… führten mich endlich die sonnigen Tage des Herbstes in die heimatlichen Fluren des Prätigaus, das nie herrlicher prangt, als im Spätjahr, wenn das Schwarzgrün der Tannen und das helle Gelb der Lärchenwälder, der bunte Schmuck des Laubwaldes, der in allen Schattirungen vom lichten Golde bis zum dunkeln Purpur spielt, das Grün der Wiesen und das matte Braungrau der oberen Alpweiden, deren Sommergewand verblasst ist, sich mit dem weissen Schimmer der höheren Fels- und Schneeberge und dem Blau des Himmels zu einem Bilde von wunderbarer Farbenpracht vereinigen. Allerdings bringt der Herbst für den Bergsteiger den Nachtheil mit sich, dass die Tage schon recht kurz werden, aber für die meisten Touren in unserem gegenwärtigen Clubgebiete genügt auch ein kurzer September- oder Octobertag vollständig.
Es war der 21. September, als ich im Prätigau eintraf und für einige Ferienwochen meinen Aufenthalt in Schiers nahm, welches Standquartier allerdings sehr tief, nur 660 m über dem Meere, liegt, dafür aber die Annehmlichkeit bietet, dass man von da aus leicht in alle Theile des Rhätikon- und des Hochwanggebietes gelangen kann. Auch relativ entferntere Höhen, wie Madrisa, Weissfluh, Pischa etc., werden von hier aus bequem in einem Tage erstiegen, seitdem die Bahn Landquart-Davos dem Touristen auf dem Hin- und Rückwege die streckenweise langweilige und namentlich sehr zeitraubende Thalwanderung abnimmt.
… In warmem Sonnenschein, in sehr behaglicher Stimmung verweilte ich etwas mehr als eine Stunde auf dem Gipfel ((Madrisa)). Dann betrat ich den Grat, der zu Punkt 2817 hinführt, verliess denselben jedoch bald, um mich den Schneefeldern zuzuwenden, über die ich in sausender Rutschpartie in wenigen Minuten auf die Gafierplatten gelangte. Hier glaubte ich einen Schuss zu vernehmen, konnte aber trotz eifrigen Umherspähens den oder die Jäger – es war der letzte Tag der Hochjagd – nicht entdecken. Und doch hatte ich mich nicht getäuscht; wie ich nachher vernahm, hatten sich einige Nimrode von Luzein dieses Gebiet auserkoren und auch jener Schuss hatte sein Ziel nicht verfehlt. In raschem Schritte durcheilte ich die Gegend zwischen den Bändern und den Ausläufern der Plattenfluh, sowie das mir neue Gafienthal, dem ich gern mehr Zeit gewidmet hätte; doch ich musste eilen, wenn ich noch den Abendzug nach Schiers erreichen wollte. Etwas nach 4 Uhr betrat ich das sehr empfehlenswerthe Gasthaus der Frau Lötscher-Buol in Castels (St. Antönien), mir den Scheffel’schen Vers auf meine Art zurechtlegend: „Wär nicht ein Trost im Thal Veltlin, genannt der Valtelliner, Ich fluchte auf das Engadin und auf die Engadiner.”
An Unterhaltungsstoff mit der gesprächigen Wirthin fehlt es nicht. Jagd und Schmugglerwesen bringen auch im Herbst noch Leben in dieses abgelegene Thal, das jetzt freilich durch ein Strässchen mit Küblis verbunden ist. Das Hochwasser des Jahres 1890 hat aber diese Verbindung an mehreren, den Rüfen ausgesetzten Stellen bedenklich mitgenommen. Es ist in der That sehr zu bedauern, dass die Bewohner des Luzeinerberges sich nicht zu gemeinsamem Vorgehen mit den St. Antöniern und zur Führung der Strasse über das aussichtsreiche Pany aufraffen konnten, zumal letztere Route an landschaftlichen Reizen dem in der Tiefe dahinziehenden Schanielawege weit überlegen ist. Von dieser Aussicht sah ich freilich nicht mehr viel, als ich, in Pany bei schon eingebrochener Dunkelheit angelangt, den holperigen Weg nach Jenaz hinunter zurücklegte, der mir einige mit dem Beten in sehr entfernter Verwandtschaft stehende Ausrufe entlockte. Doch kam ich rechtzeitig unten an und die kurze Fahrt nach Schiers schloss den schönen Tag.
Schweizerthor und Drusenthor.
