Gleckhorn und Gläck

Vom Gleckhorn zum «Güggi» und weiter. Auch ein Schicksalsberg.
Ein tiefer Sprung ist’s von den hellen Kalkwänden des Gleckhorns hinab in die nur kalkgetünchten Wände des Güggi, des Spritzenhauses von Ragaz!
So unerwünscht dieses enge Gelass einer zweifelhaften Talschleiche werden kann, so gern streben die Blicke des Gipfelfreundes hinauf zum Gleckhorn, der eckigen Südschulter des Falknis.
Auch uns vom Weltkrieg als unbrauchbare Wracks an Rhein und Tamina verschlagene deutsche Kriegsgäste packte immer wieder der Anblick jener Höhen des Bündnerlandes: gleich als ob uns von dort Heil und Freiheit winke, wo im Frührot Steilwände wie Kamingläser aufglühten, wo am Abend geheimnisvolle blaue Schatten hinter den «Türmen» spielten!
Unwiderstehlich aber wurde der Zauber dieses Berges, als wir einmal vom Ausgang des Glecktobels am Gleckhorn hinaufgestaunt hatten. Mochte auch die sonst so gastliche Schweiz ihre Grenzmark nach Vorarlberg und dem Liechtensein’schen absperren: das Gleckhorn selbst lag doch noch in der Schweiz: «Hinauf um jeden Preis!» lautete unsere Parole für den letzten Septembersonntag 1918.
Die erste im Bunde, eine junge Ragazerin, liess sich auch dadurch, dass ein zweiter Wandergenosse plötzlich abberufen wurde, nicht abschrecken, und so überschritten wir denn zu zweit, in der sicheren Erwartung, am Spätnachmittag wieder in Ragaz zu sein, gegen sechs Uhr morgens auf der überdachten Holzbrücke den jungen Rhein und traten bald auf den weichen Boden der Fläscher Allmeind.
Morgennebel griffen in die Wälder und Wiesen; schon über eine Stunde waren wir gewandert, da tauchten im Steigwald, unter einer wuchtigen Tanne, zwei verdächtige Gestalten auf und schwankten mit breiten Hüten, schwarzen Bärten und Gewehr im Arm fragend auf uns zu. Nicht gerade erfreut über ihre Neugier gaben wir Antwort und, seltsam, beide erboten sich sofort, uns den Glecktobel hinaufzubegleiten.
Ein paar Zickzackwindungen des Wegleins taten wir mit, dann aber liessen wir die Söhne des Bünderlandes allein steigen, denn steil und steiler wand sich der Pfad, erst durch lichtgrüne Buchen, dann durch finsterhohe Tannen aufwärts. Immer häufiger senkten sich Geröllhalden von klotzigen Felswänden zu Tale und hier und dort schon hatten Steinschlag und Lawinen den Wald in undurchdringlichen Astverhau verwandelt. Zur Linken hob sich eine Schwester des Gleckhorns, die Gleckwand, hoch und weiss in den lichtblauen Herbsthimmel, darin oben jetzt die letzten Nebelfahnen zerflatterten. Die ersten Sonnenstrahlen liessen fern im Hintergrund Ringelspitz und Piz Sol, weit drunten den Rhein aufblitzen, sie fielen nieder in die grünen Wipfel des Tobels – und fingen sich endlich im braunen Haar meiner Gefährtin. Gerade vor uns aber reckte sich in Glanz und Steilheit das Gleckhorn selbst empor; an seinem Fusse fröstelten nur mehr kümmerliche Latschen – wie mochte es auf seinem festlich strahlenden Gipfel aussehen?
Auf dem «Gleckkamm» lag mit seinen 40jährigen «Buben» ein alter Gamsjäger: hielt die Pfeife im Mund und genoss, Gewehr im Arm, mit sichtlichem Behagen die in diesen Höhen (2000 m) schon recht tüchtigen ultravioletten Strahlen. Keiner von den dreien kannte die Namen der sich vor uns ausbreitenden Berge mit Ausnahme der gross aufragenden Scesaplana, doch mit Anerkennung folgten aller Augen dem «Frauenzimmer», dem ich über die wildzerklüfteten, einst vom Gipfel heruntergepolterten Felsblöcke nachklettern musste.
Klägliches Blöken liess uns plötzlich anhalten: durch die Trümmerwildnis suchten zwei Schafe ihren Weg und jedem folgte ein Junges. So schnell es die Knickebeinchen erlaubten, über Stock und Stein purzelten die Tierchen ihrer Mutter nach. Immer wieder fallend, sich kugelnd und wieder aufrichtend verschwanden die vier endlich in der Richtung auf die tief liegende Alp.
