Der Falknis

Es ist gewiss schön und in hohem Grade anregend, in den höchsten Regionen, in Eis und Schnee sich zu ergehen und die Fürsten des Gebirges, die Riesen des Wallis, des Berner Oberlandes und des Engadins unter seinen Fuss zu setzen; aber es gewährt auch grossen Genuss und volle Befriedigung, ein enger begrenztes Gebiet, wenn dasselbe auch nicht zu den grossartigsten und in aller Welt bekannten gehört, möglichst allseitig zu begehen und bis in seine letzten Winkel und Falten kennen zu lernen. …
Aber dieser Genuss steigt nicht nothwendig mit der Höhe oder mit der Schwierigkeit und Gefährlichkeit der erklommenen Gipfel. Darum mögen auch die schmucklosen Schilderungen von Bergfahrten in den bescheidenen Gebirgen des gegenwärtigen Excursionsgebietes eine Stelle im Jahrbuch des S.A.C. finden.

Im Gebiet des Falknis.
Als Falkniskette oder Falknisgruppe bezeichnen wir hier wie im Itinerarium den Theil des Rhätikon, der westlich von der kleinen Furka liegt und dessen Hauptkamm mit einigen Krümmungen von Osten nach Westen zieht. Die Gipfelpunkte sind der Reihe nach: der Hornspitz, der Tschingel, der Naafkopf, der vordere und hintere Grauspitz und der Falknis. Die grösste Höhe hat mit 2601 m der vordere Grauspitz; aber der Falknis ist der vorgeschobenste und von den Thälern aus sichtbarste, der formenschönste und aussichtsreichste, darum auch der besuchteste und bekannteste, und darf also wohl die Führerrolle in diesem Gebirgstheil übernehmen. Wenn in unsern Gegenden vom Falknis und von einer Falknisgruppe die Rede ist, so weiss Jedermann, was darunter gemeint ist, würde aber von einer Grauspitzgruppe gesprochen, so würden die Wenigsten wissen, wo sie das Ding hinthun sollen. Der Name „westlicher Rhätikon” geht auch nicht an, denn darunter versteht man die ganze westöstlich verlaufende Kette vom Rheinthal bis zum Grubenpass, dem sich hier als östlicher Rhätikon die nordsüdlich verlaufende Kette vom Alpila- und Gweilkopf bis zum Madrishorn anschliesst. Also bleibt’s beim Namen Falkniskette.
An die zackenreiche Hauptkette schliessen sich zwei lange und zwei kurze Seitenäste an. Die zwei langen gehen aus vom Naafkopf und vom hintern Grauspitz und umschliessen, weit nach Norden ausgreifend, das Saminathal. Sie mögen als die Ketten des Gallinakopf und der Drei Schwestern bezeichnet werden. Die beiden kurzen Seitenäste zweigen vom Falknis ab, der eine nordwestlich über den Guschagrat zum Mittagspitz, der andere südöstlich über das Gleckhorn und den Hochfurnis zum Vilan.
Nachdem ich dieses Gebiet schon in frühern Jahren mehrmals besucht und die meisten Gipfel desselben bestiegen hatte, lag mir besonders in den letzten zwei Jahren daran, dasselbe möglichst planmässig und vollständig zu bereisen. Aber die Ungunst des Wetters durchkreuzte oft in der unliebsamsten Weise die schönen Pläne. So konnte denn nicht Alles ausgeführt werden, was auf dem Programm stand, und namentlich konnte es nicht in der gewünschten Weise, nicht in einem Zug und in einigen aufeinanderfolgenden Tagen geschehen. An Stelle einer einzigen mehrtägigen Tour traten mehrere, oft weit auseinanderliegende eintägige; jeder Gipfel musste dem hartnäckigen Regengott mit ebenso grosser Hartnäckigkeit und Unverdrossenheit förmlich abgerungen werden. Es hätte aber wenig Werth, über alle gelungenen und misslungenen Versuche, über die oft zurückgeschlagenen, aber immer wieder erneuerten Angriffe zu berichten, zu erzählen von den oft unter strömendem Regen ausgeführten Rückzügen, von dem stundenlangen Campiren in Wäldern und unter Felsen, von dem Zubringen unendlich langer Regentage und Regennächte in engen, frostigen Sennhütten, von dem Umherirren in undurchdringlichem Nebel, von dem Stampfen und Waten durch Neuschnee oder durch nasses Gras und bodenlosen Sumpf. Das alles und manches Andere gehört mehr zu den Leiden als zu den Freuden des Bergsteigers und mag der versöhnenden Vergessenheit anheimfallen. Der Bericht soll sich darum auf einige der gelungenen Touren beschränken.