Auf allen meinen Herbsttouren hatte ich reichlich Gelegenheit, mich von den Verheerungen zu überzeugen, die die gewaltigen Regengüsse des letzten Sommers verursacht haben. Unberechenbaren Schaden haben Erdschlipfe angerichtet, selbst an Orten, die man in dieser Beziehung vollständig ungefährdet glaubte, wie z.B. in der Foppa unterhalb Fajauna bei Schiers. Es dringt davon nicht viel durch die Presse in die Oeffentlichkeit, weil eben nicht der einzelne Fall, sondern die Summirung all der zahllosen kleinern Verwüstungen den oben gebrauchten Ausdruck rechtfertigt. Und dazu ist darin eine weitere Gefahr für die Zukunft enthalten; denn Verbauungen werden vielerorts unterbleiben und jene gelben Furchen, deren Anblick den Beobachter schmerzlich berührt, können als Anfänge von Tobelbildungen verhängnissvoll werden.
Schuders, das diesfalls in sehr exponirter Lage sich befindet, ist noch ziemlich glimpflich davongekommen. Diesen Eindruck empfing ich wenigstens, als mein Weg mich am 3. October dort vorbeiführte. Heute ging’s dem Schweizerthor zu, das ich noch nie passirt. Der Uebergang ist durchaus nicht gefährlich; nur muss man keine Geniestreiche begehen wollen, wie ich, als ich, etwas rechts von der Zahl 1947 auf der Karte ausgehend, das Rasenbändchen direct erkletterte, über das der Weg eigentlich führt, wie dies die Karte auch richtig zeigt. Ich gelobte mir damals, keine solchen Abkürzungen mehr versuchen zu wollen. Einmal drüben, besichtigte ich, zum Oefenpass und von dort zu Punkt 2374 zwischen dem Oefenpass und dem Zernaierjöchl aufsteigend, die Drusenfluh. Dieselbe ist eine imposante Berggestalt und übertrifft an Kühnheit und Eleganz der Formen selbst den Alpstein und Panüeler Schroffen, so massig und compact dieselben auch der Tiefe entsteigen. Zwei Stellen bemerkte ich, die mir als Ausgangspunkte für einen Besteigungsversuch geeignet erschienen; doch hier überlasse ich das Feld Hrn. Imhof, der am folgenden Sonntage mit Führer Sprecher von Seewis auf neuem Aufstiege die von Schweizern bisher noch nie betretene Spitze erreichte. Für mich war es heute zu spät, auch nur einen Versuch zu wagen. Ich war Morgens erst um 7 ½ Uhr aufgebrochen, war ziemlich lange in der Gegend des Zernaierjöchls verweilt und hatte noch einen weiten Heimweg über das Drusenthor und das Garschinafürkli vor mir, der denn auch den Charakter einer wahren Hetzjagd annahm.
Um zum Drusenthor zu gelangen, hat man an Höhe ziemlich einzubüssen, vom Oefenpass aus circa 400 m; dann kann man in südöstlicher Richtung traversiren, statt bis zu den Hütten der Obersporn-Alp hinabzusteigen und von dort aus den gewöhnlichen Passweg zu benutzen; doch hat die Traverse des lästigen Krummholzes und der Schutthalden wegen wenig Werth. Eisjöchl, Zahn und Thurm bei demselben und die drei Thürme des östlichen Massivs, alle auf dem heutigen Wege sichtbar, geben der Gegend ein eigenartiges Gepräge und zeigen gar trotzige Formen. Wäre ich Zeichner, so müsste mir diese Partie unbedingt ins Jahrbuch. Um 4 Uhr stand ich auf der Sporrenfurka, wie das Drusenthor gewöhnlich auch im Prätigau genannt wird. Dieser Uebergang ist einer der interessantesten im ganzen Rhätikon und zeichnet sich in mehrfacher Beziehung aus, so durch seine Höhe (2350 m) und durch die Breite der Einsattelung. Während man bei der Passage des Schweizerthors erstaunt ein kleines grünes, quellenreiches Plateau betritt, bietet das Drusenthor ein erhabenes Bild des Todes; das Geröll lässt hier keine Vegetation aufkommen. Die charakteristischen Zahn- und Thurmformen fehlen auch dem eigentlichen Passgrate nicht; doch ist der Uebergang sehr leicht und erfordert durchaus kein Klettern. In der Umgebung findet man neben dem gewöhnlichen hellgrauen Kalk auch den rothen Seewerkalk stark vertreten. Auf der Nordseite erinnern muldenförmige Vertiefungen einigermassen an den Grubenpass. Das Drusenthor, sowie die Drusenfluh und ein Theil der Sulzfluh sind vom Bahnhof Schiers aus sichtbar, und diese prachtvolle Partie erregt die Aufmerksamkeit aller Eisenbahnfahrer, die sich um die Gebirgswelt interessiren. Wundervoll präsentirt sich dieselbe beim Sonnenuntergang, wenn die hellen Kalkwände, nachdem die Vorberge schon im Schatten liegen, noch lange in rothgoldenem Lichte strahlen.