Hier in der Nähe hatte einst der «Allmöhi» gehaust und nicht gar weit lag die Heimat des «Heidi», das Guschadörfli. Meine bescheidene Frage, ob denn wohl alle Schweizermaiteli das Heimweh ergriffe, wenn sie wie das Heidi nach Frankfurt oder gar noch weiter ins Schwabenland «da ussi» verschlagen würden, war sicherlich überhört worden, denn gerade in diesem Augenblick entdeckten die Augen meiner Gefährtin einen Felseinschnitt, der geradenwegs auf den über uns erscheinenden Gipfel zu leiten schien.
Zuerst, solange der erdige Grund genügenden Halt bot, ging alles gut. Bald aber wurde es steil und steiler vor uns, Blöcke und Geröll versperrten eine zusehends enger werdende Spalte, die sich immer mehr zum Kamin auswuchs; dieser aber schien ohne Seil ungangbar. Unter unsern Händen brach morsches Gestein aus, sauste mit unheimlicher Deutlichkeit den Weg, den auch wir nehmen konnten …
Endlich hörte der Kamin auf und von allen Seiten starrten uns jäh abstürzende Platten entgegen. Nur ein kaum erkennbar schmales Band verhiess Rettung. Während ich mich darauf entlang tastete, traf mich ein unvergesslicher Blick, gleich als ob quer durch den Kamin ein unsichtbarer Faden gespannt würde, ein Faden stärker als Leben und Tod. Lag nicht in diesem Blick eine wortlose Antwort auf meine vorher geäusserte Frage? Und doch wollte es endlos scheinen, bis Griff um Griff erprobt und endlich auch von meiner Gefährtin der rettende Weg zurückgelegt war. Auf einem Grasfleck ruhten wir ein Weilchen aus; unser Blick fiel hinunter in die besonnten Alpen der Tiefe.
Da kam von der schafbevölkerten Alp «Bad» ein Wanderer zu uns heraufgestiegen. So selbstsicher haute der seinen Eispickel in die Kalkfelsen und so mitleidig klang sein uns hingeworfenes «Grüessi», dass wir gleich merkten, hier bereitet sich Wichtiges vor. Gar bald war er ein kleiner Schatten geworden, der hoch droben in einer Gesteinsfuge verschwand. Der würde es schaffen! Doch nein, da tauchte der Pickel wieder auf. Schlug von neuem ein, wurde wieder unsichtbar. Dann aber, wir trauten unserm Auge nicht, kehrten Mann und Pickel um und stiegen so langsam ab, wie sie behende gekommen waren.
Der Anblick fremden Misserfolgs hob unsern gesunkenen Mut. Aufmerksam spähten wir rundum und entdeckten, dass die Steilwand des Berges auf der nach Osten abfallenden Seite, zwischen Felsen eingesprenkelt, manchen Grasbüschel zeigte, der beim Klettern förderlich werden konnte. So klommen wir denn, auf einer mit den Augen vorher festgelegten Strecke, oft auf Händen und Füssen zugleich bergauf, und plötzlich wehte uns über der höchsten umkletterten Felsnase kühle Gratluft entgegen!
Aufatmend schauten wir uns um: vor und unter uns starrte die wilde Welt des Rhätikon: Falknis, Weisser Sand, Panüeler Schrofen; und vom Brandner Ferner übergossen erhob sich die Scesaplana. Kavalljoch und Schweizer Tor leuchteten wie Drusen- und Sulzfluh im Sonnenglanz. Auf einem ausgedehnten Geröllfeld der Grauspitzhänge krabbelten zwei winzige Lebewesen langsam abwärts; strebten einer Hütte zu (welch artiges Spielzeug!): diese dunklen Punkte sollten heute noch einmal unsern Weg kreuzen!
Es begann eine reizvolle, nicht immer ganz leichte Gratwanderung nach Westen, gipfelwärts, über immer neue zerrissene Türme und Blockhaufen. Der Grat fiel nach beiden Seiten in jähen Wänden ab und manche ausgesetzte, scharfe Schneide war nun im Reitsitz zu überwinden. Oft auch mussten wir den unzugänglichen Grat auf der Nord- und Südseite umgehen, wo uns Edelweiss beschert wurde. In mühseliger Kletterarbeit verging uns manche Stunde und schon mehrmals waren gipfelähnliche Gebilde im Westen erschienen, doch immer wieder stellten sich diese als Vorhöhen heraus. Zuletzt aber stieg ein verwegenes Horn von tiefbrauner Färbung auf, hinter dessen Schulterwänden, schreckhaft fast, Sonnenstrahlen aufblitzten: der Berggeist streckte hier sichtlich seine Zunge dem Herrn des Lichts entgegen!
