Die Besteigung des Gamsberges von der Südostseite – Die sieben Bundesräte im Goldloch

Wir stiegen am 14. Oktober 1894, morgens nach 6 Uhr, von Flums auf die Alp Malun gegen den Notz, einen aussichtigen Hügel nordwestlich von Malun an der Grenze gegen Sennis. Hier präsentiert sich der «gewaltige Gamsberg» in seiner vollen Wucht und Pracht: mächtige Felswände von tiefen Schrunden zerrissen, unten spärlich mit Legföhren, oben mit Grasbändern und Grasbüscheln bewachsen, darüber der kühngeschwungene Grat mit seinem jähen Absturz gegen Westen. Wir versuchten hier den Aufstieg zu rekognoscieren, bekamen aber das Gefühl, dass es auf diese Entfernung nicht möglich sei, sondern meistenorts auf kurze Distanzen geschehen müsse. Vorgenommen hatten wir uns nur, das Goldloch, die Felsenhöhle in der Bergwand, zu passieren. Der Aufstieg zum Goldloch ist ein viele Meter breites, aber ungemein steiles und glattes Felsband. Wir überwanden dieses, indem wir der obern Wand entlang aufstiegen und an derselben seitlich Griffe suchten.

Das Goldloch ist eine geräumige Höhle, wie solche in Kalkgebirgen hie und da vorkommen. Von dieser Vorhöhle führen zwei dunkle Öffnungen in den Berg hinein und lassen ein Höhlensystem vermuten. Denn in der Nähe ist noch ein anderes Loch. Der Name Goldloch kommt von einer Sage, nach der ein «Venediger» jährlich kam und aus dem Berginnern Gold hervorholte. Andere behaupten, es komme hier wirklich ein goldglänzendes Mineral, der Pyrit, Eisenkies oder Schwefelkies vor. Wir haben es nicht gefunden. Dagegen ist namentlich beim untern kleinern Loch das Gestein lebhaft rotgelb gefärbt, was mit einer auffallend blauen Flechte, die die Felsen überzieht, einen wunderbaren Kontrast bildet. Ob die komplementäre Farbe der Flechten zum Gestein eine physikalische Begründung hat oder nur zufällig ist? – Die rotgelbe Farbe des Gesteins rührt offenbar von Eisengehalt her, den das ganze Gebirge besitzt. Auch auffallend schöne Quarzadern kommen hier vor.

Bei der Höhle lag dürres Legföhrenholz, das uns Stoff gab zu einem prächtigen Feuer, wohl das erste, das im Goldloch gebrannt. Natürlich unterliessen wir nicht, unsere Anwesenheit auch sonst ausgiebig zu beurkunden durch Karten und Inschriften mit Blau- und Rotstift. Als Hauptzierde des Goldlochs befestigten wir die Porträts der jetzigen sieben Bundesräte.

Dann stiegen wir die Schrunde westlich vom Goldloch hinein und schräg aufwärts gegen ein Felsenfenster und durch dasselbe hindurch. In diesem Felsendurchgang deponierten wir ob der Lichtöffnung eine Karte. Über dem Fenster machten wir Halt. Das schwerste Stück, vom Goldloch zum Felsenfenster war überwunden. Wir übersahen den obern Drittel als relativ leicht, steile Kalkplatten mit Grasbändern und Grasbüscheln. Wir stiegen von da zu Punkt 2385 auf. Ein eisiger Wind fegte über den scharfen Grat, den wir zeitweise verlassen mussten. Wir schritten unverzüglich den Grat bis zum Westende 2368 ab und suchten vor dem erstarrenden Wind Deckung hinter unserm grossen Steinmann vom 24. Juni 1894. Aussicht in die Nähe tadellos, in die Bündnerberge wundervoll, gegen Westen und Norden vernebelt. Wir hatten anfänglich den Abstieg auf der Nordseite zum Scheff beschlossen. Aber unsere erstarrten Hände liessen uns die windgeschützte besonnte Südseite der tiefverschneiten Nordseite vorziehen. Wir stiegen also von Punkt 2368 durch den westlichen Teil des Südabhanges zum faulen Gang und in die Spitzplank hinab. Wir hatten höchste Zeit. Als wir die letzten Felsen ob uns hatten, war auch die letzte Spur des Tages verschwunden. Der Abstieg durch die Alp Sennis ins Seezthal machte uns nicht bange, und wir kamen um 9 Uhr wohlbehalten in Flums an. In der Nacht erging ein grimmiger Schneesturm über die Berge bis tief ins Tal herunter. –

An Tieren hatten wir am Gamsberg gesehen ein Trupp von sechs Gemsen, eine einzelne Gemse und ein Gemskitzen, das uns auf eine Entfernung von wenigen Metern mehrere Minuten lang neugierig anäugte. Schlussresultat: die Besteigung des Gamsberges über das Goldloch und Felsenfenster ist für selbständige, vorsichtige, ausdauernde Clubisten eine ideale Kletterpartie, ein Hochgenuss seltener Art.

(Johann Baptist Stoop: Besteigung des Gamsberges von der Südostseite. Alpina 1895)

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