Auf der Südseite ist der Abstieg nach der Schierser Alp Drusen der vielen Steintrümmer wegen etwas beschwerlich, und da der Alpweg nach Schuders bei mir überhaupt nicht in besonderer Gunst steht, so eilte ich über das Garschina-Fürkli und die gleichnamige Alp hinunter nach St. Antönien. Nach kurzem Aufenthalt im dortigen Gasthause trottete ich durch das an vielen Stellen gänzlich ruinirte Strässchen im Dunkel hinaus nach Dalfazza und Küblis, wo der 7 Uhr-Zug meine heute ziemlich strapazirten Glieder aufnahm.
Versuch auf die Kirchlispitzen.
Am 10. October vollführte ich eine ähnliche Passwanderung, wie eine Woche früher, aber mit einem anfänglich nicht beabsichtigten Abstecher. Morgens 7 Uhr Schiers verlassend, stieg ich, Schuders rechts liegen lassend, zum Schuderser Maiensäss auf und gelangte so auf jenen schönen grünen Rücken, der sich vom Gyrenspitz herunterzieht. Derselbe ist auch vom Thale aus sichtbar und wird gewöhnlich schlechthin „Berg” genannt. Er wird mit mehreren Hundert Stück Galtvieh befahren und ist Eigenthum der Gemeinden Schiers und Grüsch, welche darüber in einen ziemlich complicirten Process gerathen sind. Wer von Schiers aus das Cavelljoch erreichen will, wie es heute in meinem Plane lag, dem ist unbedingt zu rathen, die genussreiche, leichte Wanderung über den „Berg” sich nicht entgehen zu lassen. Lohnend ist schon der Anblick der langen, fast senkrecht aufsteigenden Drusenfluh mit den Pässen links und rechts, welches Stück der hier schon prächtigen Aussicht den Wanderer am meisten fesselt. Auch erhält man hier einen guten Einblick in die tief eingeschnittenen Tobel des Salgina- und Schraubaches. Mir weckte die Gegend mancherlei Jugenderinnerungen. Lächelnd dachte ich daran, wie ich einst in meinen Knabenjahren, als Hirtlein bei einem Bauer verdingt, die Aufgabe erhielt, allein von Landen (hinter Schiers) aus fünf Stück Jungvieh auf den „Berg” zu befördern, der mir damals noch terra incognita war. Ich trat die Fahrt mit meinen Schutzbefohlenen in ähnlicher Stimmung an, wie wenn etwa ein Forscher eine Expedition in den dunkeln Welttheil unternimmt, jedoch mit dem Unterschiede, dass mein Bauer mir den Weg auf ein Blatt Papier vorgezeichnet hatte. Glücklich entledigte ich mich meines Auftrages und pries von Herzen das Salz als unschätzbares Lockmittel für die muthwilligen „Galti”.
Auch der aus der Tiefe heraufgrüssende Maiensäss Salgina, wo ich manche Nacht zugebracht, erinnerte mich an die Zeit, da ich als sogenannter Herbsthirt mit dem Stecken meines Amtes waltete. Wenn nämlich das Vieh von den Alpen abgetrieben worden ist, so beginnt noch nicht sofort die Stallfütterung, sondern es kommt dann zunächst auf die Grummetweide der Privatgüter, wo es natürlich der Aufsicht eines Hirten unterstellt sein muss. Zu diesem Zwecke dingt der Bauer, wenn er nicht eigene Kräfte zur Verfügung hat, einen Knaben, meistens aus der ärmern Classe der Bevölkerung, die kein Grossvieh besitzt. Der Dienstherr, bei uns „Patrun” genannt, gibt seinem Angestellten Kost und Logis. Klingenden Lohn erhält der Herbsthirte nicht, dafür aber ein derbes Paar Schuhe. Die Dienstzeit dauert vier bis fünf Wochen und ist eine Art Nomadenleben. Jeder Bauer besitzt nebst dem eigentlichen Heimwesen noch mehrere Güter, die oft stundenweit von seinem Wohnsitze entfernt sind und deshalb eigene Gebäulichkeiten, einen langen Stall mit angebautem Hüttchen, aufweisen. Daher rührt es auch, dass, wie Sererhard sagt, selten ein anderes „Land” so viele Dächer zeigt, wie das Prätigau. Die braunen Holzbauten sind oft sehr malerisch gelegen und muthen Einen heimelig an. Je nach der Grösse des Gutes und der Menge der vorhandenen Herbstweide wird nun das Vieh nach der Alpentladung 8 bis 14 Tage hier gehalten. Dann wird „gezückt”, d.h. der Eisenkeil der Viehkette mit eigens hiezu construirtem Hammer aus dem Holze herausgetrieben, und fort geht’s auf einen andern Maiensäss. So gelangt man nach und nach zum „Heimet” des Bauers. Mangel an Weide oder das Eintreten rauher Witterung bannen dann das Vieh Ende October in den Stall, und der Herbsthirte wird überflüssig. Kalte, neblige Tage ausgenommen, hat er ein zufriedenes, glückliches Dasein hinter sich. Mir gefiel dieses Leben so wohl, dass ich einst, als das Winterschulsemester schon begonnen hatte, das Hüten aber noch nicht beendigt war, nicht einrückte und mein Vater mich vom obern Busserein herunterholen musste mit der mir schrecklichen Drohung, ich dürfe sonst die Seminar-Uebungsschule nicht mehr besuchen!
