Der Blick vom See aus

… Quartnerberg / an dem Wallenstatter-See ligt ob Quarten.
Quintnerberg / an gleichem See / erhebt sich ob Quinten: diese beyde Dörffer haben die alten Namen der Römischen Colonien behalten. …
Schrynen an dem Wallenstatter-See / stosset an den Schwalbis.
Schwalbis an der mittnächtigen Seite des Wallenstatter-See / stosset an Josen.
Selunerstok / Lunerruk im Toggenburg / wird also genent von der Alp Selun / oder Sylin / und von der gestalt eines Ruken; da sihet man eine seltsame Höle.
(Quelle: Helvetiae stoicheiographia. Orographia et Oreographia. Oder Beschreibung der Elementen/Grenzen und Bergen des Schweizerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands. Erster Theil. Johann Jakob Scheuchzer. Zürich 1716)

… Wer von Zürich herkommt, erblickt den Walensee zuerst bei Weesen.
… aber das Auge fühlt sich doch mehr angezogen durch die kräftigen Bilder in der Nähe, den Anfang des Walensees mit seinem bewaldeten Ufer diesseits, der schroffen Felswand jenseits, woneben in grüner Bergmulde die von den letzten Sonnenstrahlen erglänzende Kirche von Amden auf die zahllosen, weit zerstreuten Häuser und Hütten dieser Berggemeinde wie eine freundlich lächelnde Mutter auf ihre Kinderschaar herabblickt. …

… Wer Geschichts- und Sprachforscher zugleich ist, der findet am Walensee manche Probleme, wer aber auch überhaupt nur ein Interesse für die Vorzeit einer Landschaft hat, in welcher er sich zeitweilig aufhält, der muss hier auf die Ortsnamen Quinten, Quarten und Terzen aufmerksam werden und fragen, woher diese lateinischen Formen neben den vielen deutschen und rhätischen Ortsbezeichnungen stammen. Eine gewöhnliche Antwort darauf, die auch in die rothen Bücher übergegangen ist, lautet, es seien dies zur Römerzeit Militärstationen, Warten oder Lagerplätze gewesen und es werden auch die Orte Primsch oder Brämisch und Gons oder Segons als Prima und Secunda in die Reihe gezogen. Allein diese landläufige Meinung hat vieles gegen sich. Wer auch nur das immer in die Augen springende Quinten sich ansieht, auf einem sehr schmalen abschüssigen Uferrande, am Fusse der senkrecht über 6000 Fuss aufsteigenden Kurfirsten gelegen, so dass nur gewandte Kletterer von da nach Walenstad gelangen können und die Kommunikation mit der Welt nur zu Wasser möglich ist, der muss zweifeln, dass die im Militärsache sehr praktischen Römer diesen abgeschiedenen Ort zu einer Militärstation gewählt haben sollten, während dieses für Quarten und Terzen an der andern Seite des Sees wohl möglich wäre. Zudem korrespondiren die fünf nahe bei einander liegenden Orte nicht in der Art mit einander, wie man es erwarten dürfte: von Primsch aus sieht man keinen der übrigen Plätze und von Gons aus nur Quinten. Der Hauptgrund aber, den der gelehrteste Alterthumsforscher in der Schweiz, Ferd. Keller, gegen jene Annahme, nach genauen Erkundigungen und Nachforschungen an Ort und Stelle, geltend gemacht hat, besteht darin, dass an keinem der fünf Orte Ueberreste römischer Bauten und künstliche Erhöhungen und Vertiefungen in der Erde sich finden, wie sie nicht fehlen