren wir über den bevorstehenden Marsch orientirt und kehrten zu den Hütten zurück. „Wohin geht die Reise?” fragt uns einer der Aelpler. „Nach dein Seewiser Fürkli hinauf.“ „So! führt Ihr Contrebande?“ Die Frage, die uns nicht wenig ergötzte, ist hier ganz naheliegend; es wird viel geschmuggelt über diese kleinen Grenzpässe; vierzehn Tage vorher waren zwei Schwärzer aus Brand auf dem Gletscher oben erfroren.

Als die Morgensonne die Weiden und Felsen der jenseits des Valsertobels sich erhebenden Bündner „Picardie“ vergoldete, war Tagwacht auf Fasons, und um 5 ½ Uhr Abmarsch nach der kleinen Furka. In der frischen Morgenluft stiegen wir inmitten weidender Heerden die thauigen Matten hinan. Zahlreicher werden die verstreuten Felsblöcke, spärlicher der Rasen; bald sind wir in den Geröllhalden, die von den Felsen des Alpsteins herabkommen. Eine Gemse mit ihrem Zicklein macht weiter oben den nämlichen Weg; bald äsend, bald in muntern Sprüngen steigt das Paar bergan; nun sind sie auf dem Grate: einen Augenblick zeichnet sich die elegante Silhouette der Thiere am Horizont ab, dann verschwinden sie am jenseitigen Abhang.
In das kleine Augstenbergthälchen geht’s nun hinein, durch dessen Wiesenboden sich die obersten Quellenarme des Valpeidabaches schlängeln, und wir stehen am felsigen Abhang des Grenzgrates; seine ausgezackte Schneide nimmt immer abenteuerlichere Formen an, je näher wir ihr kommen. Noch eine halbe Stunde steilen Anstieges durch Felstrümmer und Geröll, und um 7 Uhr sind wir auf der Passhöhe. Rechts zieht sich eine Schutthalde zu den Felsen des Alpsteins hinauf, links starren die Klippen des Grates wild empor und hängen über seinen Nordrand, und wie wir am jenseitigen Hange ein paar Schritte hinunter gehen, sehen wir, unter einen überhängenden Felszacken geschmiegt, ein paar Mäuerlein, die Jägern und Grenzern Schutz gewähren sollen.
Unter uns liegt die östliche Abzweigung des Gamperthonthales; auf seiner rechten Seite, der Panüelalpe gegenüber, ragen die Felsen der Panüeler Schrofen und senden ihre gewaltigen „Riesen“ nieder nach der Thalsohle, und an ihrem Fusse führt der von St. Rochus herkommende Weg vorüber und windet sich im Zickzack die lange Schutthalde des nördlichen Abhanges herauf zur Passhöhe. Das ist der Uebergang der kleinen Furka oder des Salarueljoches, wie ihn die Vorarlberger nennen.
Wir stiegen wieder durch die Trümmerhalde hinab und wandten uns westwärts ins Alpenthal des Augstenberges. Bis jetzt hatte die Morgenwanderung im Schatten der Scesaplana stattgefunden; nun brannte die Sonne tüchtig auf den Rücken, als wir der grossen Furka zuwanderten. Nach stündigem Marsch über die Wiesen am Fuße der „kurzen Gäng“ erreichten wir die Passhöhe; im Gegensatz zum schmalen, felsigen Einschnitt der kleinen Furka ist die Uebergangsstelle der grossen ein weiter, breiter Sattel von Alpweiden. Ueber eine Felsterrasse stiegen wir hinunter bis zum Rande des steil nach dem Gamperthonthal abfallenden Abhanges, schlugen dort mit Plaid und Bergstock ein Zelt auf gegen die Strahlen der Augustsonne und hielten Rast und Umschau.
Hinter uns ragen die „kurzen Gäng“, die wir hier ganz im Profil sehen, in kühnen Formen in die Luft und rechtfertigen als schlanke Felsspitze mit senkrechten und überhängenden Wänden den Namen „Hornspitz“ der österreichischen Karte. Von ihren Abhängen zieht sich der grüne Grat der grossen Furka hinüber nach dem Tschingel zu unserer Linken. Die Schutthalden, die sich von den Nordwänden des imposanten Felsstockes herabsenken, verflachen sich auf einem breiten, schneebedeckten Plateau von Karren, das sich, überall gangbar, von unserem Standpunkte hinüberzieht nach dem Uebergang der Platten oder „Kellernen“, und dessen felsiger Nordrand schroff zum obersten Theile des Gamperthonthales abfällt. Jenseits des Plateau’s steigt der Grenzgrat, über dessen Linie die scharfe Spitze des Gleckhornes hervorschaut, wieder an und gipfelt in der aus Schneefeldern und Felsen hervorragenden Pyramide des Naafkopfes oder Schneethälispitzes (Punkt 2574,4 ohne Namen der topographischen Karte, in der Dufourkarte fälschlich Grauspitz genannt), und von dieser Spitze senken sich uns gegenüber die von Felssätzen unterbrochenen Weiden der Vermalesalpe herab zur Thalsohle; Wegspuren ziehen sich dort hinauf zur Uebergangsstelle des Passes „in den Kellernen“. Rechts vom Naafkopf führt ein Pfad von der Vermalesalpe über das Bettlergrätli nach der Alp Gritsch im Saminathal.