Im hintern Theile des Schraubachgebietes liegen die Hauptwaldungen der Gemeinde Schiers, von denen namentlich Sunni- und Liziwald zu erwähnen sind (Liziseite heisst so viel als Schattenseite). Man trifft in ihren untern Regionen häufig noch Buchen; sonst aber bestehen diese Wälder aus prachtvollen hochstämmigen Tannen. Das Holz muss durch Flössen ins Thal hinausbefördert werden. Eine Ausnahme macht man beim Bauholz, den „Blöckern” oder „Tütschi”, deren Transport meist im Winter auf dem mit vieler Mühe practicabel gemachten Schlittwege vor sich geht. Wege im eigentlichen Sinne des Wortes führen nicht in diese Wälder, und ich wage nicht zu entscheiden, ob die enormen Baukosten und namentlich der äusserst kostspielige Unterhalt eines Strässchens durch den hieraus resultirenden Mehrwerth des Holzes aufgewogen würden. Das Flössen lässt das Holz an Werth verlieren, ist bei niedrigem Wasserstande höchst mühselig, bei höherm gefährlich und mit viel Risiko verbunden. Tritt während dieser Arbeit Regenwetter ein, so sieht sich der Flösser meistens um die Früchte seines Fleisses betrogen. Der sogenannte „Ueberschlag”, eine Art Schwellvorrichtung, durch welche das Holz aus dem Schraubach in den Mühlbach geleitet wird, wo es als gesichert zu betrachten ist, fällt dem furchtbar angeschwollenen Gewässer fast regelmässig zum Opfer, und die schönen „Spälten” schwimmen dann der Landquart zu, die sie theils an den Ufern und auf den Zwischensändern liegen lässt, zum grössten Theile aber mit sich fortnimmt. Auf diese Weise gingen z. B., als der Kirchwald am Stelserberg oberhalb Schiers abgeholzt wurde, in einer einzigen Nacht weit über hundert Klafter verloren. Zu solchen Zeiten haben die Bewohner des Rheinthals bis hinunter zum Bodensee Gelegenheit zu einer Art natürlich gerechtfertigtem Strandraub und eilen dann in hellen Haufen an den Strom, um das aus dem Kanton Graubünden herabgeschwemmte Holz aufzufischen.
Das Salginatobel ist weniger weitläufig und ärmer an Waldungen, von denen grosse Strecken gelichtet wurden, um Weide zu gewinnen; daher die „Schwendi” unterhalb Salgina. Die einschliessenden Bergabhänge sind theilweise sehr steil, und wer einmal in die Lage kam, in solchen Seiten herumzuklettern, die mit ihrem faulen, weil leicht verwitternden Schiefer ganz verwünschte Schwierigkeiten bieten, wird dieselben in Zukunft gerne vermeiden. Betrachtet man die Seitentobel und Rüfen, deren namentlich das Salginatobel viele aufweist, die aber auch dem eigentlichen Schraubach durchaus nicht fehlen, so wundert man sich nicht, dass letzterer bei anhaltendem Regenwetter so dunkle, schlammige Fluthen daherwälzt und sein Wasser zur Bodenanschwemmung für die verwüstete Thalsohle zwischen Schiers und Grüsch verwendet werden kann. Gewöhnlich aber ist der Salginer wasserarm und das Flössen dann höchst beschwerlich, was wir vor bald zehn Jahren selbst zu erfahren Gelegenheit hatten. Mehrere Tage waren wir, unserer Drei, in jenes Tobel hineingewandert, hatten schliesslich einige Klafter Holz aufgerüstet und vertrauten dieses dem Wasser an. Das Flössen ging verzweifelt langsam vor sich, so dass Freund M. ergrimmt ausrief: „Bis jedä Broch ä paar tusig Stüpf hed, will är nid ab Fläck.” Lebhaft wünschten wir mehr Wasser, das uns denn auch noch zu Theil werden sollte. Am Morgen des dritten Tages gelangten wir endlich in den Schraubach. Ein leichter Regen, anfänglich nicht ungern gesehen, hatte sich eingestellt, wurde aber immer intensiver und spornte uns zu angestrengtester Thätigkeit an, da der Bach sichtlich anschwoll. Schon waren wir in der Nähe des Dorfes, an der Stelle, da der Mühlbach abzweigt, in den wir noch etwa die Hälfte unseres „Flotzes” befördern konnten; dann aber riss das tobende Gewässer den „Ueberschlag” weg; die andere Hälfte schwamm auf Nimmerwiedersehen der Landquart zu, und wir selber kamen beim Uebersetzen auf das rechte Ufer in Lebensgefahr. Unser „Lentimahl” fiel nicht gerade grossartig aus.