würden, wenn die Römer für militärische Zwecke sich dort festgesetzt hätten. Der genannte Gelehrte nimmt daher an, es seien jene Namen im frühen Mittelalter entstanden und er vermuthet, dass durch dieselben die Besitzungen eines weltlichen oder geistlichen Grundherrn bezeichnet wurden, zur Zeit, als diese Lokalitäten noch nicht mit Häusern besetzt, sondern gleich andern, jetzt zu Ortschaften gewordenen Gütern, Roncalia, Reutenen, noch unbewohntes und eines bestimmten Namens entbehrendes Land oder Weideplätze waren. Das genannte Quinten, dessen Bewohner nicht Quintaner, sondern Quintener heissen, so einsam es auch daliegt, hat gutes Weideland und selbst einige Weinberge, die feurigen Wein liefern, so dass es den Leuten nicht an «Trosteinsamkeit» fehlt, und sie fühlen sich auch nicht so abgeschieden von der Welt, als man glauben sollte, denn nicht leicht hält Wind und Wetter sie ab, sich mit ihren Böten auf den See hinaus zu wagen und nach Walenstad überzusetzen oder nach Quarten, wohin sie kirchgehörig sind. Ein junger Bauer, gegen den ich äusserte, mit welcher Gefahr doch das Leben der Quintener verbunden sei, erwiderte lachend über meine Unkenntnis, er habe noch nie gehört, dass ein Quintener ertrunken sei. Es kam ihm der Gedanke so sonderbar vor, als wenn ich gesagt hätte, ein Fisch könne ertrinken. Die übrigen Anwohner des Sees schreiben ihnen eine wahre Katzennatur zu und behaupten, wenn das Boot eines Quinteners umschlage, so klettere er auf den Kiel, und wenn das Schiffli vom wilden See verschlungen werde, so schwimme er ans Land. Sonst ist der Walensee berüchtigt genug und hat manches Opfer gefordert. Da er nur gegen Morgen und Abend offen ist, so sind die regelmässigen Winde der Ost- und Westwind, die in guter Jahreszeit sich sehr ordnungsgemäss ablösen: Morgens bis zehn Uhr Ostwind, dann bis ein Uhr Windstille, von ein Uhr bis gegen Abend Westwind, und um Sonnenuntergang stellt sich wieder der Ostwind ein. Bisweilen laufen Ost- und Westwind der Länge des Sees nach nebeneinander, so dass die Schiffe auf der einen Seite «obsi», auf der andern «nidsi» segeln können. Seltener, aber gefährlich sind der von dem Gebirge in den Wasserspiegel herabstossende Föhn und der die Wellen dem Kerenzerberge zuwerfende Nordwind. Der letztere, auch Bättliser genannt, von dem Ort, an welchem er in den See braust und unter diesem Namen in der Volkssage als böser Geist personifiziert, ist der gefürchtetste von allen Winden und scheint auch das grösste Unglück, von dem die Geschichte des Walensees meldet, den Untergang des Dampfschiffes Delphin in der Nacht vom 16. bis 17. Dezember 1850 veranlasst zu haben. Ein alter Schiffmann, der mir über dieses Unglück berichtete, nannte aber diesen Wind den Wind vom «Blättli» und zeigte auf diesen Punkt im Gebirge an der andern Seite von Amden, nach Weesen zu. Wäre die alte Schifffahrtsordnung noch in Uebung gewesen, nach welcher die Nachtfahrten auf diesem See gänzlich verboten waren und kein Schiff, das älter war als drei Jahre, in den See tauchen durfte, so hätte sich dieser traurige Fall nicht ereignet. …