Ueber die Pfade dieser Partie des Rhätikons, die wir heute zum Theil begangen haben, zum Theil vor uns sehen, sind anno 1799 die  Oesterreicher zur Umgehung der Luziensteig aus dem Gamperthonthal nach Graubünden hinübergestiegen. Wir wollen versuchen, an Hand der jene Epoche behandelnden Werke die Colonnen auf ihrem mühsamen Marsche über das rauhe, verschneite Gebirge zu begleiten.
Am 1. Mai sollten sich drei österreichische Abtheilungen, die links und rechts der Luziensteig die Berge zu überschreiten hatten, im Rücken der Werke vereinigen und den Frontalangriff der vierten Colonne unterstützen.
Die Umgehungscolonne westlich des Passes hatte, 3 ½ Bataillone stark, über den Fläscherberg zu steigen; die erste der östlichen Abtheilungen, ein Bataillon, haben wir beim Grate von Mazoura, der den Kessel von Guscha vom Wildhaustobel trennt, erwähnt, und die andere war schon am 29. April von Nenzing im Vorarlberg aufgebrochen, um durch das Gamperthonthal nach dem Ganeyerbad hinüber und von da nach Jenins hinunter zu steigen. Ihre Schüsse sollten das Signal zum allgemeinen Angriff sein.
So sehen wir 1 ½ Bataillon unter Major Vukassovich, begleitet von den Nenzinger Schützen, das Gamperthonthal heraufziehen. Wenn sie den nächsten Weg eingeschlagen, so haben sie bei St. Rochus das Hauptthal verlassen und sind durch das östliche Seitenthal nach der kleinen Furka hinauf und über die Alp Fasons nach Ganey hinabgestiegen. Der 1. Mai brach an. Das Bataillon, das unter Major Quelf von Lavena nach Guscha hinübergestiegen war, bemächtigte sich zwar am frühen Morgen des Dörfleins, hatte aber keine weiteren Erfolge, da die Franzosen nicht versäumt hatten, den Guscherweg und Wald durch Verhaue zu sperren. Es entspann sich hier eine unnütze Plänkelei, deren Schüsse irrthümlich für die der Colonne Vukassovich’s gehalten wurden; die Truppen vor der Steig griffen an und warfen die französischen Vorposten in die Schanzen zurück, weiter kam es auch hier nicht.
Besseren Erfolg hatten die 3 ½ Bataillone unter Graf St. Julien, die in der Nacht von Mels aus den Fläscherberg erstiegen hatten. Sie vertrieben die Franzosen aus ihrem Verhau, bemächtigten sich des Dorfes Fläsch und rückten, die Franzosen vor sich her jagend, Vormittags 10 Uhr mit neun Compagnien in Maienfeld ein, nachdem auf dem Fläscherberg und in Fläsch Reserven gelassen worden waren.
In Maienfeld erwarteten die ermüdeten Truppen mit Ungeduld das Eintreffen der andern Colonnen, aber weder von Guscha, noch von Jenins her kam die erhoffte Unterstützung. So musste denn Mittags 12 Uhr die isolirte Abtheilung den Rückzug nach dem Fläseherberg antreten; aber da erfolgte auch schon der Angriff der französischen Reserven in Front und Flanke, und die Bewegung, die mit so günstigem Erfolge begonnen hatte, endete mit einer empfindlichen Schlappe.
An diesem Missgeschick war grossentheils die Gamperthoner Colonne Schuld. Vukassovich scheint vom Ganeyerbad nach Seewis hinunter gestiegen zu sein und von hier eine Abtheilung nach der Prättiganerklus detaschirt zu haben, während der Rest sich über den Seewiserberg Jenins zu bewegte. Sei es, dass der tiefe Schnee den Marsch verzögerte, sei es, dass sich die Colonne verirrt hatte: sie kam nicht zur rechten Zeit an ihr Ziel und musste dann den Rückzug auf nämlichem Wege, wie sie gekommen, antreten. Die Abtheilung Quelf’s ging von Guscha auf Umwegen zurück und gelangte endlich durch das Saminathal wieder nach dem Hauptquartier in Feldkirch.
