… Wie die noch wenigen Julitage die Menschen erfreuten, beweist der Zudrang der sehr beweglichen Touristen, die von überallher zu Fuss und Wagen nach Vaduz und in die Alpen ziehen, um sich gütlich zu thun und Abends mit Alpenrosen bekränzt den Heimweg einschlagen. Sehr zu beklagen ist es aber, dass zu solchen Ergötzungen zumeist der Sonntag, der Tag des Herrn, vom frühesten Morgen an – ohne Gottesdienst – missbraucht wird. –
Unsere Alpen würden sicher noch mehr und anhaltend besucht werden, wenn an geeigneten Stellen bequeme Kurorte eingerichtet wären, zumal der Zugang so gut ist, wie selten im Gebirge, indem schöne Fahrstrassen in die Alpen führen, dass man zweispännig dahin fahren kann. Nur die hohe Alp Gaflei bildet seit einigen Jahren einen sehr beliebten Kurort mit herrlicher Aussicht in das obere Rheinthal und über die jenseitigen Schweizerberge. Es ist zwar noch sehr beschränkt, dass nicht allen Wünschen entsprochen werden kann; da wäre es denn doch angezeigt, das Haus zu erweitern und zwar für 25 bis 30 Kurgäste; die Kosten würden jetzt nicht so hoch zu stehen kommen, nachdem man bis dorthin über das Schloss Vaduz, Rothenboden und Maseschen bequem fahren kann. Ein Anbau würde sicher rentiren. Sehr zu wünschen wären auch markige Wegweiser an solchen Stellen, wo die Wege sich kreuzen, um die fremden Touristen oder Bergsteiger vor Verirrung zu bewahren. Der Weg von Vaduz nach Gaflei wird auf 3 Stunden berechnet.
Unsere schöne landschaftliche Lage, unsere herrlichen Alpen mit ihren reizenden Anhaltspunkten und leichten Zugängen sind bisher in den bekannten und beliebten Reisebüchern nur stiefmütterlich, sehr oberflächlich und theilweise gar nicht aufgeführt worden. Das beweist, dass die schreibseligen Verfasser dieselben noch gar nicht kennen!
(Quelle: Volksblatt 21. Juli 1882)
Wo ist Gaflei? – Derzeit mögen es einige Dutzend Schwaben und Schwäbinnen sein, die auf diese Frage prompt zu antworten vermögen. Vor noch gar nicht langer Zeit soll eine hohe Behörde irgend eines Landes, als in dem Urlaubsgesuch eines Beamten die Residenz des Staates, in welchem Gaflei liegt, als Zielpunkt namhaft gemacht wurde, sehr ernstlich zurückgefragt haben: «Wo und in welchem Land?» – so dass sich also kein Unterthan zu schämen braucht, wenn er noch viel weniger weiss, wo in welchem Lande Gaflei liegt. Also: Gaflei liegt in dem Land, wo es keine, aber auch keine politischen Parteien gibt, wo man von «Unentwegten» nichts hört, «voll und ganz» nichts vernimmt, und kein Socialdemokrat auf Umsturz sinnt, noch weniger Frauenrechtlerinnen ihre Stimme erheben; im Land, wo – wenigstens im allergrössten Theil – kein Radler haust, wo man den vortrefflichen Wein merkwürdigerweise «Kretzer» heisst und die andere gleich gute Marke mit dem Komperativ eines Biernamens «Bocker» benennt, im Land, wo die vielfach ersehnte politische Wahlpflicht herrscht, wo es mehr Männer gibt als Frauen, im Land ohne Militär und Militärpflicht, – «halt, das kann nur Liechtenstein sein», ruft der Leser, plötzlich erleuchtet durch dies letzte ganz besondere Kennzeichen, und das Fürstentum Liechtenstein ists denn in der That, in dem hoch oben über dem behördlicherseits, wie angezeigt, noch nicht genügend bekannten Haupt- und Residenzort Vaduz das geheimnisvolle Gaflei zu suchen ist.