Der Falknis.
Auf den Ostermontag 1890 hatte mich Führer F. Enderlin von Maienfeld zu einer Falknistour eingeladen. Ich liess mir das nicht zweimal sagen, und auch mein College, Herr W. Zwicky, war zu jedem Thun entflammt. Wir begaben uns also am Ostersonntag Abend nach Maienfeld und übernachteten dort. Am folgenden Morgen wurde früh aufgebrochen, der Führer in seinem freundlichen Heim, in der sogenannten Bündt oberhalb des Städtchens, abgeholt und die Richtung zunächst nach dem Glecktobel eingeschlagen. Man geht da zuerst über sanft ansteigende Weiden und tritt dann bald in den schönen Bergwald. Aber nicht lange dauert die sanfte Steigung. Nachdem man den Bach überschritten hat und damit auf die rechte Seite des Tobels gekommen ist, führt der steinige Weg in vielen Zickzacks durch den steilen Waldhang hinauf nach den Bargün (1462). Mit diesem Namen bezeichnet man hier nicht etwa eine Ortschaft, auch nicht einen Maiensäss, sondern eine Gruppe kleiner Heuhütten oder Heuschober, in welche man das Heu der umliegenden Waldwiesen und des sogenannten Falknis einsammelt. „Im Falknis” heissen hier die meist steilen Abhänge, die vom obern Waldrand bis an die Thürme hinauf reichen und ein kräftiges Bergheu liefern. Diese Bergwiesen werden ihrer Steilheit wegen nicht abgeweidet, sondern gemäht, und das so gewonnene Heu, sowie allfälliges Wildheu, kommt vorläufig in die Bargün, um später zu passender Zeit in’s Thal getragen oder „geschlittnet” zu werden. Eine mühsame und nicht gefahrlose Arbeit, die grosse Kraft und Geschicklichkeit erfordert. Von den Bargün an lichtet sich der Wald und geht dann bald ganz zu Ende, wohl mehr aus wirtschaftlichen als aus klimatischen Ursachen. Die Leute legen mehr Werth auf das Heu als auf das Holz dieser Stelle. Im Glecktobel geht der Wald weiter hinauf.