Vierzehn Tage später erfolgte der gemeinsame Angriff auf Graubünden durch Hotze von Vorarlberg und Bellegarde von Tyrol aus, und wieder belebten sich all die aus Montafun und Vorarlberg nach der Schweiz führenden Pässe. Hotze beschloss, die Umgehung der Luziensteig über Fläscherberg und Guscha fallen zu lassen, dagegen diejenige durch das Gamperthonthal mit weit grösseren Truppenmassen auszuführen, und so sehen wir denn am 12. Mai acht Bataillone im Anmarsch nach diesem Thale. Lebensmittel und Munition waren im Voraus von Landleuten nach den Pässen geschafft worden, die die Vorarlberger Schützen schon besetzt hielten, die Wege hatte man so gut als möglich für den Marsch der Truppen ausgebessert.
Drei Bataillone, verstärkt durch zwei freiwillige Schützencompagnien aus Vorarlberg, gingen am 13. Mai unter Generalmajor Jellachich nach den Maienfelder Alpen hinüber. Sie schlugen den Weg über die „Kellernen“ und durchs Engitobel hinab ein und bivouakirten dort in tiefem Schnee.
Die andern fünf Bataillone unter Generalmajor Hiller waren nach Seewis bestimmt. Sie werden also von St. Rochus aus der ersteren Colonne das Hauptthal gelassen und den nächsten Weg über das Seewiser Fürkli oder Salarueljoch nach Fasons eingeschlagen haben und kamen in der Mitternacht des 13./14. Mai in Ganey an. Die Ruinen des Schwefelbades legen von diesen Besuchern Zeugnis ab: wurde doch, wie man erzählt, in jener Nacht alles Holzwerk des Hauses losgerissen und zu Wachtfeuern für die frierenden Truppen verwendet.
Am Morgen des 14. Mai wurde zum Angriff geschritten. Jellachich detaschirte sechs Compagnien unter Führung von Major Eöttvös mit den oberständischen Freiwilligen durch das Glecktobel hinab, während er mit dem Gros, wie wir denken, den Jeninser Alpweg hinabstieg und Jenins und Maienfeld besetzte. Sowie Eöttvös derart seinen Rücken gedeckt wusste, griff er die mit zwei Bataillonen und acht Kanonen besetzten Schanzen von rückwärts an, drang trotz des Feuers der umgewandten Geschütze nach heftigem Kampfe ein und öffnete die Thore, durch die Hotze an der Spitze seiner Ulanen einritt. Die Luziensteig war wiedergewonnen; auf der freigemachten Strasse nach Graubünden rückte Hotze ein und vereinigte sich an der Landquart mit Jellachich und in Zizers mit der Colonne Hillers zum Vormarsch gegen Chur.
Hiller’s Colonne war von Ganey nach Seewis herabgekommen, hatte dort die Franzosen aus ihren Verschanzungen und dann aus ihrer zweiten Stellung bei der Schlossbrücke in der Klus geworfen; über das Schweizerthor, das St. Antönier- und Schlappiner-Joch kamen die andern österreichischen Colonnen ins Prättigau herab, und Dank der Uebereinstimmung all dieser Bewegungen waren alle im Prättigau befindlichen Feinde abgeschnitten und wurden 3000 Franzosen gefangen. – So gestalten sich die Bilder jener denkwürdigen Tage, wenn wir an Hand der Angaben der citirten Werke, sowie mündlicher Ueberlieferungen, dem Gange der Ereignisse im Terrain selbst folgen; ein lehrreiches Kapitel aus der Zeit, da fremde Händel zur Schweizergeschichte wurden, weil sie auf Schweizerboden zum Austrag kamen.
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, als wir unser Zelt abbrachen und der Tschingelterrasse zuschritten. Ein rechter Schattenwinkel, dieses Plateau; die Felsmassen des Tschingels wehren den Sonnenstrahlen das Eindringen und so ist es denn das ganze Jahr hindurch im Schnee, und nur am felsigen Rande ist Leben und in reicher Fülle blühen da Steinbrech und tiefblaue Gentianen, glühen die rothen Sternlein des Mannschilds und nickt die Glockenblume zwischen den Felsen. Aus dem lieblichen Thale von Gamperthon grüsst ein Theil der Häusergruppe von St. Rochus herauf; der „Nenzinger Himmel“ heisst dieses Sommerdörflein mit seiner Kapelle inmitten fetter Alpweiden.