Sind es nicht seltsame Namen, Gaflei, Vaduz? Nun, mit Ausnahme des Landesnamens Liechtenstein, der dem Staat erst 1699 künstlich gegeben wurde, treten uns allerdings im ganze Lande so ziemlich lauter solche fremdklingende Ortsnamen entgegen (Gamprin, Ruggell, Schaan, Garsella, Bargella, Gafal etc.) Aber kerndeutsch ist das 10,000 Seelen zählende Liechtensteiner Völkchen und Gestalt und Namen, Rede und Lebensart verraten uns den Liechtensteiner auf den ersten Blick als allernächsten Stammverwandten oder Stammesbruder, als Allamannen. Romanisch sind von der früheren Besiedlung her nur die Ortsbezeichnungen geblieben und an Regentagen mag es in der Sommerfrische alten und jungen Lateinern Vergnügen machen, diese lateinischen Reste zu entziffern (Vaduz = vallis dulcis, Gamprin = campus Rheni, Balzers = palazoles, palatiolum, Schaan = scana, Schiffslände etc.) Nur an Gaflei scheiterte die Gelehrsamkeit des ganzen Gafleier Schwabenklubs, wie wohl so ziemlich sämtliche Fakultäten der beiden Hochschulen Württembergs, dazu noch Kunstschule und Militärdepartement, droben vertreten waren und sich darüber die Köpfe zerbrachen. Also keltisch-deutschen Geschlechts ist auch der Fürst des Landes, und so mögen, ehe wir zur Gaflei aufsteigen, einige gedrängte Mitteilungen über diesen uns so nahe liegenden und doch in der Regel fast nicht gekannten Kleinstaat mit seiner kerndeutschen Bevölkerung und seinem einzigartigen politischen Stillleben gestattet sein. …
Das 178,4 km2 umfassende zwischen Graubünden, St. Gallen und Vorarlberg am rechten Rheinufer liegende Ländchen mit seinen 16 Ortschaften wird seit 1858 regiert von «Sr. Durchlaucht Johann II Maria Franz Placidus, souveräner Fürst und Regierer des Hauses von und zu Liechtenstein, …» Der allgemein verehrte (unvermählte) Landesvater macht seinen Unterthanen nur den einen Kummer, dass er sich so selten innerhalb der blauroten Grenzpfähle blicken lässt; er residiert meist in Wien und Schloss Eisgrub. Ueberall rühmt man seine Freigiebigkeit und Mildthätigkeit. … Nur von zwei «Landesnöten» ist das Ländchen geplagt: vom Rhein, dessen Bett sich (fast nach Art des gelben Flusses) durch das Geschiebe vom Gebirge her immer höher aufbaut, so dass er nur durch kostspielige Dämme zu händigen ist (daher das Sprüchlein: «Der Vater Rhein, das alte Schwein!»), und die Rüfen, die riesigen Steinlawinen von den Felsbergen herab, die z. B. zwischen Vaduz und Schaan die schönsten Baumgüter und Kulturgrundstücke unrettbar unter einem Steinmeer vergraben haben. Der einzige Helfer, der Wald, ist denn auch seit 1865 gesetzlich geschützt, so dass schädliche Abholzungen wie früher nicht mehr stattfinden können. Was den Vater Rhein betrifft, so genügt es, darauf hinzuweisen, dass die fast 28 Kilometer langen Schutzbauten am Rhein in 4 Jahrzehnten 1 ½ Millionen fl. verschlungen haben. Und durch die Rüfen, abgesehen von ihrem sonstigen Schaden, gingen im letzten Jahre auf den Alpen 20 Schafe zu Grunde, die in einem Rüfengang mit fortgerissen wurden. Aber diesen Nöten gegenüber grüssen uns um so tröstlicher die herrlichen Bergmatten durch die uns der Weg nach Gaflei emporführt. … Im kühlen Wald steigen wir auf angenehmer Fahrstrasse (die Strassen in Liechtenstein, zusammen 130 Kilometer, sind alle gut) hinauf zum Schloss Hohen-Vaduz, auch Hohen-Liechtenstein genannt. … Ueber saftige Wiesen zieht sich der Weg zum Weiler Rothenboden mit seinem Kurhaus Samina (1000 Meter hoch), das seinen Namen vom Saminathal überm Gebirge drüben entlehnt hat. Malerisch liegen in ihren Baumgärten die einzeln verstreuten Bauernhäuser, darunter auch das des fürstlichen Försters Nägele, der unter den 400 Gemsen und den 100 Hirschen des fürstlichen Jagdreviers (ca. 5500 Hektaren) wohl Bescheid weiss. Ueber Rothenboden hängt massig herein der bewaldete Bergkopf von Masescha, und nach einer ganzen Anzahl von Schlangenwindungen führt uns das Strässchen an der idyllischen Sommerfrische Waldi und dem dicht daneben gelegenen «Menschenwäldle» vorbei