In der Churfirsten-Alvierkette

… Fährt man etwa zur Zeit der Schneeschmelze oder nach ausgiebigem Regen von Weesen nach Walenstadt, so fesselt der Absturz der Churfirsten dermassen den Blick, dass man für anderes schwerlich Augen hat. Zahlreiche Wasserfälle flattern in silberweissen, schäumenden Bändern über die hohen Felsen hinunter, und darüber tront in unbeschreiblichem Reiz die malerische Zackenreihe der Kreidegipfel. Schon vom Thall aus erkennen wir die Schichten; wir sehen den Seewerkalk der westlichen Gipfel verschwinden, bewundern die mächtige Schrattenkalkwand des breiten Brisi, den kühngebauten Zustoll mit seinem fast in Form eines Kreissegmentes angeschnittenen Käppchen von Aptien,, sodann die gewaltige, gleichsam behaglich in träger Ruhe daliegende Masse des Hinterruck-Rosenboden, welchen Gebirgsteil die Flumser Clubisten scherzhaft die «Lokomotive» nennen (das Kamin ist der trotzige Tristenkolben), wir erkennen den Südwestanschnitt der Glatthaldenfalte und verfolgen immer wieder mit Staunen die prachtvolle Muldenbiegung des Sichelkammes. …
(Quelle „Bericht über die Thätigkeit der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft während des Vereinsjahres 1894/1895“ St. Gallen. Zollikofer’sche Buchdruckerei, 1896)

… denn was ich bieten kann, ist keineswegs ein geologischer Vortrag, sondern mehr nur ein Konglomerat von Bemerkungen über ein Gebiet, das ich allerdings mit Vorliebe begangen habe. …Diese Gegend ist von hohem Interesse für den Botaniker, wie für den Geologen; nicht weniger befriedigt wird der Wanderer sein, welcher nur schöne Aussicht geniessen will. Auch der Freund des Klettersports findet hier Felsgerüste für seinen Thatendrang, und nur der Gletschermann wird seine Tummelplätze vermissen. …

Die Churfirsten-Alvierkette ist ein typisches Kalkgebirge. Da wechseln harte, feste Kalke mit weicheren, leicht verwitternden tonigen und mergeligen Schiefern. Der reiche Wechsel von verschiedenen Gesteinsstufen macht sich schon in der Terrassierung des Gehänges bemerkbar. Die harten Kalke bilden hohe, steile Wände; die weicheren, schiefrigen Schichten dagegen ertragen nicht so steile Böschung; als sanfter geneigte, mit Vegetation oder Schutt bedeckte Verwitterungsterrassen treten sie im Profil des Berges hervor, das sich als eine gebrochene Linie darstellt. Die Verwitterungsterrassen sind, im Gegensatz zu den Erosionsterrassen, niemals horizontal. Der Bergbewohner braucht für sie die Namen «Gang, Band, Schnur» etc. Daher rühren Bezeichnungen, wie «schwarzer Gang, roter Gang, schwarze Schnur, Rosschnur, in den Schnüren, auf den Bändern». Für die Erosionsterrassen findet man dagegen, jedoch ohne dass hier eine strenge Unterscheidung geübt würde, mehr die Namen «Boden, Bödeli, auf dem Stein» etc. …

Das Gebirge ist ausgezeichnet durch seine sehr bedeutende relative Höhe. Aus der Region des Maises und des Weinstocks schwingt es sich auf zu den mit alpiner Flora gezierten Gebirgskämmen, die in ihren höchsten Erhebungen (Faulfirst und Gemsberg) die Ebene des Rhein- und Seezthales um 1900m überragen. …