Wir waren am westlichen Ende der Terrasse angekommen, da wo ihr felsiger Nordrand sich in den vom Naafkopf herunterkommenden Abhängen verliert. Ueber die rauhen Felsblöcke der „Platten“ und über kleine Schneefelder gings nun nach dem Sattel am westlichen Fusse des Tschingels. Dort zeigt eine Steinpyramide die Ländergrenze an, und durch das gemsenreiche Tschingelthäli gehts hier hinunter nach dem Heuberg und der Alp Fasons. Dem Grenzgrat westlich folgend, kamen wir bald zu der Uebergangsstelle „in den Kellernen“ (Kellern); eine Reihe von spaltenreichen Felsblöcken am Südrand des Grates tragen diesen Namen. Die Sage vom Wälschen, der sich hier reiche Schätze aus den Steinen geholt, spukt auch hier, wie so mancherorts in den Alpen.
Denn Gold in Menge liegt in unsern Bergen,
Nur weiss es nicht ein Jeder aufzuspüren
So gut wie jene klugen Venetianer.
Sie wühlen aus der Erde und sie schmelzen
Aus Kieselstein, und waschen aus dem Bachsand
Das gelbe Gold und schleppen’s in die Heimat.
(Baumbach)
So gut ging’s freilich den Prättigauern nicht, die – es ist noch keine lange Reihe von Jahren seither – hier oben nach Gold gruben. Nach vergeblichem Graben, Pickeln und Klopfen flog ein Käuzlein, durch den Lärm aus einer Felsspalte aufgeschreckt, an den Goldsuchern vorüber ins Freie; panischer Schrecken ergriff die Schatzgräber, die glaubten den bösen Geist zu sehen und Pickel und Hammer fallen liessen. Am Golde hängt, nach Golde drängt doch Alles – selbst auf hoher Alp.
Ueber steile Schutt- und Grashalden gelangten wir bald nach Jes hinab. Wie anders sah es hier aus, als vor einem Jahre, da der Schnee bis fast zu den Hütten herabreichte! Nun war keine weisse Stelle im ganzen Hochthal zu sehen, als dort oben rechts von der Scharte des Fürkli der „weisse Sand“, eine helle Schutthalde, nahe bei der „rothen Platte“, einer Felspartie von dunkelrother Färbung. Dort ist ein beliebter Standpunkt für Gemsjäger, und dort geht, bei Punkt 2498 der topographischen Karte, noch ein Pfad, der „schwarze Gang“, über die Grenze zur Vermalesalpe, ein Jägerweg, der die gute Eigenschaft hat, dass er ganz in der Nähe der Grenze der drei Länder ist und man von dort aus leicht das Gebiet wechseln kann, wenn es noth thut.
Ueber die im reichsten Blumenschmucke prangenden Wiesen gings nun wieder Stürvis zu, und auf dem bekannten Wege erreichten wir gegen Abend Seewis und das Hotel Scesaplana. Auf seiner Terrasse ruhten wir von unserer Passwanderung aus; ein Gewitter war über den Rhätikon heraufgezogen und im dumpfen Donnerrollen enthüllten die Blitze auf Momente in scharfen Contouren die schwarze Masse des Grenzgebirges.

Wir sind am Ende unserer Passtour angelangt und da drängt es uns, dem stillen, bescheidenen Freunde, der uns auf Schritt und Tritt begleitet und geführt hat, dem Blatt 273 der topographischen Karte unseren Dank abzustatten. Der militärische Nebenzweck unserer Wanderungen, die Recognoscirung der Grenzübergänge, brachte es mit sich, dass die Karten dieses Terrainabschnittes weit genauer studirt wurden, als dies ohne ihn geschehen wäre. Wir haben vom Falknis bis zur Scesaplana das Blatt 273 verifizirt und seine wahrhaft mustergültige Zuverlässigkeit in alle Details hinein constatiren können. Jeden Verbindungsweg von Alp zu Alp, jedes Wässerlein, jeden Felskopf, alle die Grenzübergänge (mit alleiniger Ausnahme des Pfades über die „rothe Platte“ ob Jes) finden wir angegeben. Schade aber ist es, dass Alles, was nicht schweizerisches Land ist, auf der Karte im unschuldigsten Weiss prangt, als ob beim roth und weiss angestrichenen Grenzzaun die Welt überhaupt aufhöre. Könnte man nicht die nächsten jenseitigen Wasserläufe einzeichnen, die Gebirgszüge wenigstens durch ihre Namen andeuten und die Passwege bis zu den ersten Ortschaften oder Alpen fortsetzen – ähnlich wie die Dufourkarte sogar weiter entfernte Striche jenseits der Grenze behandelt?
Die Weg- und Alpen-Angaben der österreichischen Karte im Gewirre ihrer Schraffen haben wir auf ihrem Gebiet ebenfalls vollständig zuverlässig gefunden; das Relief des Gebirges kommt dort allerdings lange nicht so zur Geltung, wie in unserer Dufourkarte; dagegen sind die Wegangaben sowie die Nomenclatur der letzteren in einigen Punkten nicht richtig.

(Quelle: Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. 21. Jahrgang, 1885-1886)

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