zur Pension Masescha, zu der das Einfamilienhaus Waldi ein Anhängsel bildet. Auch hier pflegt man schwäbische Familien zu treffen, denen 1250 Meter über Meereshöhe genügen. In der Obhut der drei Damen (Töchter des fürstlichen Forstinspektors), die Haus Masescha verwalten und den beiden unteren Wirtsstuben den altbäuerlichen Charakter mit Geschmack gerettet haben, ist jedermann aufs beste aufgehoben, der volle Ruhe in Berg und Wald sucht. Dicht dabei stehen zwei uralte Gebäude, das Bergkirchlein und das altersbraune Gasthaus, in dessen Eckbalken das Wirtszeichen des Kreuzes roh eingehauen ist, wie das wohl vor einem halben Jahrtausend der Brauch gewesen. Drüben beim Stein von Masescha lockt das berühmte Echo, das ganze Sätze, vielstimmige Hochrufe etc. in wahrhaft verblüffender und zur Heiterkeit zwingenden Weise wiedergibt. Noch einmal höher hinauf; die letzten Obstbäume, das höchste Kartoffeläckerchen lassen wir bei Masescha zurück. Rechts und links üppige, dachgähe Matten mit einer Menge von Blockhäusern. Schon lugen graue kahle Felshäupter droben über den dunklen Wald herein und nochmals um 300 Meter höher hat uns die Strasse in angenehmer Steigung emporgebracht. Das Geläute des Weideviehs tönt melodisch um uns und dort auf ebener Hochmatte liegt sauber und stattlich das ersehnte Gaflei, die ausgedehnten Gebäulichkeiten, auf 3 Seiten von unmittelbar herantretendem Fichten- und Lerchenwald gedeckt, hoch überragt von den himmelhohen Abstürzen des Gipsberges. In 3 Stunden sind wir von Vaduz ohne Anstrengung heraufgekommen; auf dem Fussweg über das in Trümmern liegende, sagenumrauschte Wildschloss Schalun und die Alpe Provatscheng gelingt es schon in 2 ½ Stunden.
Und jetzt, wie soll ich das Lob Gafleis singen, so wie sich’s all den Herrlichkeiten gegenüber gebührt? Am liebsten möchte ich die Schwabenkolonie des letzten Sommers aufrufen, Dame für Dame, Mann für Mann, Kind für Kind; jede Fakultät für sich; den mit dem Sonnenschirm herumsteigenden Spaziergänger sowohl als den trefflich wattierten Wadenstrümpfler und Felsenkraxler; die verehrten Toilettenentwicklerinnen nicht minder, wie die im einfachen Lodenkleid; die Solo- und Quartettsänger und -sängerinnen wie den regelmässigen Vierspännerdapp – ohne ins Berglatein zu verfallen, würde das einstimmige Zeugnis aller lauten: schön, wunderschön ist’s da droben! Die balsamische kräftige Luft (1500 Meter hoch), wie manche Wangen hat sie gebräunt! Und wie entzückt schweifte das Auge immer wieder über die weite, erhabene Gebirgswelt, die sich über dem weiss blinkenden Rhein da drunten aufbaut! Dort links der Naafkopf mit seinen kleinen Schneeflecken, der höchste Berg Liechtensteins (2568 Meter), dann die Mittagsspitze, die Pyramide des Falknis, die vornehm schöne Calanda, die wild zerrissenen grauen Hörner mit dem Gletscher der Ringelspitze, der Piz Sol, der leuchtende mächtige Sardonagletscher, dann gerade noch über den Gesichtskreis emporragend die Riesen von Glarus, im Vordergrund über dem Rheinthal drüben, zum Greifen nah, der massige Gebirgsstock des Alvier, daneben die Schau tief hinein ins Toggenburg, aus dem die weisse Kirche von Wildhaus grüsst. Dann Säntis und Altmann (mit dem Glas sind die Fenster des Säntisgasthofes zu zählen); Schafberg, Furgelfirst, hoher Kasten; unten im tiefen Rheinthal eine Menge Städtchen und Dörfer, darin inbegriffen das ganze Flachland von Liechtenstein, sein Unterland vom Schellenberg an und sein Oberland, das am Luziensteig endet, dessen Katharinenbrunnen (zwischen Balzers und Luziensteig) auf einer Steinplatte nördlich das liechtenstein’sche, südlich das bündnerische Wappen trägt mit der Umschrift: «Alt fry Rhezien». Vor Balzers schaut als Ameisenhügel zu Füssen all der Bergriesen Schloss Gutenberg von seinem mit Reben bewachsenen Kegel herauf, über Buchs das stolze, geschichtsreiche Schloss Werdenberg; weiter oben im Thal die kühne Ruine Wartenstein und über den Fläscherberg hinein die weitläufigen Gebäude von Pfäfers.