Das war die Spitze des Gleckhorns. An einem seiner luftigen Gipfelzacken sicherte eine Gemse, die, von uns aufgescheucht, wie in einer Versenkung verschwand und scheinbar ins Bodenlose abstürzte! Ihr nachkletternd erreichten wir um drei Uhr den Steinmann (2451 m).
Ganz windstill war’s hier oben, kaum fanden wir Platz auf dem grasigen First. Die Sonne stand warm und glänzend am tiefblauen Himmel, dessen Ränder dort, wo Wildspitz, Bernina, Tödi, Sardona und all die andern Zuckerhüte und Gletscher erschimmerten, leicht verfärbt erschienen. Im Norden, hinter der Falknismasse, lösten sich die schwäbischen Höhen am Bodensee in feinem Dunst des Herbstnachmittags auf. In feierlichen Windungen weitete sich das Rheintal, darin Ragaz, winzig ineinandergeschachtelt, mit dem hellen Auge des Giessensees glänzte. Diesseits des Rheins fiel der Blick auf Maienfeld und dann fast senkrecht hinab in die dunklen Waldreihen des Glecktobels, wo wir heraufgestiegen waren und wo die Tannen, nach dem Kamm hinauf immer jämmerlicher zerzaust, den aussichtslosen Kampf mit Runsen und Schutthalden endlich ganz aufgaben. Der rings unter uns senkrecht gestellte Fels gipfelte im Steinmann, aus dem wir das Gipfelbuch herausklaubten.
Unserer Eintragung folgte ein Imbiss, bei dem uns ein luftiges kleines Brot das Dach des Gleckhorns hinunterrollte und in der Richtung unseres Kamins zerstäubte … Nicht geheuer wurde uns bei diesem Anblick, denn wir gedachten unseres Rückstieges gratabwärts, und schon nach halbstündiger Rast brachen wir nach Norden, in die Seenplatte des oberen Fläscher Täli, weil nach dort der Berg etwas gelinder abfällt.
Über weitgedehnte Geröllhalden ging es, nachdem wir den Grat verlassen hatten, über spitze Steintrümmer, die so unendlich mühsam werden können, wir fuhren Grashänge hinab und hüteten uns, ins Rollen zu geraten, denn oft brach der Berg jäh unter uns ab. Der Abendappell, der uns eigentlich wieder in Ragaz hatte sehen sollen, war schon nahe, als wir endlich den eingetrockneten mittleren See des Fläscher Hochtals erreicht hatten. Aus der Steinhütte des Obersäss, die wir schon vom Grat aus gesehen hatten, schauten uns neugierige, feldstecherbewehrte Augen entgegen. Unsere beiden dunklen Punkte, Männer in Jägertracht, kamen hinter uns her, hielten uns nach einigen unverfänglichen Fragen ihren Grenzwächterausweis entgegen und fragten nach unserem Namen! Wir hätten ohne Erlaubnis Grenzgebiet betreten und zwar gerade diese gänzlich verseuchte Alp, deren Insassen im Laufe dieses Sommers allesamt an der Grippe gestorben seien –
Die wilden Wände der Drusenfluh in der Ferne erschimmerten bei diesen in trocken-gutturalem Amtsstil vorgebrachten Wendungen der Grenzwächter in herrlichen gelbrötlichen Tönen der Abendsonne, doch half uns dieser Umstand leider gar nicht über die recht zweifelhafte Sachlage hinweg. Meinen Namen im Buch, entfernten sich die Alpensöhne: unser gutes Glück ging mit ihnen. Denn statt nunmehr den sicheren, wenn auch weiteren Rückweg über Jenins zu wählen, schlugen wir den Weg, den wir gekommen waren, wieder ein.
Diesmal überschritten wir den Gleckkamm mit seinen gespensterhaft fahlen Felsennasen im letzten Tagesschimmer. Nur mit Mühe erkannten wir den sich unruhig durch Schutt und Steine windenden Pfad und erreichten endlich den Anfang des Waldes. Der mondlose Himmel schimmerte nur sehr undeutlich durch die Tannenwipfel. Mit der Stockspitze tastend, immer unsicherer stiegen wir auf holprigen Steigen ab. Aus dem Wald traten wir hinaus auf eine Geröllhalde – und hier hatte offenbar der Gleckteufel seine Hand im Spiele, denn urplötzlich war jegliche Wegspur wie ausgewischt.