Der Walensee als grosse Wasserstrasse ist jetzt leer geworden, seit die Eisenbahn durch die kühnen Tunnel an südlichen Gestade sich hindurchwindet. … Die Tunnelfahrt wird meistens als sehr interessant gerühmt und kann auch so genannt werden, aber ich finde wenig Geschmack daran, da ich die Dampfschifffahrt, welche zwischen den beiden Eisenbahnzügen eine so schöne Abwechslung bot, noch zu deutlich in Erinnerung habe und wie man auf ihr in einer Stunde so ruhig den ganzen See und seine beiden Ufer bis zu den Berggipfeln überschauen konnte, während man jetzt nur verstohlene Blicke auf den See und an die Felsen des nördlichen Ufers wirft …

Die Art, den Walensee zu bereisen, hat überhaupt verschiedene Phasen durchgemacht, wenn man sie von der Zeit an verfolgt, als der geniale Künstler und ritterliche Abenteurer Benvenuto Cellini vor mehr als dreihundert Jahren auf seiner Reise von Italien nach Paris hier passirte. … Cellini trat mit seinen beiden Begleitern die Reise von Padua zu Pferde an und erzählt von seiner Reise, «… und kamen zu einem Orte, der wenn ich mich recht erinnere, Valdista (Walenstad) hiess, wo wir Quartier nahmen. Des Morgens zogen wir ab und kamen an einen See, der zwischen Valdista und Vessa (Weesen) liegt und fünfzehn Miglien lang ist. Als ich die Kähne dieses Sees sah, fürchtete ich mich, denn sie sind von Tannenholz, weder gross noch stark noch verpicht … Als wir ungefähr vier Miglien zurückgelegt hatten, fing der See an stürmisch zu werden, … In dieser Todesgefahr fuhren wir einige Miglien weiter. … an einem niedrigen Platz des Ufers … das erlangten wir mit grosser Schwierigkeit. Als wir aber ans Land gestiegen waren, mussten wir zwei Miglien einen Berg hinauf, schlimmer als hätten wir über eine Leiter steigen sollen. Ich hatte einen schweren Ringpanzer an, dicke Stiefeln, eine Flinte in der Hand und es regnete, was Gott nur schicken konnte. … aber die unsrigen ((Pferde)) taugten nicht dazu und wollten vor Anstrengung umkommen, als wir sie diesen beschwerlichen Berg hinaufzwingen mussten. … so dass wir endlich bei dem allereinsamsten und wildesten Wirthshause ankamen, durchweicht, ermüdet und hungrig. Man nahm uns freundlich auf; wir ruhten aus, trockneten uns und stillten unsern Hunger.» …  Man erfährt nicht, wo Cellini mit Gewalt die Landung erzwang. Wenn der Ort, wie man vermuthet hat, das jetzt so liebliche Bättlis gewesen ist, von wo der steile Fussweg auf den Ammonn jedenfalls nicht bequemer war als gegenwärtig, so begreift man, dass einem bepanzerten Manne mit Reiterstiefeln diese Tour halsbrechend vorkommen musste. …

Bättlis ist eine romantische lieblichgrüne Oase, ein kleines Paradies, wie hingezaubert zwischen der grauen Felswand und dem tiefen See. Hoch oben vom Felsen eilt der Serenbach, um als silberheller Wasserfall sich mit dem Beyerbach zu verbinden, dessen Wasserfülle unmittelbar unten aus dem Felsen hervorströmt und, sei es wegen der immer gleichen «rinnenden» Wassermasse oder weil man glaubt, er sei ein Arm des Rheins, der sich durch den Berg eine Bahn gebrochen, in der Gegend der «Rhîn» genannt wird. Hinter der Oeffnung, aus welcher das Wasser hervorschiesst, soll im Innern des Berges ein See sein. Auf der Brücke, die über den Strom gelegt ist, wird man von dem Tosen des Wassers betäubt und weithin am jenseitigen Ufer des Sees hört man das unablässige Rauschen. Nicht weit davon schaut die Ruine Stralegg trotzig in den See hinaus und dort soll der böse Geist hausen, der als «Bättliser» Schrecken verbreitet und die Schiffe, die sich in der Nacht hinauswagen, in die Tiefe wirft. …

Bei einem Gewitter kommt es oft vor, dass es bis unter Quinten regnet und rinselt, während der See nach Weesen zu spiegelhell ist; wenn aber das Gewitter in voller Kraft auftritt, so wird der Donner von Wand zu Wand geworfen und sein Rollen hat kein Ende, während Blitz auf Blitz rasch an den starren Felsen zerschellt. …
(Quelle: Wanderstudien aus der Schweiz. Erster Band. Von Eduard Osenbrüggen. Fr. Hurter’sche Buchhandlung, Schaffhausen, 1867)

… Am Walensee wird der Gebirgswanderer auf das vorbereitet, was ihn da hinten in jenen erhabenen Bezirken erwartet. Es liegt dieser See gleichsam vor der Schwelle der Alpenwelt, und die eiligen Wasser, die sich mit den seinigen mischen: im Osten die Sez bei Walenstad, im Westen, in der Nähe Wesens, die Linth, die Murg von Süden her, leiten in die prächtige Gebirgswelt der hintern St. Galler und Glarner Alpen hinein, …

… die wildtrotzigen Reckengestalten der Churfirsten. Diese gehören dem Lande der Hirten und diese möchten sie wohl hin und wieder die «Kuhfürsten» nennen, wer aber der alten Herrlichkeit des Reiches gedenkt, begabt sie mit dem Namen der «Sieben Churfürsten», führt ja einer der Firsten sogar den Namen Kaiserrück. Sie aber haben nichts mit Kühen und Kaiserwahlen zu thun, sie sind freie Leute, heissen Churfirsten, die Grenzgipfel des antiken Churwalengau’s, der im Süden bis zu den Quellen des Hinterrheins, an die Felsmauern der Adulagruppe reichte.