Doch so erhebend das gewaltige Bild stets auf uns wirft, ob nun Berg und Thal von Sonnenschein erfüllt ist oder von wogendem Nebelmeer, oder ob drunten schwarze Wetterwolken sich zusammenballen und der Sturm heraufbraust, oder ob die Bergeshäupter am Abend wunderbar glänzen – die eigentliche Spezialität Gafleis ist der Fürstensteig, der, gefahrlos und bequem zu begehen, in eine völlig dolomitische Felsenwildnis hineinführt und auf der Kuhgratspitze, einem Damenberge, und weiterhin auf den Drei Schwestern zu umfassenden Rundsichten leitet, bei denen dann auch das Hochgebirge wieder zur Geltung kommt, Panülerschrofen, Scesaplana etc., während tief drunten der breite Spiegel des Bodensees aufblitzt. Bekanntlich ist dieser, seinesgleichen suchende Gebirgsweg dem Zusammenwirken des Fürsten von Liechtenstein, des D. und Oestr. Alpenvereins und vor allem des Besitzers von Gaflei, des in Württemberg wie in Venezuela gleich wohlbekannten Ingenieurs Schädler in Vaduz, zu verdanken und im Juli letzten Jahres festlich eingeweiht worden. … Friedensthäler sinds denn auch, die sich bei der Gratwanderung von der Alpspitze bis gegen Sükka in ihrer Felsen- und Waldspracht aufthun: das weithin gestreckte einsame Thal der Samina, das verborgene Seitenthal Valorsch, oben die Gabelung in Malbun- und Valünathal – mit einem Blick überschaut man vom Grat aus das Hochgebirge Liechtensteins, zu dem diese Thäler gehören. Vorn auf dem Grat mag, wen es gelüstet, im sogen. Mohrenloch, einer kleinen Höhle, Mondmilch holen, die dort in ganzen Klumpen zur Verfügung steht, und bei dem unfernen sturmgebleichten Kreuz sich im Volk umlaufende schaurige Mären von abgehauenen Händen, verzauberten Frauenschuhen u. dergl. erzählen lassen. Statt den Pfad von der Alpe Bargella bis Sükka vorzugehen, können wir auch zum aussichtsreichen «Pilatus» absteigen, auf dem den ganzen Sommer die schwarz-rote Fahne wehte (von Rechtswegen: «Bi di Latten» – durch slovakisches Missverständnis in Pilatus umgetauft). Vom Pilatus führt ein leichter Weg an einer Kolonie von fast immer sichtbaren Murmeltieren vorüber in einem Stündchen nach Gaflei. Höchst genussreich sind die Ausflüge in die vorhin genannten Thäler, die alle von tadellosen Wegen durchzogen sind. Welcher Stolz, wenn die Jugend mit reichlichem Edelweiss geschmückt von einer solchen Thal- und Bergfahrt heimkommt, und zwiefach vollends, wenn man, wie das einem zwölfjährigen Schwaben glückte, mit dem fürstlichen Jäger dort hinten einen kräftigen Gemsbock «schiessen geholfen» hat! Den Nichtwaidmännern zu lieb liess sich eines Tages eine Gemse, ein «Laubbock», unmittelbar hinter den Gebäuden von Gaflei sehen und zwar ohne Eintrittspreis, ein Augentrost wenigstens für flachländische Jägersleute, die hierher kamen mit dem bestimmten Vorsatz, Gemsen zu schiessen, jedoch die Krummgehörnten nicht von ihren gefährlichen Felsen herunterzaubern konnten! – Nun liegt Gaflei wieder einsam und verlassen. Aber im Gedächtnis aller Besucher, der aus der Schweiz wie der aus dem Oesterreichischen, der Badener und der zahlreichen Schwaben, leben die schönen Abende fort, die zu so manchem Freundschaftsbund führten, und die unvergesslichen Bilder, die grossartig und lieblich die reine Gottesnatur dort zeichnet. – Wo ist Gaflei? die Leser wissen es jetzt und die k. k. Post, findig wie die unsrige weiss es längst, wenn sie Briefe zu befördern hat, wie den mir vorliegenden: An Wohlgeboren Herrn F. W. in Fürstentum Liechtenstein. Aber was ist Gaflei? Sonnenschein und Bergesluft, Waldesdunkel und Mattengrün, kühne Bergriesen und bizarres Felsengezack, Alpenrosen und Edelweiss, Herdenglocken und Vogelgesang, hoch droben Büchsenknall auf Hirsch und Gemse und drunten im Thal munteres, mächtig emporschwellendes hundertfältiges Glockenläuten, fröhliche Bergeslieder und frischer Jodlerruf, südlich das Feuer im dunkeln Wein, aber deutsch, urdeutsch Wirt, Jäger und Hirt – das ist Gaflei und das wird es bleiben: Wie hiess doch eins der Schnadahüpferl unseres sangesfrohen Landsmanns da oben?
«Auf der Gaflei droben
Muss man allzeit loben,
Luft und Licht und Tisch und Bier und Wein.
Bald wird’s freilich schneien,
Doch zum nächsten «Neuen»
Und zum neuen Jahre kehr’ ich wiederum ein.»
(Quelle: Volksblatt 17.3.1899 + 24.3.1899 + 31.3.1899)