Den Pfad zu suchen, kletterte ich auf Steinblöcke, stolperte über Baumwurzeln, hielt mich an Felsenrippen über unsichtbaren Abstürzen: alles umsonst. Auch unsere Blinksignale mit einem Spirituskocher fanden keine Gegenliebe. Wir mussten uns damit vertraut machen, eine kalte Herbstnacht unvorbereitet in 1600 m Höhe zu verbringen.
Wir setzten uns auf einen Baumstumpf im Tannwald, wo dieser am dichtesten schien und liessen unsere Gedanken nach Ragaz gehen, wo man sich unser Ausbleiben nicht erklären würde. Ein Lichtfunke glomm in den finsteren Bergmassen auf, die Enderlin-Hütte drüben unter den Türmen und allmählich wurden in uns lichtere Bilder wach. Meine Gefährtin erzählte von einem deutschen Dichter in Ragaz, dessen Ruhm damals wohl noch nicht ins Weite gedrungen war und der späterhin den Gemälden des Gastfreundes ein so reges Verkaufsinteresse zuwenden sollte – Damals hatte er wohl erst ein Drama «Die Taminaschlucht» und einige Tage «Güggi» auf dem Kerbholz. Beim Worte Güggi fröstelte es mich zum erstenmal in dieser Nacht: Güggi, «’s klingt so sonderbar – – «
Die empfindliche Kühle dehnte diese Nacht ins Endlose. Erst gegen fünf Uhr dämmerte ein grauer Herbsttag herauf. Wir waren das Opfer einer jener breiten Steinhalden geworden, «Rüfe» genannt und gebildet aus unzähligen Felsscherben und Splittern, die in wirrem Durcheinander von den verwitternden Bergwänden abwärtsgleiten. Ich stieg diesen Steintrümmergletscher einen guten Teil aufwärts, fand zwar den Weg immer noch nicht, wohl aber einen Maienfelder Eingeborenen mit der unvermeidlichen Flinte, der uns bis auf den tiefsten Punkt der «Rüfe» niedergehen hiess. Hier kam unser Pfad lustig durch den wilden Wald herabgelaufen! Drei Stunden später erreichten wir Ragaz, wo man gerade dabei war, Rettungsmannschaften zu bestellen.
Beide Teilnehmer dieser Bergfahrt blieben von Grippe und Schnupfen verschont. Wenige Tage später aber sass ich im «Güggi», auf dessen steilen Kalkwänden bald Bleistiftfresken erstanden, die von Bündnerrauhheit und von Ragazer Liebreiz erzählten. So vergalt der schöne Berg auf seltsame Art die auf ihn verwandte Mühe: ja, noch wunderlicher wurde seine Rache. War er es doch, der aus dem Wrack ein glückhaft’ Schiff gemacht und zwei Lebensbooten eine gemeinsame Richtung gewiesen hat: am zweiten Jahrestag ihrer Bergfahrt waren die beiden Teilnehmer in den Hafen der Ehe eingelaufen. Weit hinter Frankfurt verschlagen, hält heute schon meine Lebensgefährtin das Steuer recht fest in der Hand. So wurde auch ich ein Opfer der Berge.
(Von Dr. Erich Schulze-Ründeroth)
(Quelle: Alpenfreund 1927)

***

Das Gleckhorn.
Wir kamen auch wieder! Es war am 18. Juli 1890, als wir wieder in Maienfeld eintrafen, um am folgenden Morgen womöglich eine grössere Tour im Gebiet des Falknis anzutreten. Die Reisegesellschaft bestand diesmal aus Führer Enderlin, Herrn Anton v. Sprecher von Maienfeld und dem Berichterstatter. Die ganze Kette von der Luziensteig bis zur Kleinen Furka sollte begangen werden, wozu zwei oder drei schöne Tage genügt hätten. Aber so schön und vielversprechend das Wetter am 18. Juli war, am Morgen des 19. hatte es schon wieder umgeschlagen, und statt um 3 oder 4 Uhr konnten wir erst um 7 ½ Uhr aufbrechen, und mit geringen Hoffnungen. Immerhin schien sich das Wetter während des Aufstieges wieder zum Bessern zu wenden; die Nebel verschwanden, die Wolken verzogen sich, und heiss, nur zu heiss, brannte die Sonne auf uns nieder, als wir über die Luziensteig nach Guscha und von da gleich weiter nach der Guscha-Alp stiegen. In Schweiss gebadet kamen wir hier an und waren froh, für ein Weilchen in einer Hütte Schatten und Kühlung zu finden und als Stärkung für den weiten Weg warme Milch zu bekommen.
