Auf den Churfirsten in der Nähe von Ammon wurde der Geier früher öfter auf der Beize geschossen. Jede andere Jagd, selbst wenn der Horst ausgekundet ist, ist höchst unsicher. … Manchmal gelingt es den kühnen Söhnen des Gebirges, sich der jungen Geier im Neste zu bemächtigen, – eine mühsame, lebensgefährliche Arbeit, da die Vögel an furchtbar steilen und wilden Felsen horsten und ihre Brut ebenso wüthend als hartnäckig vertheidigen. … Der berühmte Gemsenjäger Josef Scherrer von Ammon ob dem Wallensee erkletterte barfuss mit der Flinte auf dem Rücken einen Geierhorst, in dem er Junge vermuthete. Ehe er denselben erreicht hatte, flog das Männchen herbei und wurde durchbohrt. Scherrer lud die Flinte wieder und kletterte in die Höhe. Allein beim Neste stürzte mit fürchterlicher Wuth das Weibchen auf ihn, packte ihn mit den Fängen an den Hüften, suchte ihn vom Felsen zu stossen und brachte ihm tüchtige Schnabelhiebe bei. Die Lages des Mannes war entsetzlich. Er musste sich mit aller Gewalt an die Felswand stemmen und den alten Geier abwehren, ohne die Flinte aufnehmen zu können. Seine ausserordentliche Geistesgegenwart rettete ihn aber vor dem sicheren Verderben. Mit der einen Hand richtete er den Lauf der Flinte auf die Brust des an ihm haftenden Vogels, mit der nackten Zehe spannte er den Hahn und drückte los. Der Geier stürzte todt in die Felsen hinab. Für die beiden alten und die zwei jungen Vögel erhielt der Jäger vom Untervogte in Schännis – fünf und einen halben Gulden Schussgeld. Die tiefen Wundmale am Arm aber behielt er sein Leben lang.
(Quelle: Das Thierleben der Alpenwelt. Friedrich von Tschudi. 1856)