Ein ordentlicher Weg führte uns von den Bargün zuerst in leichtem Zickzack aufwärts bis an den Fuss der Thürme, dann rechts abbiegend unter diesen hin und zuletzt zwischen diesen und der Gleckwand und über eine steile Grashalde hinauf zum Fläscherfürkli (2247 m). Den Weg hat Führer Enderlin auf eigene Initiative und durch eigene Arbeit erstellt, und er heisst darum billig Enderlin’s Weg. Wir sind die Ersten, die den fertigen Weg begangen und gewissermassen collaudirt haben. Er bietet für die Falknisbesteiger bedeutende Annehmlichkeiten und Vortheile und macht es auch führerlosen Touristen leicht möglich, sich zurechtzufinden. Enderlin hat also mit Anlage dieses Weges sehr wenig im eigenen Interesse gehandelt, wohl aber sich Anspruch auf den Dank mancher Falknisbesucher erworben. Enderlin’s Weg ist jetzt von Maienfeld aus der kürzeste, bequemste, sicherste und aussichtsreichste. Ein rüstiger Steiger kann auf demselben in 4 Stunden die Falknishöhe erreichen und hat dabei fortwährend den herrlichen Blick auf Graubündens schönste und reichste Thallandschaft, auf das prächtige Gelände der Herrschaft mit den umstehenden Gebirgen.
Wie wir um den letzten Thurm herumbogen, um gegen das Fläscherfürkli aufzusteigen, trafen wir zwei weidende Gemsen, die aber bald für gut fanden, in fliegender Eile das Weite zu suchen. Bis zum Fürkli hatten wir trotz der frühen Jahreszeit (7. April) „apern” Boden gehabt. Nun aber folgten auf dem letzten Wegstück bis zur Spitze einzelne grössere Schneeflecken, über die wir, da sie hart gefroren waren, leicht und rasch aufwärts kamen. Auch das Fläscherthal, das östlich gegen Stürvis hinunterhängt, war noch voll Schnee und seine Seen noch mit der winterlichen Eis- und Schneedecke überzogen, so dass wir durch dasselbe jedenfalls einen weit mühsamern und unfreundlichern Aufstieg gehabt hätten, so schön es sonst im Hochsommer dort ist. Um 9 Uhr, 4 Stunden nach dem Abmarsch in Maienfeld, betraten wir die Spitze.
Der Himmel war wolkenlos, die Luft dunstfrei, die Temperatur angenehm und die Aussicht wundervoll. Der Falknis ist ein sehr günstiger Aussichtspunkt. Als westlichster Pfeiler des Rhätikon ist er weit vorgeschoben und steht verhältnissmässig frei; der Ausblick wird nicht durch benachbarte Höhen beschränkt und zeigt viel Abwechslung. Ein herrliches Gebirgspanorama wechselt mit prächtigen Thalbildern, zu den starren Eiswüsten gesellen sich die Stätten der Menschen und zu den eisigen Regionen des ewigen Schnees die warmen Rebengelände der Herrschaft, und obwohl der Falknis nur von mässiger Höhe ist (2566), so dringt der Blick doch unmittelbar in eine Tiefe von 2000 m. Das freundlichste Stück der Aussicht ist unstreitig die Herrschaft und das Churer Rheinthal, dieser reiche Garten Graubündens mit seinen Städten und Dörfern, seinen Fruchtfeldern und Weinbergen, seinen Obstbaumpflanzungen und Wäldern und dem das Ganze wie ein mächtiges Silberband durchziehenden Rhein. Aber auch über die Grenzen Rhätiens kann man das Rheinthal noch weithin verfolgen und ebenso das Seezthal. Weniger gut zeigt sich das Prätigau, doch sind auch von diesem grosse Stücke sichtbar, namentlich im mittleren Theil. Aber mit dem Lieblichen vereint sich das Grossartige! Ein weiter Gebirgskranz nimmt das Auge gefangen. Da thürmen sich die formenreichen Kalkstöcke des Rhätikon auf mit ihren gewaltigen Wänden und mauerartigen Abstürzen, darauf folgt die vergletscherte Silvrettagruppe, die sich in ihrer ganzen Ausdehnung vom dreigezackten Fluchthorn bis zu der mächtigen Pyramide des Piz Linard zeigt, dann die lange Front der Albulakette von den Wächtern des Flüelapasses bis zu den Riesen des Oberhalbsteins (Piz d’Aela, Tinzenhorn, Piz Michel) und darüber hinaus der silberglänzende Hofstaat der Berninagruppe, deren Hauptgipfel vom Piz Cambrena bis zum Monte della Disgrazia alle deutlich zu unterscheiden sind. Auch das Bündner Oberland (Adulagruppe und ihre Ausläufer), die Tödikette, die Toggenburger und Appenzeller Berge (Gonzen, Alvier, Churfirsten, Säntis etc.) und die Vorarlberger Alpen haben grosse Contingente zur heutigen Heerschau gestellt, und zwar Alles in der glänzenden Uniform des von der Sonne beschienenen Winterschnees. Selbst weniger hohe Gebirge, wie die Plessuralpen und die Vorberge des Rhätikon, dünken sich heute, da sie das Schneekleid noch nicht völlig abgelegt haben, gross und wichtig.
Es ist ein hoher Genuss, an solchen schönen Tagen auf freier Bergeshöhe zu stehen und den Blick über das weite Alpengebiet schweifen zu lassen, in demselben alte Bekannte aufzusuchen und sie von neuen Seiten, in neuen Gruppirungen, in veränderter Beleuchtung zu sehen und dazu neue, bisher weniger beachtete Formen aufzufassen und dem Geiste einzuprägen; aber die Freude ist eine doppelte, wenn sie bei angenehmer Temperatur ungestört genossen werden kann, und sie ist eine dreifache, wenn sie nach langem, arbeitsvollem Winter Einem in so freundlicher Weise zu Theil wird. Wir gaben uns ihr darum auch lange hin und traten den Rückweg erst nach mehr als zweistündigem Aufenthalt um 11 ½ Uhr an.
Einige Rutschpartien brachten uns rasch zum Fläscherfürkli hinunter, von wo wir uns rechts hielten, um ob den Thürmen durch nach dem Gyr (2167 m) zu traversiren. So konnten wir die Aussicht noch lange fast ungeschmälert geniessen. Der Weg biegt hier in den vielen kleinen Töbelchen und den dazwischen liegenden Bergrippen vielfach ein und aus, erfordert der Steilheit der Gehänge wegen auch einige Vorsicht, bietet aber sonst keine Schwierigkeiten. Auf dem Gyr machten wir wieder einen halbstündigen Halt und freuten uns an dem Blick über die scheinbar senkrechte Felswand hinunter nach der Luziensteig. Dann ging’s links hinab unter den Thürmen durch nach den Bargün und von da auf dem Weg, der uns zum Aufstieg gedient hatte, ins Thal. Da wir nicht pressirten und da und dort einen kleineren Halt machten, so brauchten wir für den Abstieg 3 ½ Stunden und kamen also um 3 Uhr in Maienfeld an. Gar gut mundete uns nun der treffliche „Maienfelder” aus dem wohlversorgten Keller Enderlin’s. Dann nahmen wir mit einem herzlichen „Gott dank Euch” und „Auf Wiedersehn” Abschied von unserem lieben Führer und fuhren mit dem Abendzug zurück nach Schiers, aber mit dem Entschluss, bald wiederzukommen.
(E. Imhof, Section Scesaplana)
(Quelle: SAC Jahrbuch 1891)

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