Hier vernahmen wir auch, dass in Guscha nur noch drei Familien wohnen; mehrere Häuser stehen leer und verfallen allmälig. Zur Kirche geht man nach Maienfeld oder Fläsch, zur Schule ebenfalls. Doch müssen die Kinder den langen Weg, der im Winter natürlich auch sehr beschwerlich und nicht immer gefahrlos ist, nicht täglich zurücklegen, da sie für den Winter bei Verwandten in Maienfeld und Fläsch untergebracht werden. Um die Steilheit der Gehänge, an denen Guscha scheinbar klebt, zu illustriren und zu persifliren, erzählt man, dass die Hennen an ihren Füssen mit Hacken beschlagen und die Kinder angebunden werden, um nicht zu „erfallen”. Auch kommen Unglücksfälle in Folge des steilen Bodens etwa beim Holzfällen, bei Heu- und Holztransporten, auf der Jagd und bei Lawinenschlägen häufig genug vor.
Nachdem wir uns ordentlich restaurirt hatten, schritten wir wieder rüstig die steilen Grashalden hinauf und erreichten den Kamm in der Nähe von Punkt 1719 m der Excursionskarte des S.A.C. für 1888/89, der aber nicht Mittelhorn heisst, wie auf dieser Karte angegeben ist. Das Mittelhorn ist der nördlichste Punkt des Guschagrates und ist auf unserer Karte weder mit einem Namen, noch mit einer Zahl bezeichnet, während ihm die österreichische Specialkarte, Blatt Bludenz und Vaduz, Namen und Höhenzahl (1897 m) gibt. Am Mittelhorn biegt die Schweizergrenze, die über Punkt 1719 m ostnordöstlich streicht, nach Südosten um bis zum Rothspitz, der auf der Excursionskarte von 1888 ebenfalls unrichtig bei Punkt 1970 m, auf derjenigen für 1890/91 aber richtig und mit der Höhe von 2128 m angegeben ist. Wir hatten nun einen angenehmen Marsch über diesen aussichtsreichen Grat, auf dem uns ein Geissbube durch sein gewecktes Wesen und durch seine gescheidten und witzigen und doch auch wieder gutmüthigen Bemerkungen freute. Von Punkt 2150 m an wurde die Steigung wieder schärfer und der Grasboden wich allmälig dem Felsen. Doch konnten wir ohne nennenswerthe Hindernisse auf der Grenz- und Gratlinie bis zur Falknishöhe aufsteigen.
Die Aussicht war aber schon nicht mehr nach Wunsch. Die Thäler zwar zeigten sich in gewohnter Lieblichkeit und Schönheit, aber die Berge waren grossentheils in Wolken gehüllt; nur da und dort tauchten einzelne Gipfel und Gruppen aus denselben hervor. Ohne uns aufzuhalten, stiegen wir zum Fläscherfürkli hinunter, um von da das noch wolkenfreie Gleckhorn in Angriff zu nehmen. Unter dem Punkt 2344 m durch, theils über Gras-, theils über Schuttboden, erreichten wir zunächst die Tiefe Furka (2243 m), die uns einen prächtigen Blick in die Tiefe, ins Glecktobel und in die Herrschaft gewährte. Nachdem wir unter Felsen Schutz suchend einen kleinen Strichregen hatten vorüberziehen lassen, schritten wir am Nordhang des Gleckhorns hin, meistens über Trümmerhalden und über einzelne Schneeflecken. Auch einige Felsrippen mussten überquert werden. Etwa beim k oder h des Namens Gleckhorn in der Karte fanden wir die Stelle, die uns den Aufstieg ermöglichte. Eine steil südwestlich ansteigende, theilweise beraste Bergkante führte uns ohne eigentliche Kletterei auf den Gipfel, den wir um 4 ½ Uhr erreichten.
Leider war die Aussicht nicht besser, als kurz vorher auf dem Falknis, doch konnten wir ihren Charakter genügend erkennen. Natürlich ist sie von derjenigen des nur wenig höhern Nachbarberges nicht wesentlich verschieden. Nur die nächste Umgebung und auch der Rhätikon zeigen ein etwas verändertes Bild. Imposant ist vor Allem der gewaltige Felsabsturz gegen das Glecktobel und gegen die Alp Bad, der nach jeder Seite mehrere hundert Meter beträgt und fast senkrecht zu sein scheint.