Damals schied Wälsches und Deutsches sich noch scharf. Die Alemannen staueten sich an der Limmat bei Wesen und am Rheine blieben sie auf dem rechten Ufer der Iller, auf deren linkem der Walgau begann, stehen. Zwischen den alemannischen Ansiedlern an der Limmat aber und den Wälschen drüben in Churwalden breitete sich der See, der denn den Namen Walensee, der See der Wälschen, erhielt. Das jenseitige Gestade, das seine Anwohner Riva nannten, wie auch der See von Alters her Lacus rivanus und seine Hauptstadt Portus rivanus genannt ward, hiess bei den Deutschen das Gestade der Walen oder Walenstad, ein Name, der ihm bis heute geblieben. Der Ort lag damals an den Grenzen des uralten Bisthums Chur, und von ihm aus setzte die wichtige Strasse, die Rhätien und Gallien verband, von Curia nach Turicum hinüber und führte nach Vindonissa. Da ward der See noch ein wichtiges Glied in der grossen Strassenkette, und Portus rivanus bedeutete gar viel als Landungs- und Verladungsplatz, wie als strategischer Punkt.

Doch lange bevor noch Römercohorten oder deutsche Scharen die Strasse von Sargans her über den See zogen, schritt ein ganz andrer, ein viel mächtigerer Fürst diese Bahn, ein freigeborener Sohn der Berge: niemand Geringeres als er, der junge Rhein. Zwar Pergamente beweise dies nicht, und Viele zucken ungläubig die Achsel und verweisen diese uralte Pilgerfahrt des Rheins in das Reich der Fabel. Und doch, wie leicht möglich war es ihm, ehe er noch die Felsen zwischen Gonzen und Fläscherberg durchbrochen, in der allzeit bequemeren Diagonale links hinüberzuschwenken, von Sargans ab aus dem Bett der heutigen Seez sich in den Walensee zu stürzen, von diesem durch die jetzt modernisirte Linth der Marchebene und durch den Zürichsee zu laufen, von wo aus der Weg, der ja heute für Limmat und Aare viel zu breit ist, bis Waldshut gar leicht zu finden gewesen wäre. …

Gewiss haben alle, die von Zürich her nach Wesen kamen oder von Sargans aus die Bahn am Südufer entlang fuhren und es ihnen gerade mit einem blitzenden Sonnentage glückte, geblendet die Augen geschlossen, wenn sie bei einem überraschenden Durchblicke den See zum erstenmale erschauten. Dann aber erfasst das Auge eine förmliche Schauleidenschaft, und das grosse Bild: gegen Norden die starren, graugelben, tiefzerklüfteten Felsenmauern, die unvermittelt aus dem Wellenbade einer blaugrün-goldigen Fluth, vier- bis sechstausend Fuss hoch in die schwebenden Wolken hineinsteigen, die schäumenden Fälle der Gebirgsbäche, die wie leuchtende Nymphenschleier aus dunklem Geklüft herabflattern, in dem Geklüft der Höhe dann einzelne weissglänzende Wohnungen von Menschen, zu denen die kleinen geduckten Häuser und Hütten aus der Nachbarschaft der Wellen emporschauen, dann das üppig umlaubte, von südlichen Kränzen und Blumen umschlungene diesseitige Ufer, dazu die fernen sanften Glocken weidender Heerden – ein Jauchzer in der Höhe – ein Steinadler ausgebreitet über den zerklüfteten Gipfeln der Churfirstenkette – dieses grosse, reiche Bild macht die Seele trunken vor Lust.

Voll Trotz aber und wie voll Neid über die Reize des sanftgeformten Südufers blicken die wilden Berge von drüben herüber, und da geschieht es denn gar oft, dass sie die schwarzen Wolken von nah und fern herbeiwinken. Und sie kommen. Zuerst sich die flatternden Säume an den Spitzen der Felsen zerreissend, werden sie alsbald vom Leistkamm dem Selun, von diesem dem Brisi, dem Hinterrück, dem Sichel- und Ochsenkann in massigen Ballen zugeschleudert. Dann füllen sie, sich aufbäumend, die unheimlichen Schluchten, dann steigen sie tiefer und tiefer. – Schwarze, zuckende Schatten gleiten über den See, denen sich weissblitzende Schäume mischen. Ein dumpfes Getön erbraust in dem Geklüft der Churfirstenkette – die Sonne löscht aus, und wie des Zeus Riesenvogel stürzt sich der Nordwind breit und schwer in reissender Wucht auf die erschreckten Fluthen. Auf schäumen diese und steigen hoch und höher! Sie ringen miteinander, sie umarmen die Felsen und möchten an diesen hinaufklettern in Wuth und Angst.
Das ist der tolle «Blättiser», der böseste Gast des schönen Walensee’s, der durch ihn nie zum Frieden kommt, und der auch der Menschenleben in den seebefahrenden Barken so manche schon gefährdet, ja sogar schon einmal in wilder Winternacht ein Dampfschiff mit allem Leben darauf in der nichts zurückgebenden Fluthentiefe begrub. Durch diesen Wind wird der See trotz seiner Schönheit zum unheimlichsten des Schweizerlandes.