Doch ich wollte ja eigentlich von meiner Wanderung reden; der Blick nach Salgina hinunter trägt die Schuld an der kleinen Abschweifung. Den „Berg” verlassend, gelangt man mit leichter Mühe über einige Tobel in die Gegend des „Steinhüttli” und von dort in nordwestlicher, fast horizontaler Richtung auf die Wasserscheide zwischen Cavell- und Valserbach. Wie auf der Karte der Name „Goldrosenhütte” sich einbürgern konnte, ist mir unerklärlich; bei uns wird der dortige Uebergang immer „auf Colrosa” oder „Calrosa” genannt, mit deutlicher Betonung der zweiten Silbe. Bis hinauf zur Höhe des Cavelljoches ist’s noch eine Viertelstunde; es war 11 ½ Uhr, als ich dort oben ankam. Zunächst genoss ich mit Musse das schon oft gesehene, aber immer wieder mit neuem Zauber fesselnde Bild des Lünersees mit seiner grossartigen Umgebung. Auch der kecken Zimbaspitze, die von jeder Seite ihrem Rufe Ehre macht, galt meine Aufmerksamkeit. Dann erfrischte ich mich gründlich, worauf es an eine Besichtigung des Absturzes der Kirchlispitzen zur Passhöhe ging. Doch erhielt ich bald den Eindruck, dass hier an einen Aufstiegsversuch nicht zu denken sei. Als ich mich zufällig umwendete, sah ich drei Gestalten von der Schweizerseite her das Cavelljoch betreten. Jede hatte einen ziemlich schweren Sack auf dem Rücken, welche Last eilig niedergeworfen wurde. Hierauf lagerten sich die Männer behaglich im Sonnenschein. Bald dämmerte mir ein Licht auf, auf was für Wegen sie sich befinden möchten, und da es mir nicht unerwünscht war, einmal mit Schmugglern, vulgo „Cuntrbändlern”, zusammenzutreffen, so verfügte ich mich zu ihnen hinüber. Meine Frage, ob sie Geschäfte in Kaffee machten, bejahten sie lachend. Einmal ins Gespräch gekommen, waren wir bald in gemüthlicher Unterhaltung begriffen. Sie kamen durch das Valsertobel von Seewis, und Jeder hatte 25 kg Kaffee geladen, welcher Artikel schwunghaft hinübergeschmuggelt wird. Von meiner Unverdächtigkeit hatten sie sich bald überzeugt, und so erfuhr ich denn interessante Einzelheiten über die Art und Weise, wie sie den, nicht der Bodenbeschaffenheit, wohl aber der „Finanzer” wegen gefährlichen Abstieg bewerkstelligen wollten. Was für Kniffe zur Irreführung der Grenzjäger angewendet werden, setzte mich in Erstaunen; selbstverständlich mache ich aber hier von den Enthüllungen keinen Gebrauch. Der Aelteste von den Dreien schien mir ein besonders geriebener Patron zu sein. Kräftig und gewandt, intelligent, mit ziemlichen Kenntnissen von Land und Leuten hüben und drüben, eignet derselbe sich wohl zur Einweihung jüngerer Genossen in die Geheimnisse dieser „freien Kunst”. Wohlgefällig erzählte er mir, wie er einst mit seiner Familie in Nationaltracht eine Schweizerstadt besucht, dort die Aufmerksamkeit der Bewohner auf sich gezogen habe und, mit Empfehlungen eines Prätigauers versehen, an verschiedenen Orten zuvorkommend aufgenommen worden sei. Mit Interesse betrachtete er die Excursionskarte des S.A.C. und war, wie seine Gefährten, sichtlich überrascht, den Lünersee hier so gross und formgenau zu finden. Hier erfuhr ich auch, was mir übrigens schon Hr. Imhof mitgetheilt hatte, dass der Uebergang von der Lüneralp zum Schweizerthor nicht Nerrajöchl, sondern Verrajöchl heisst; denn die Gegend bis hinauf zum erwähnten Joche bezeichneten sie auf meine Frage als Verraalp. Beiläufig bemerke ich, obwohl es eigentlich nicht hieher gehört, dass die Alp nordwestlich vom Bettlerjoch, im hintern Theile des Saminathales, welche die Excursionskarte Pritschalp nennt, richtig Gritsch heisst. Es ist dies dieselbe Alp, in welcher vor einigen Jahrzehnten eine Gesellschaft von Bündner-Jägern, die im Liechtensteinischen wilderten und gar zu sorglos in der Gritschhütte übernachteten, durch von Vaduz herbeigerufenes Militär umstellt und gefangengenommen wurde, bei welchem Anlasse einer der Jäger erschossen wurde.