Nach einem etwa halbstündigen Aufenthalt traten wir den Abstieg an, und zwar zunächst auf derselben Route. Auf ziemlich gerader Linie erreichten wir so die Hütten des Obersäss (2041 m) im Fläscherthal. Diese Hütten sind der Obersäss der Fläscheralp, deren Untersäss Sarina heisst (1824 m). Wir mussten auch hier wieder Schutz vor dem Regen suchen, der nun mehr und mehr den Charakter des Landregens annahm. In der Hoffnung, es könnte bis am Morgen doch wieder besser werden, gingen wir aber doch noch am Mittel- und Untersee vorbei und über der Alp Eck durch nach Jes, dem Obersäss der Maienfelder Alp Stürvis. Der von dieser Alp kommende Weg führte uns über die sogenannten Stägen, d.h. mehrere in die Felsen eingehauene Stufen, längs dem prächtigen Wasserfall des Jesbaches hinauf zu den Hütten, die wir als Nachtquartier ausersehen hatten. Dieselben liegen auf schönem ebenem Thalboden inmitten des Felsencircus, der die Alp fast rings umschliesst. Doch konnten wir diesmal die Schönheiten dieses Circus und seines Wiesengrundes nicht geniessen, denn wir kamen in strömendem Regen hier an und konnten nichts Besseres thun, als in einer der Hütten uns schleunigst einzuquartieren, was uns von den Sennen, so gut es ging, freundlichst gewährt wurde.
Wegen des unaufhörlichen Regens mussten wir endlich doch von der Verfolgung unserer Pläne abstehen und am dritten Tag den Heimweg über Stürvis, Ganey und Seewis antreten, so unangenehm der lange Marsch durch das nasse Gras, die wassergetränkten Sümpfe und über aufgeweichten und schlüpfrigen Boden auch war. Wir hatten auf dieser Tour wenigstens eines erreicht, die Besteigung des sehr trotzig aussehenden Gleckhorns, die vielleicht die erste touristische ist, wenn auch die Seewiser Führer berichten, dass dieser Berg schon früher einmal von Seewis aus bestiegen worden sei.
Ergänzungsweise sei hier noch darauf aufmerksam gemacht, dass, wie ich sowohl durch Augenschein, als von Jägern und Hirten weiss, das Gleckhorn auch über den Kamm, der vom Untersee des Fläscherthals geradlinig nach der Spitze zieht, bestiegen werden kann. So leicht geht es zwar nicht, wie man nach der Excursionskarte schliessen sollte, denn der dort angegebene Rasenkamm ist durch Felsabsätze und Felszähne unterbrochen, die besonders im obern Theil dem Fortkommen einige Hindernisse in den Weg legen und stellenweise auch einige Vorsicht nöthig machen.

Ferner mögen hier einige wenige Notizen über die Alpen des durchwanderten Gebietes folgen, wie wir solche namentlich in Jes zu sammeln Zeit hatten.
Stürvis, Eck und Sarina sind ursprünglich drei getrennte Alpen von je zwei Sennthümern und darum auch mit je zwei Sennhütten und den dazu gehörigen Ställen (Schärmen). Zu diesen drei Hauptalpen, als den Untersässen, gehören auch drei Obersässe, nämlich Jes zu Stürvis, Bad am Gleckkamm zu Eck und Radaufis oder das Fläscherthal zu Sarina mit ebenfalls je zwei Sennhütten, aber ohne Ställe. Wir haben also hier auf verhältnissmässig kleinem Raum 12 Sennhütten, d.h. Hütten mit Sennerei (grosser Küchenraum), Milch- und Käsekellern und Schlafraum für die Sennen und Alpknechte. Der letztere besteht freilich nur in je einem ziemlich engen Dachraum mit Heulager und einigen Decken. Die Alpen sind, wie überall im Prätigau, Gemeindealpen – Davos dagegen hat lauter Privatalpen – und ein Sennthum umfasst meistens circa 100 Kühe. Das macht in unserm Gebiet also etwa 600 Kühe. Dazu kommen einige Pferde und Schweine und eine grössere Anzahl von Schafen und Ziegen. Die Obersässe sind keine selbständigen Alpen, sondern nur Anhängsel der Unter- oder Hauptsässe, und sie werden von den gleichen Heerden abgeweidet, wie diese, und zwar im höchsten Sommer, meist Ende Juli und im August. Sind sie besetzt, so sind unterdessen die Untersässe leer, und