Das Wandern auf Karren ist überhaupt ziemlich unangenehm und mitunter gefährlich. Auf der einförmigen, im einzelnen aber unendlich vielgestaltigen Fläche geht’s fortwährend auf und ab, oft kriechend und kletternd, hie und da auf dem glatten Fels ausgleitend und sich die Hände verletzend oder auf schwankendem Polster durchbrechend und mit einem Bein in tiefer Spalte stecken bleibend. Dennoch wird man es nicht bereuen, einmal ein richtiges Karrenfeld besucht zu haben. Kleinere Karrenfelder liegen zwischen einzelnen der Churfirsten; dasjenige von Neuenalp ist aber von viel bedeutenderer Ausdehnung. … Die Karren werden auch Schratten genannt. Der Werdenberger nennt sie «Schrannen». … Das Karrenfeld und damit auch den Schrattenkalk verlassend, schreiten wir über unschwierige Gaultfelsen, die uns schon von weitem durch ihre bräunliche Färbung auffallen, hinauf auf eine sanft geneigte Fläche. Sie geht nach und nach in ein grosses Plateau über, das begrast ist und als Schafwiese dient. Dieser Gamserruck oder Gamsberg der Grabser darf wohl als eine sehr merkwürdige Bergform bezeichnet werden. Nicht leicht wird man in den Alpen in dieser Höhe (2060 Meter) ein so mächtiges Plateau als selbständigen Gipfelbau finden. Es hat fast elliptische Form und fällt als trotzige Feste in Felsstufen und Rasenbändchen nach allen Seiten steil ab, mit Ausnahme der Nordseite, wo es sich als Rücken über die Alp Gams gegen das Toggenburg hinunter senkt. …. Vom Gamserruck gelangt man über einen steilen, aber reichlich begrasten Abhang hinunter auf den Sattel zwischen Plisen und Schlewiz, dann aufwährts über das sanft ansteigende Gaultgelände des Schlachtbodens* an den Fuss der Rosenbodenfluh. Die Felsenwand, vor der wir jetzt stehen, lässt sich an mehreren Stellen leicht erklettern; sie ist gut gestuft und nicht so steil, wie sie aussieht. Nachdem wir sie bewältigt, stehen wir auf dem Rosenboden, einem langen, ziemlich breiten Grat mit üppigem Rasen. Dieser Grat erstreckt sich vom Kaiserruck bis zum Tristenkolben, einem trotzigen, plumpen Felskegel, der nach Osten steil in grosse Tiefe abfällt und von dieser Seite einen bemerkenswerten Eindruck macht. Der Rosenboden, den man übrigens gewöhnlich zum Kaiserruck rechnet, gewährt eine prachtvolle Aussicht, welche zwar etwas beschränkter, aber nicht weniger anziehend ist, als diejenige vom Alvier. … In dieser Gegend geriet A. Escher einst in eine rechte Klemme. Am 3. Oktober 1854 stieg er allein von Wallenstadt über den Lösispass und verwendete den ganzen Tag zur Aufnahme eines Profils des Tristenkolben und der Rosenbodenfluh. Am Abend wurde er von einem gewaltigen Gewitter überrascht und suchte am Gamserruck vorbei durch das Karrenfeld der Plisen herunterzukommen, fand sich aber in dem Chaos dieses wilden Karrenfeldes, in der merkwürdigen, an einen nordamerikanischen Canon erinnernden Schlucht fast nicht zurecht und gelangte erst in der Nacht, gründlich durchwaschen, nach Unterwasser. …

*An den Schlachtboden knüpft sich folgende Sage: Zur Zeit, als die Grabser und Toggenburger der Alpen wegen im Streite lagen, trieben einst die Toggenburger das Vieh in den Grabser Alpen zusammen, um es als gute Beute mit sich zu führen. Ein Senn, der sich rechtzeitig hatte retten können, gab mit gewaltiger Stimme vom Galferbühel aus den Grabsern Kunde von dem Überfall. Nachdem die in der Kirche anwesenden Bauern alarmiert waren, brachen sie sofort zur Verfolgung auf, erwischten auf dem Schlachtboden die Toggenburger, schlugen sie in blutigem Gefecht und nahmen ihnen das Vieh wieder ab. – Es sollen auf dem Kampfplatz Funde gemacht worden sein, die den historischen Hintergrund der Sage beweisen.

Es hat wenig Wert, die Frage zu diskutieren, wo die Grenze zwischen den Churfirsten und der Alviergruppe zu ziehen sei. Als natürliche Grenze bietet sich auf der Nordseite überhaupt der Thalkessel des Voralpsees, und es fragt sich nur, ob von hier aus die Linie über die Schlewizer Niedere oder über Naus und Gulms zu ziehen sei. …

Sehr auffällig zeigen sich in der Umgebung des Gamserruck, wie überhaupt in den Churfirsten, die Wirkungen der Erosion. Die Churfirsten sind ein schief aufgerichtetes Schichtensystem, und die Rücken der Nordseite waren früher eine zusammenhängende Gesteinsplatte von Seewerkalk, unter welcher in konkordanter Lagerung Gault, Schrattenkalk etc. folgen. Aber diese Gesteinsplatte ist durch die Erosion merkwürdig zerstückelt worden. Letztere rückte von unten schluchtenbildend gegen den Grat hinauf und teilte die schiefere Ebene des Nordabhanges in eine Anzahl von Rücken, die nun durch tiefe Einschnitte vollständig getrennt sind. Die Decke von Seewerkalk wurde grösstenteils weggenagt; einzelne Streifen, Fetzen und Lappen, die übrig geblieben, verraten noch den einstigen Zusammenhang. Sowie die von unten sich verbreiternden und vertiefenden Erosionsschluchten den Grat erreichen, begann die Schartung des einstigen zusammenhängenden Gratkammes, als deren Resultat wir heute die allbekannte Säge der Churfirsten vor uns sehen. …

Noch viel eindringlicher als die Churfirsten lehrt uns die Alviergruppe, dass unsere Gebirge nur noch eine Ruine sind. …

Wo wir uns befinden, … in der steinernen Welt des Karrenfeldes, auf dem hohen grünen Grate des Rosenboden oder sonst auf einem der aussichtsreichen Felsgipfel, überall werden wir den Eindruck erhalten, dass die Churfirsten-Alvierkette, deren Südabsturz im Verein mit dem Wallensee eines der grossartigsten Landschaftsbilder der Welt bietet, eine wahre Perle im Gebirgskranz unseres Vaterlandes ist, und der St. Galler ist um so stolzer darauf, als er hier weder mit Appenzell, noch Glarus oder Graubünden zu teilen braucht. …

(Quelle: „Bericht über die Thätigkeit der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft während des Vereinsjahres 1893/1894“ St. Gallen. Zollikofer’sche Buchdruckerei, 1895. Von A. Ludwig, Lehrer.)

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