Nach gut dreiviertelstündiger Rast schickten sich meine Gesellschafter an, aufzubrechen. Ich stieg mit ihnen gegen den See hinab, nahm dann Abschied und schwenkte, nachdem ich schwach 200 m an Höhe verloren, dem Verrajöchl zu. Besonders aufmerksam betrachtete ich heute die Kirchlispitzen. Dieselben sind eine interessante Erscheinung und zeigen einige Aehnlichkeit mit den Saxerköpfen in der Säntisgruppe. Sie würden entschieden imponiren, ständen sie nicht zwischen Scesaplana und Drusenfluh. Von einer Besteigung der höchsten Spitze ist nichts bekannt, da die geringe Höhe (2555 m) und die dem Anschein nach zu erwartenden Schwierigkeiten jedenfalls nicht zu einem Besuche ermunterten. Die Felswände fallen auf der Schweizerseite fast senkrecht ab und stellenweise auch auf der Nordseite; doch finden sich hier auch ziemlich lange und breite Halden von mässiger Steigung, dem Untenstehenden der nächsten Felsen wegen theilweise nicht sichtbar und auf der Karte nicht mit genügender Genauigkeit zu erkennen. Wie ich nun längs der untern Felspartien des westlichen Theiles dahinwanderte, gelangte ich zu einer Geröllhalde, die ziemlich weit hinauf das Vorwärtskommen zu gestatten schien. Diese Halde mag ungefähr da ausmünden, wo auf der Karte im Wort „Kirchlispitzen” das p steht. Sie begann oben am Fusse einer kühn geformten Pyramide, die jedes weitere Vordringen in dieser Richtung hemmen musste, und die ich irrthümlich für die höchste Spitze oder doch derselben sehr nahestehend hielt. Ich beschloss, einen Versuch zu wagen; denn ich glaubte ein schmales Bändchen zu bemerken, das, westwärts laufend, mich auf die Felsen führen konnte, unter denen ich in der Alp gewandert und über welchen ich eine Art Plateau vermuthete. Ohne Schwierigkeiten gelangte ich hinauf unter die Felswand, wo sich eine Höhle befindet, die aber nicht einmal 10 m tief in den Felsen hineinführt. Dort verliess ich den Schuttkegel, dessen oberer Theil mit festgefrornem altem Schnee bedeckt war, welchen ich, trotz der Steilheit des Gehänges, leicht hatte passiren können. Nun musste nach Westen abgeschwenkt werden. Was mir, von unten gesehen, als schmales Bändchen vorgekommen war, erwies sich jetzt als eine theils mit Geröll, theils mit Schnee bedeckte und mit felsigen Stellen durchsetzte Halde, über welche ich, nicht ohne einigemal umkehren zu müssen, zu einer Art Gemstobel à la Sulzfluh gelangte, durch welches der weitere Aufstieg ohne besondere Beschwerde vor sich ging; doch war beständig Vorsicht nöthig, da zu dieser Jahreszeit auf der Schattenseite immer verschiedene ungünstige Factoren zusammenwirken. Der Schnee war sehr hart, das Geröll fest zusammengefroren; ein Ausgleiten musste schlimme Folgen haben, wie ich an einigen versuchshalber losgelassenen Steinen beobachtete. Am schwersten waren übrigens die felsigen Stellen zu überwinden, dieselben waren wie mit Glasur überzogen, was wahrscheinlich von einer minimen Schicht frischen Schnees herrührte. Früher als ich’s gedacht, erreichte ich indessen, nun in südlicher Richtung wandernd, den von Westen nach Osten streichenden Grenzkamm, und zwar auf einer Einsattelung zwischen den Spitzen 2555 und 2541, der letztern etwas näher liegend. Diese Einsattelung mag nach meiner allerdings sehr oberflächlichen Schätzung etwas unter 2500 m Höhe haben. Hier spendete mir die Sonne wieder ihre wärmenden Strahlen, und während einer kurzen Rast genoss ich die hier natürlich nicht umfassende Aussicht, die aber das Auge dennoch fesselt durch den Blick über die hohe Felswand hinunter auf Vorder- und Hinterälpli. Dann aber galt es zu entscheiden, auf welche Seite ich mich wenden wollte. Westlich schien der Grat leicht Punkt 2541 gewinnen zu lassen; in ostnordöstlicher Richtung hatte ich die vorher erwähnte Pyramide vor mir, der ich schliesslich den Vorzug gab; denn wenn ich auch jetzt schon stark bezweifelte, dass sie die höchste Erhebung bilde, so konnte doch von dort aus vielleicht die oberste Spitze, Punkt 2555, erreicht werden. Von der Einsattelung führt ein nicht sehr einladend aussehender Grat hinüber, nach der Nordseite mehrere