umgekehrt. Einkehren kann der Tourist in der Regel nur in einem besetzten Säss; in einem leeren findet er nichts. Auch sind die Lager in den Obersässen meist schlechter als in den Untersässen. In unsern drei Obersässen sind sie aber noch ordentlich. Gegenwärtig ist die Eintheilung der Alpen im Falknisgebiet etwas anders, als oben angegeben. Da nämlich der Viehstand in Maienfeld gegen früher bedeutend abgenommen hat und auch mehr Vieh über den Sommer im Thal behalten wird, so hat Maienfeld jetzt statt vier nur noch zwei Sennthümer von je etwas über 100 Kühen, und Eck ist mit Stürvis zu einer Alp vereinigt. Die Hütten von Eck stehen darum jetzt auch im Sommer leer, werden aber gleichwohl in gutem Zustand erhalten, so dass sie jederzeit wieder bezogen werden könnten. Als sie vor einigen Jahren durch Lawinen argen Schaden erlitten, wurden sie wieder aufgebaut und eingerichtet. Bad ist nur noch eine Galtviehalp und Jes ist Obersäss für die vereinigte Alp Stürvis-Eck. Die Hütten sind alle in gutem Zustand und ziemlich gross, so dass kleinere Touristengruppen im Hochsommer auch in den Obersässen übernachten können, nur muss man sich dann etwas einschränken und bescheiden sein; dafür bezahlt man dann auch keine Hotelpreise.
(E. Imhof, Section Scesaplana)
(Quelle: SAC Jahrbuch 1891)

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Der Gleckkamm
Der 5. September war ein Sonntag, und sonntäglich war auch uns zu Muthe, als wir die thauigen Matten hinanstiegen zum Gleckkamm am Fusse der gewaltigen Gleckwand. Da stehen wir auf seiner welligen Höhe, dem ersten Ziele unserer Wanderungen im Rhätikon, das wir vor 5 Jahren eines Abends in Regen und Sturm erreicht hatten. Heute liegen die reichen Mayenfelder Alpen im klaren Morgensonnenschein da, und die sie umschliessenden Berge, die sich um die hehre Scesaplana schaaren, recken ihre stolzen Häupter wohlig in den blauen Herbsthimmel hinein. Zu unseren Füssen aber senkt sich in tiefem Schatten und köstlicher Frische das Glecktobel hinab zum Engpasse der Luziensteig, und über den Fläscherberg schweift der Blick ins weite sonnige Land hinaus.
Von der Luziensteig, wo Landwehr-Genietruppen liegen, schallt Trommelwirbel herauf. Die braven Landwehrmänner mochten dort unten die sonntägliche Frühe zu einer Stunde Signalkenntniss benutzen; Tagwacht und Generalmarsch schlägt der Tambour. Uns sind diese kriegerischen Klänge kein Misston in der Sonntagsstille. Waren es doch, neben der Freude an der ewig schönen Bergwelt, auch Gründe militärischer Natur, die uns dieses Gebiet und seine Pässe, die Parallelwege zur Luziensteig, so gründlich hatten kennen lehren.
Wer im Gebirge die Wege aufsucht, die in der Kriegsgeschichte eine Rolle spielen – und es sind nicht viele Pässe in unseren Alpen ohne historische Reminiscenzen – und wer sich so die Bilder entschwundener Tage heraufbeschwört und die einsamen Steige im Geiste wieder belebt mit dem Kriegsvolk aller Länder, das sie im Laufe der Zeiten beschritt, dem muss sich der Gedanke aufdrängen: so war es damals; wie wäre es heute, wenn wir die Pässe zu besetzen hätten, um die seit Jahrhunderten von Fremden gestritten worden ist?
Da bieten uns die Berge auf einmal ein erhöhtes Interesse, und wir fangen an, sie mit andern Augen anzusehen. Wir quartieren unsere Milizen in die Sennhütten und Heuställe ein; wir forschen, was die Alpen, was die nächsten Dörfer ihnen für Hülfsmittel bieten; wir suchen den Vertheidigern die besten Wege zu den Passhöhen und merken uns die Stellen, wo wenige gute Schützen einem Feinde den Uebergang wehren können; wir sehen nach den Pfaden, auf denen die kleine Truppe umgangen werden könnte; wir notiren uns die Punkte, wo am Tage eine Fahne, Nachts ein Fanal den weitverstreuten Abtheilungen und ihren Reserven die Signale gibt.