… Dieses alte Quinten hat seine Brüder, welche Terzen und Quarten heissen, hier auf dem südlichen Ufer und aus diesen Namen schloss man, dass einst die Römer auf diesen Bergen sassen und ihre militärischen Feuerzeichen von einem Ufer zum andern spielen liessen. … Während aber sämmtliche Militärstationen später ihre Bedeutung verloren und von friedlichen Hirten eingenommen wurden, blieben Walenstad und Wesen immer von Wichtigkeit wegen der Schifffahrt und des steten Durchzugs wälscher und deutscher Waaren.
In unserem Jahrhunderte gab es Dampfschiffe auf dem Walensee, bis endlich in der neuesten Zeit die Eisenbahn sich in die Uferberge des Südufers gedrängt hat und durch Tunnel und Ueberbrückungen, oft hart über den Wellen, von Walenstad nach Wesen schreitet. Da hat die Dampfschiffahrt aufgehört.

Wesen! Das kleine Wesen, das sich wie ein Kind, welches das Wasser scheut und den Fuss zurückzieht, an die Felsen der Westspitze des See’s gedrängt hat und halb auf die hinansteigt, übergrünt von sorgfältig bebauten Wein- und Gartenterrassen, …
(Quelle: Das Schweizerland. Eine Sommerfahrt durch Gebirg und Thal. Woldemar Kaden, 1875-1877)

Bei frühem Morgen verliess ich das traurige Wallenstadt. Auf einem trockenen Wege in der Mitte von Sumpf zu beiden Seiten gelangt man in einer Viertelstunde an das Seeufer. Hier wo die Kähne und Schiffe abfahren und anlanden, steht ein Gebäude (Gebäude, welche diese Bestimmung haben, werden in der Schweiz Süsst genannt), worin die Kaufmannsgüter, welche aus Italien kommen, bis zur weitern Reise niedergelegt werden. Als der Levantische Handel in den Händen der Venetianer und Genueser lag, war der Waarendurchgang auf dieser Strasse durch Graubünden über den Wallen- und Zürchersee ausserordentlich. Der lebhafte Betrieb, welcher dadurch in diese Gegenden verbreitet wurde, ist gesunken, seitdem die asiatischen Erzeugnisse auf andern Wegen nach Europa kommen; und das Gewerbe, welches der jetzige Waarentransport veranlasst, steht damit in keinem Vergleich. Doch ist er immer noch von der Wichtigkeit, dass die Regierungen der Kantone Glarus, Schwiz und Zürich die Schifffahrt auf diesem See und durch die Linth nach dem Zürichersee der Aufsicht eigends dazu bestellter Beamten anvertrauen, welche über die Beobachtung der Schifffahrtsregeln zur Sicherheit der Kaufmannswaaren wachen. Jeder Nachen auf dem See darf z. B. nicht länger als drei Jahre gebraucht werden. Die Schiffer müssen immer auf die Mittagsseite lenken, weil sich dort zwei Stunden weit landen lässt, im Fall plötzlich Stürme auftreten. Die Preise für die Schiffleute sind bestimmt: für den offnen Nachen und zwei Ruderknechte von Wallenstadt nach Wesen ist zwei Gulden, Wein und Brod für 15 Kreuzer festgesetzt; ein weisses Tuch über den Kahn zum Schutze gegen die Sonne kostet 1 Gulden.