kleinere Kamine entsendend, die zwischen kleineren Felsköpfen ihren Anfang nehmen. Theils über letztere, theils mit Benutzung des obersten Theils der Kamine gelangte ich leidlich bis fast auf die vermeintliche Spitze; aber wenige Meter unter derselben vermochte ich nicht mehr weiter zu kommen, nicht wegen der besondern Steilheit, sondern weil dem obersten höckerartigen Theile die Vorsprünge und Zacken fehlen, die mir bisher guten Stand und Griff gewährten. Ein gewandterer Kletterer hätte die Schwierigkeiten jedenfalls überwunden; ich wagte es nicht. Es war aber auch kein besonderes Interesse mehr vorhanden; denn von meinem Standpunkte aus erblickte ich nun deutlich, etwa 200 m östlich, den Punkt 2555. Von meiner Pyramide aus, die übrigens diese Benennung nur von Nordwesten aus rechtfertigt, führt ein, wie mir schien, nicht sehr schwieriger Kamm fast horizontal zum Gipfel hinüber. Auf Schweizerseite läuft unter demselben in gleicher Richtung ein schmales Bändchen, dürftige Vegetation aufweisend, nach Süden in schwindlige Tiefe abfallend. Ich betrat dasselbe; aber es lief aus, bevor ich mich auf den wenig höhern Hauptkamm schwingen konnte, und ich war zur Umkehr gezwungen. Jetzt war mir zum ersten Mal etwas bänglich zu Muthe, denn noch stand mir das viel schwierigere Hinabklettern auf die Einsattelung bevor. Doch da half kein Zagen; nach kurzer Pause machte ich mich ans Werk. Ich war froh, heute noch keine geistigen Getränke genossen zu haben; dagegen verwünschte ich meinen Tornister, der mich auf alle erdenkliche Weise hinderte, und auch mein kurzer Stock ohne „Cuspe” war mir nur lästig. Tief aufathmend, erreichte ich endlich nach 20 Minuten aufregender Anstrengung den Sattel, wo ich neue Pläne schmiedete. Noch war es möglich, die westliche Spitze zu gewinnen, die scheinbar weniger Schwierigkeiten bot; aber ein Blick auf die Uhr zeigte mir, was zu thun sei. Es ging auf 3 Uhr; an einen directen Abstieg auf Schweizerseite war nicht zu denken und der weite Heimweg über Verrajöchl und Schweizerthor erforderte mindestens vier Stunden; Mondschein war nicht zu erwarten. Rasch formirte ich statt eines Steinmannes einen Kreis von Steinen und stieg dann vorsichtig zur Verraalp hinunter. Spuren eines früheren Aufstieges konnte ich nirgends finden; merkwürdigerweise entdeckte ich auch keine Gemsenspuren. Den Aufstieg bis zum Sattel kann ich auf Blatt Bludenz und Vaduz der österreichischen Generalstabskarte 1:75000 entschieden besser verfolgen, als auf der Excursionskarte. Obwohl erstere sonst zu unseren Siegfried-Blättern einen ähnlichen Contrast zeigt, wie ein guter Holzschnitt zu einem fein colorirten Bilde, zeichnet sie sich doch vielerorts durch vortreffliche Wiedergabe der Details des Terrains aus.
Der weitere Heimweg, der in beschleunigtem Tempo vor sich ging, bietet wenig des Erwähnenswerthen. Auf dem Verrajöchl angelangt, sah ich so recht, wie unüberlegt und planlos ich vorgegangen; denn wenn Punkt 2555 erstiegen werden soll, so geschieht es jedenfalls am leichtesten von hier aus, was ich freilich vorher nicht wissen konnte, da ich noch nie dieses Joch passirt hatte. Beim Schweizerthor unterliess ich heute jeden Abkürzungsversuch und benützte wohlweislich das Rasenband. Es dämmerte bereits, als ich auf dem nicht endenwollenden Alpwege gegen Schuders hinauswanderte. Dann hatte ich noch das Vergnügen, in ägyptischer Finsterniss die steile Cresta hinabzustolpern, von welcher der Sage nach der Teufel, als er sie hoch in der Luft gegen Schuders hineintrug, schon auf Busserein ein Stück verloren haben soll, was mir beim „Stutz” in der dortigen Gasse sehr glaubwürdig erschien. Um 7 ½ Uhr langte ich in Schiers an und verabredete noch am gleichen Abend mit zwei Clubgenossen eine Scesaplana-Fahrt, die denn auch, begünstigt vom prachtvollsten Wetter, am folgenden und nächstfolgenden Tage ausgeführt wurde und den Reigen meiner Wanderungen im Jahr 1890 in würdiger Weise schloss. Möge das Clubgebiet auch im Jahre 1891 seine Anziehungskraft bewähren und jedem Wanderer so helle Witterung beschieden sein, wie sie mir der Herbst 1890 bot!