Das Generalstabsbüreau hat Jedem, der zum Recognosciren Lust hat, gezeigt, was zu wissen noth thut. Den Militär, der auch nur einigermassen mit diesem Fache vertraut ist, wird die Menge der Fragen nicht schrecken; sind sie ja doch im Grossen und Ganzen derart, dass sie nur als eine systematische und logische Ordnung dessen erscheinen, was er von sich aus schon notirt hätte. Aber auch der Nicht-Militär, der mit offenen Augen im Gebirge wandert, kann durch Beantwortung der Fragen allgemeiner Natur werthvolles Material liefern, und wenn er sich an die Sache gemacht und vielleicht mit einem militärischen Freunde daheim seine Notizen gesichtet und besprochen hat, so wird mit jedem Male sein Urtheil weiter und sein Notiren werthwoller.
Das wäre auch ein erspriessliches Feld der Thätigkeit für den Schweizer Alpenclub, und die endliche Ausführung dessen, was er von Oberst Hans Wieland sel. als Testament übernommen hat. Und damit möchten wir den Clubgenossen die Fragebogen des Stabsbüreau dringend empfohlen haben; sie werden nicht weniger Genuss, aber hohe Befriedigung von ihren Passwanderungen davontragen. Unsere Berge sind darum nicht minder schön, wenn wir sie nicht nur vom Standpunkte des Sports, sondern auch vom Standpunkte dessen betrachten und durchforschen, der einmal dazu berufen sein kann, sie vertheidigen zu helfen.
(R. Wäber, Section Uto)
(Quelle: SAC Jahrbuch 1886)

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Neue Bergfahrten. Gleckhorn.
Besteigung über die Westwand. 26. Juni 1921. Walter Risch allein.
Weg zum Gleckkamm bis zirka 1800 oder vom Enderlihüttli auf dem Schafweglein unter den Wänden der tiefen Furka horizontal bis zum Einstieg bei P. 1779, genau senkrecht unter dem Gipfel. Die einst senkrechten Felsschichten bilden hier aufrechte Zickzacklinien. Diesen folgend, immer genau in der Falllinie des Gipfels ohne wesentliche Abwechslung bis zur obersten Schlucht hinauf, durch welche man den Gipfel erblickt. Durch diese leichter direkt zum Steinmann. Schwierige Graskletterei. 5 Std.
(Quelle: Alpina 1924)

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Gläck – Das Salzlecken
Wie alle Wiederkäuer, lieben auch die Gemsen das Salz in hohem Grade und besuchen deswegen besonders gern Kalkfelsen, an denen sich Bittersalz findet, wo sie sich oft so durstig lecken, dass sie wie toll zum ersten besten Wasser laufen müssen, um zu trinken. Schon Gessner, der ehrwürdige Vater der schweizerischen Zoologie, und Scheuchzer kannten diese Gewohnheiten der Gemsen genau, und Letzterer sagt, man nenne solche salzhaltige Felsen in Bünden «Gläck», sonst aber Sulzen oder Sulzläckenen, und zwar lecken die Gemsen so gierig nicht nur des Salzes, sondern auch des Sandes wegen, der ihnen nicht nur den Pflanzenschleim im Rachen löse und Fresslust errege, sondern auch wie den Vögeln zur Verdauung diene und ihnen so den Mangel der «Kochinstrumente» ersetze. Die Jäger unterscheiden die trockenen Sulzen der Kalkschieferfelsen und die nassen der sandigen und sauren Moräste und wollen beobachtet haben, dass blos die Gemsziegen und ihre Jungen dieselben besuchen, und zwar ausschliesslich von Jakobi bis Mitte August. Gewöhnlich kommen sie mit Tagesanbruch vier oder fünf Tage nach einander oft viele Stunden weit zu den Sulzen her, lecken begierig eine Stunde und springen wieder fort. Es scheint dies auch wirklich eine diätetische Massregel zu sein, da man allgemein die Erfahrung gemacht hat, dass die an den Sulzen geschossenen Gemsen weit magerer waren als die anderen.
(Quelle: Das Thierleben der Alpenwelt. Friedrich von Tschudi. 1856)

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So viel ich in verschiedenen Gegenden der Alpen Gelegenheit gehabt habe, dergleichen Gemsenleken zu beobachten, so fand ich immer eine änliche Beschaffenheit bei ihnen; Der Anblik von dergleichen verwitterten Hornsteinschiferbänken wurde mir in der Folge mehrmals zur Anzeige, dass an solchen Stellen Gemsenleken befindlich seyn möchten, welches auch wirklich zutraf.
(Quelle: Alpenreise vom Jahre 1781, Gottlieb Storr, 1786)

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