Freudig sprang ich in den Nachen, der mich über diesen See von so wilder Physiognomie führen sollte. Das Wetter war schön und heiter, und ein milder Ostwind trieb uns vom Ufer. Welch ein neuer ausserordentlicher Anblick in dieses Felsenperspektiv nach Westen über den 4 Stunden langen Wallensee! Hier zeigt die Natur ihren Charakter in allmächtigen Zügen; Form, Ausdruck, Farbenton, Alles trägt Eigenthümlichkeit, und erhält den Seher in stetem Erstaunen. Auf der Nordseite, von Wallenstadt an bis Wesen, stürzen fürchterliche Felsen senkrecht in die schwarzen Fluthen. Mittagwärts ziehen hohe, aber grüne fruchtbare Berge bis Müllihorn, und gehen dann plötzlich in eben so nackte Felsen über, wie am nördlichen Ufer. Westlich rücken die Glarner Gebirge hinter Urnen durch optische Täuschung so nahe am See, dass sie dessen Kessel dort zu schliessen scheinen. Wer könnte sich erkühnen die Umrisse dieses wilden grossen Ganzen mit anschauender Wahrheit zu zeichnen und das mannigfaltig wunderbare Gemisch ihres Ausdrucks in allen Theilen mit getreuen Farben vor Augen zu mahlen! Das Ganze und das Einzelne, Alles ist hier im höchsten Grade mahlerisch, und ein Landschaftszeichner könnte an diesem See ein langes Studium hoher Gebirgsgegenden finden.

Wir steuerten nördlich gegen die ungeheuern Felsen Schwalbis und Joosen. Diese Felsmasse wird auch Ochsenkamm und Sichelkamm genannt. Der Sichelkamm setzt vom See hinter Wallenstadt fort, und trägt eine Reihe nackter Felshörner, welche man besonders in der nördlichen flachen Schweiz sehr deutlich sieht, und mit dem Namen der sieben Churfürsten bezeichnet. Kuhfürsten heissen diese Hörner, aber nicht Churfürsten, wie der Züricher sie nennt. Als ich ihren nackten grässlich zerrissnen Wänden näher kam, verwandelte sich mein Staunen in angstvolles Entsetzen; die furchtbaren Steinmassen über meinem Haupte zermalmten mich schwaches Insekt. Hier wartet dem armen Schiffer bei Sturm Verderben und Tod; kein Plätzchen zum Landen, kein Felsvorsprung zur Rettung des Unglücklichen; glatt und senkrecht ist die Wand, klafterhoch schlagen schäumend die Wogen, Untergang ohne Erbarmen brüllt Fluth und Felsenecho dem Bebenden zu, das Schiff zerschmettert unter zischender Wuth und sinkt in die schwarzen Abgründe des Sees. Mein Weilen war nicht lange; ich liess wenden und gen Mittag rudern, wo bewaldete Berge und freundliche Ufer dem Auge Erholung geben. Diese sanftern Formen müssen in der Nähe betrachtet werden, um ihre Schönheiten zu geniessen. … Mit jedem Ruderschlage, der dem südlichen Ufer näher bringt, entwickelt sich immer mehr die furchtbare Höhe und Gestalt der nördlichen Felsmauern.

Mitten in dieser grässlichen Natur, wo vom See bis zu den höchsten Spitzen nichts als graue Nacktheit herrscht; entdeckt man Menschenwohnungen. Am Fuss des Quintenbergs neben dem Joosen an einer Kluft liegt Quinten, das einzige Dörfchen auf dieser Seite, dessen Häuser an den ungeheuern Wänden kleiner noch als Kartenhüttchen sich zeichnen. Hin und wieder giebt es Felsvorsprünge, deren obere Flächen mit dem hellsten Wiesengrün überzogen sind. An manchen Punkten dieser steilen Mauern steigen diese Vorsprünge terrassenweise in gewissen Entfernungen über einander, und gewähren den sonderbarsten Anblick. Von einigen blicken Wohnungen, von Wiesen, Weinreben und Obstbäumen umkränzt, wie grünende Inseln im todten Steinmeer wunderbar auf den See herab; das Auge entdeckt nichts von den Pfaden, auf denen die Bewohner und ihr Vieh durch die schreckliche Felsenwüste zu ihrer einfachen Heimath hinaufklimmen. Andere Häuschen ganz tief unten scheinen zwischen dem See und dem Felsenfusse zu schweben. Wenn man ihnen näher kommt, so sieht man, dass sie auf fruchtbaren Hügeln stehen, welche aus verwitterten herabgerollten Gestein entstanden sind. Hier im Schoosse der hehren Natur giebt es so manches romantische und mahlerische Plätzchen, so manche von der ganzen übrigen Menschenwelt abgesonderte Wohnung, welche für edle und grosse Seelen in gewissen Stimmungen über alles anziehend seyn würden. …