Zum Schlusse erwähne ich noch, was mir auf meinen Streiftouren an Wild zu Gesichte gekommen ist. Da will ich vorerst bemerken, dass sich mir, trotzdem ich während dreier Wochen fast alle Tage ausrückte, auch nicht eine Gemse zeigte. Nicht etwa, dass sie so selten wären; aber die Tageszeit, in welcher ich die höhern Regionen erreichte, war in dieser Beziehung meist ungünstig. Die einzigen lebenden Gemsen, die ich im Excursionsgebiete je beobachtete, waren Waldthiere, welche öfters auf eine Wiese im Landquartberg gegenüber Schiers zur Weide herunterkamen, dorthin, wo auf der Karte die Zahl 855 steht. Längere Zeit konnte man dieselben vom Dorfe aus regelmässig Morgens und Abends sehen. Murmelthiere hörte ich viele und sah auch mehrere hinter der Drusenfluh. Acht Tage später, als ich die Kirchlispitzen besuchte, hörte ich ihre schrillen Pfiffe nicht mehr, obwohl sie in dieser Gegend sehr häufig sind. Wahrscheinlich hatten sie sich schon zurückgezogen, und wohl aus dem gleichen Grunde vermisste ich sie am 5. October an der Weissfluh, wo sie ebenfalls zahlreich vorkommen. Die Murmelthiere werden im Prätigau „Murmandä” oder „Murmändä” genannt, was der bekannten Ableitung von den Stämmen „mur”, resp. „mus” und „montan” entspricht. Der schönste Anblick wurde uns aber auf einer Tour nach Tschagguns zu Theil: auf der Tilisuna-Alp sahen wir vier Hirsche, die nicht gar eilig gegen Verspalen hinaufzogen, um dann, wahrscheinlich gegen die Sporn-Alp, zu verschwinden. Dieses edle Wild ist auch auf der Südseite des Rhätikon nicht ganz selten. Vor drei Jahrzehnten galt es im Prätigau fast als ausgestorben; nur wie eine Art Sage erzählte man sich, noch lebe „im Tobel drin” ein altes Exemplar von ausserordentlicher Grösse. Allgemein war man daher überrascht, als es Anfangs der siebenziger Jahre einem Jäger von Furna gelang, in einem strengen Winter einen prachtvollen Hirsch lebendig zu fangen. Auf den Märkten war das Wunderthier um Geld zu sehen, und auch ich bezahlte damals meinen Zehner, um es anzustaunen. In den letzten Jahren wurden in jeder Jagdsaison mehrere Hirsche geschossen. Manche der erlegten Exemplare habe ich selbst gesehen, darunter ein von dem tüchtigen Bussereiner Jäger David Willi geschossenes Prachtsthier von fast 200 kg. Gewicht.
Für die Armuth an Hasen mag der Umstand zeugen, dass ich nur eines einzigen ansichtig wurde. Allerlei Raubvögel, Steinadler, Falken, Weihen u.s.w., setzen dem Kleinwild furchtbar zu. Auerhahn und Birkhahn, die ich sonst etwa auf der Höhe des Landquartberges beobachtete, erblickte ich dieses Jahr nicht, ebenso wenig die schönen Pernisen oder Steinhühner, die mir früher hie und da begegnet waren. Schneehühner sah ich ziemlich zahlreich beim Drusenthor, an der Scesaplana dagegen nur ein einziges Exemplar. Ein drolliger, gar nicht scheuer Cumpan präsentirte sich mir auf der Alp Ober-Larein am Glattwang, nämlich der Tannenhäher, den ich viele Jahre im Prätigau nicht mehr beobachtet hatte.
Diese dürftigen, unzusammenhängenden Bemerkungen sollen nicht etwa zu einem Schlusse auf den Wildstand berechtigen; mit letzterem müsste es in diesem Falle sehr schlecht bestellt sein, was übrigens theilweise auch zutrifft, namentlich für das Gebiet des Rhätikon. Doch ist hierbei nicht zu vergessen, dass der flüchtige Tourist Manches unbeachtet lässt, was dem geschärften Auge des erfahrenen Jägers oder Naturforschers nicht entgeht.
(A. Ludwig, Section Scesaplana)
(Quelle: Jahrbuch 1890)