Bis Müllihorn führt von Wallenstadt eine Strasse für Fussgänger und Reiter; von hier können die Reisenden entweder auf dem See nach Wesen fahren, oder über das Gebirge Kerenz herab nach Mollis in das Thal von Glarus gehen. …

Die Schiffleute aus Wallenstadt wollten mich wegen des entstandenen starken Westwindes nicht weiter führen; ich war herzlich froh; diese mürrisch und kränklich aussehenden Wallenstädter gegen zwei grosse gesunde und kraftvolle Glarner Jünglinge zu vertauschen, aus denen Freundlichkeit und beherzter Sinn sprach. Das Kerenzer Gebirge erhebt sich gleich neben Müllihorn sehr jäh, wird immer fürchterlicher, und geht in eine grässlich wilde nackte Felsenwand über, an deren Fuss sich die Wellen des Sees dumpf und grausend zerschlagen. Dieses Stück ist das gefährlichste des ganzen Sees, weil man hier auf keiner Seite landen kann, denn gegenüber nördlich blicken der Quinten-, Seren- und Ammonberg eben so zurückscheuchend den Schiffenden an. Der Westwind blies uns heftig entgegen, die schwarzgrünen Wogen wälzten immer schäumender heran; allein der muskulöse Arm meiner Glarner trieb den Nachen mit beruhigender Sicherheit gegen die Mitte des Sees. … Der Wind legte sich, die Wolken stiegen über die Felsen empor, und das entzückendste Gemählde entfaltete sich vor meinen Augen. Wer wäre im Stande den Volleindruck dieser ausserordentlichen Natur von Serenberg bis zu Oberspiz wiederzugeben? Diese Natur, wo jeder einzelne Theil unerschöpflichen Reichthum des Mahlerischen besitzt? Ueber die grauen Wände des Seren fällt der Serenbach von der obersten Höhe silbern in verschiedenen Sätzen in eine Bucht, an deren oberen Rande unter einem dicken Kranz von Gesträuch aus nackten Felsen der volle Baierbach herauswühlt. Weiter hin erheben sich aus dem See gelbröthliche Mauern, welche der Ammonbach in schönen Fällen bewäscht, und an deren Höhe die Reste des Schlosses Strahlek hängen. Auf diesem stolzen Felsenfuss steigt der grüne mit Wohnungen übersäete Ammonberg in zurückweichender Fernenhöhe empor. Umgeben auf allen Seiten von nackten und schroffen Felsen sonnet sich dieser fruchtbare und von Menschen bewohnte Berg in der stolzen Nachbarschaft der Wolken und gewährt den Schiffenden ein reizendes Bild. Mehr nordwärts strebt der hohe Bätliser empor, welcher mit dem bewaldeten Oberspiz den See von dieser Seite einschliesst; zu ihren Füssen dicht am Ufer schwimmen die Dörfchen Bätlis, Fley und der Flecken Wesen mit seinen Kirchen und zerstreuten Häusern. …

Ich konnte nicht widerstehen, die prächtigen Wasserfälle in der Nähe zu bewundern, und sie verdienen allerdings den kleinen Umweg. Ein schmaler Schlund führt vom See in eine runde Felsenbucht. Man klimmt über herabgefallene bemooste Felsbrocken, und erblickt alsdann den hohen Fall des Serenbachs, welcher von einigen 1600 Fuss, von andern 1200 Fuss geschätzt wird. Seine Wassermasse ist nicht stark, und in heissen Sommern hört sie auf zu fliessen. In der Höhe von einigen hundert Fuss stürzt der volle Baierbach aus Felsspalten von Bäumen, Gebüsch und Epheu bekleidet mit heftiger Gewalt und tobendem Rauschen hervor. Dieser prächtige und mahlerische Wasserfall wird, ich weiss nicht warum, von den Reisenden der Schweiz wenig besucht. Der enge Schlund, durch welchen die Wässer des Baier- und Serenbachs ihren Ausfluss nehmen, gewährt eine originelle Durchsicht über einen schmalen Streif des Sees gerade nach dem Dorf Müllihorn. So wie man aus dieser dunklen eingeschlossnen Kluft heraustritt, erscheint die grosse Landschaft im doppelten Glanz, und die Fahrt von hier bis Wesen ist eine Reihe von Gemählden in dem erhabensten Style der Gebirgsnatur. …

Der ganze Felsenzug von Sargans bis an den Ammon ist schroff und nackt; auf seiner Nordseite hingegen trägt er auf breiten Rücken die zahlreichen Alpen und Weidgänge des Toggenburgers. Alle Felsen am See von dem Ochsenkamm bis an den Seren stehen wie mitten in ihren Körpermassen durchrissen, und zeigen daher ihre Schichtung dem beobachtenden Auge sehr deutlich. Die Kalklagen sind sehr mächtig, beobachten aber nicht eine allgemeine Ordnung, sondern vielmehr die entgegengesetztesten Richtungen. Ich bemerkte z. B. einige Felsen, deren horizontale Schichten in grossen Bogen auf der einen Seite nach Süden, auf der andern nach Norden senken. Ueberall nimmt man an dieser Felsenreihe, wie an den meisten nach Mittag gewandten Gebirgen, die deutlichsten Spuren immer fortschreitender Verwitterung wahr. Schnee und Regenwasser, Eis, Hitze und Frost wirken hier allgewaltiger und in schnellern Abwechslungen als an deren Nordseite. Jene Kräfte nagen unaufhörlich an diesen ungeheuern unzerstörbar scheinenden Massen. Ihre Hörner und höchsten Grate zerklüften, spalten und splittern; Wind und Regen führen alsdann die abgelösten Felsenstückchen über die hohen Wände herab. Da wo von mehrern Seiten die stärksten Wassergüsse zusammentreffen und also auf einen Punkt die meisten Steinsplitter zusammenführen, häufen sich hohe Pyramiden an, deren breitste Seite an den Felsenfuss gelehnt liegt. Diese Schuttkegel von dem Schweizer Ryffenen, Rysenen genannt, zeigen sich an allen nach Süden gekehrten Gebirgen von Wallenstadt an bis Sargans, und jenseits des Rheins von Meynfeld hinunter nach Chur. Ueberall steigen sie an den Felswänden zu einer beträchtlichen, und zwar, was merkwürdig ist, zur nämlichen Höhe hinan, ausgenommen an dem Wallensee. Die herabgeführten verwitterten Kalksteintrümmer stürzten hier in den tiefen Kessel des Sees, und bildeten, aber freilich viel langsamer als auf dem festen und von wüthenden Wellen nicht beunruhigten Thalboden, ganz ähnliche Schuttkegel, deren Spitzen hin und wieder erst einige Klafter über die Seefläche hervorragen. Im hohen Sommer verlieren die Felsen um den Wallensee ihren Schneemantel, und erscheinen grau bis zu ihren höchsten Scheiteln, doch dauert diess nur einige Wochen.

Der Wallensee gehört zu den tiefsten Seen der ganzen Schweiz. Sein Wasser ist hell und schön. Eine Menge Bäche, unter denen die Seez aus dem Weisstannenthal der stärkste ist, führen ihm alle Gewässer aus einem Bergdistrikt höchstens von 12 Stunden Länge und 4 bis 5 Stunden Breite zu. Der ganze Zufluss, den derselbe erhält, ist im Vergleich mit andern Seen sehr gering; sein Aufschwellen und Ueberschwemmen liegt daher nicht in der übermässigen Wassermenge, welche ihm zugeführt wird, sondern in den entfernten Ursachen, die seinen leichten und schnellen Abfluss am westlichen Ende verhindern. …

Wesen ist der Landungsort am westlichen Ende des Wallensees, und der Hafen des Kanton Glaris, wo ihm Getreide, Wein und Baumwolle ausgeschifft wird. Hinter dem Flecken erhebt sich der fruchtbare hohe Oberspitz, auf dessen Fuss einige Landhäuser zwischen Obstbäumen und Weinreben stehen. Die Ansichten von diesen Standpunkten sind herrlich. Ehemals war Wesen ein wohlhabendes Städtchen. Wegen des Meuchelmords, welchen dessen Einwohner im Jahr 1387 an der helvetischen Besatzung begingen, wurde es verbrannt, und seitdem hat sich dieser Ort nie wieder erholt. Jetzt ist es ein betrübter Flecken voll armer und kranker Einwohner. Alle Jahre wird der ganze Ort wenigstens einmal, öfters zweimal überschwemmt, und bisweilen dergestalt, dass man aus den Kähnen in den ersten Stock der Häuser einsteigt. Morast und Schlamm füllt hier, so wie zu Wallenstadt, die Strassen, und lange nach der Zurücktretung des Sees muss man überall auf Brettern neben den Häusern hingehen.
(Quelle „Schilderung des Gebirgsvolkes“, 1802, Johann Gottfried Ebel)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert