Das Bergsteigen ist bekanntlich eine schöne Sache; aber wenn man sozusagen jeden schönen Sonntag auf einem Gipfel gestanden, nimmt man gerne einmal mit einer bescheidenen Tour vorlieb, namentlich wenn sie uns Neues und Interessantes verspricht. Begleiter für solche kleine Touren während der Hochsaison zu finden, ist aber nicht einmal leicht, da eben die «wirklichen Hochtouristen» nur auf Touren gehen wollen, die auf eine Höhe von mindestens 2000m führen!
Meine Bekanntschaft mit dem bekannten Höhlenforscher und Clubgenossen Dr. Paul Egli machte es mir möglich, eine Höhle zu besuchen, die vielleicht der Sage nach vielen, durch persönlichen Augenschein aber wenigen bekannt sein dürfte: Ich meine das Wildmannliloch am Selun (Kurfirsten). Ueber diese Höhle, die sich ungefähr bei Punkt 1690 des T. A. Nr. 251 befindet, erzählt die Sage folgendes:
Der letzte dieser Wildmännlein, «der Seluner», ist im Sommer 1844 auf der Alp Selun gefangen gesetzt worden. Die Sennen dort machten nämlich die Wahrnehmung, dass einige Kühe immer weniger Milch lieferten. Sie passten auf und sahen ein Geschöpf aus dem Gebüsch hervortreten und sich der Herde nähern. Es war am ganzen Leibe nackt, aber mit einem dichten Haarpelz bedeckt. Die Sennen waren nicht wenig erschrocken; ihr Erstaunen wuchs, als der Wilde sich einer Kuh näherte und die Milch in den Mund melkte. Sie drangen auf den Arglosen ein, bemächtigten sich seiner nach harter Gegenwehr, fesselten ihn mit Stricken und führten ihn zu Tal. Der Wilde mochte etwa 15 Jahre alt sein. Man brachte ihn ins Armenhaus Alt St. Johann. Alle Versuche, ihn einigermassen zu erziehen, erwiesen sich als erfolglos; die Kleider zerriss er und sich in ein Bett zu legen, verweigerte er. Reden konnte und lernte er nicht. Anno 1889 starb er.
Die Geheimnisse der Wohnstätte der Wildenmänner zu ergründen, war daher gewiss ein verlockendes Unternehmen. Wir versahen uns mit allem Nötigen, das die Höhlenforschung erfordert: Seile, Acetylenlampen, photographische Apparate, Messinstrumente u. a. – Es war ein schöner Herbsttag, der uns nach Alt St. Johann führte. Fast reute es mich, bei dem Wetter nicht eine andere Tour in Angriff genommen zu haben.
Als wir von Alt St. Johann zum «Strichboden» hinaufsteigen, ist es schon dunkel und im Westen wetterleuchtet es. Die Luft ist schwül und die Säcke drücken. Nur der monotone Schritt der zwei einsamen Wanderer unterbricht die nächtliche Ruhe. Alles ist still und schweigsam. So geht es wohl eine Stunde lang aufwärts. Plötzlich fängt es in den Baumwipfeln an zu rauschen, erst ganz leise, dann stärker. Und dann fallen einige Regentropfen. Der Wind nimmt an Heftigkeit zu und die schlanken Stämme der jungen Buchen reiben sich wild aneinander. Doch nicht genug; der Regen verwandelt sich in Hagel und peitscht uns seinen Gruss auf Kopf und Hand. Wir beeilen uns, denn die Hütte kann nicht mehr weit sein. Hell leuchten die Acetylenlaternen, auf deren Gehäuse der Hagel wilde Wirbel schlägt. Kreuz und quer durchstreifen wir keuchend das hügelige Gelände, auf dem wir endlich das ersehnte Obdach finden. Wir legen die nassen Joppen ab und begeben uns zur Ruhe. Doch bald weckt uns das Hagelwetter wieder auf. Die Hagelsteine prasseln mit dämonischer Wucht auf das Hüttendach hernieder, Blitze durchleuchten die schwarze Nacht und Schlag auf Schlag ertönt der Donner, in endlosem Echo wiederhallend. Nach einer Stunde war auch der zweite Akt des grossartigen Naturschauspieles vorüber und wir legten uns wieder ins Heu.
Am Morgen suchten wir die Höhle auf, die in einer halben Stunde erreicht war. Von deren Tor geniesst man einen hübschen Ausblick auf das obere Toggenburg und die Säntisgruppe. Wir befestigten einen Bindfaden, der als Mass zu dienen hatte, am Höhlentor und begannen den Einstieg. Den Aufzeichnungen meines Begleiters entnehme ich nun folgendes: Der Eingang der Höhle befindet sich auf 1640m Meereshöhe. Temperatur morgens 7 Uhr am Boden 8,2 Grad, an der Decke 14 Grad, 6m vom Eingang gemessen.
Der Gang ist anfänglich sehr weit, aber dass man mit einem Wagen hineinfahren könnte, wie Rochholz in den «Schweizersagen» erzählt, davon ist keine Rede. Der Boden war anfänglich trocken, dann feucht und dann betraten wir eine Lehmschicht und kleine Wassertümpel. Bis zirka 50m kann man stehend, von da an ein Stück weit nur kriechend oder knieend vorwärts kommen. Während der Durchmesser des Höhlenganges bis hierher ungefähr 2m beträgt, verengert er sich plötzlich auf 50 bis 60 cm, seine Höhe steigt aber bis auf 3m, um dann allmählich wieder abzunehmen, bis ein Vorwärtskommen schliesslich nur noch auf dem Bauche möglich ist. Ungefähr 100m vom Eingang entfernt teilt sich die Höhle in zwei Gänge, die aber nach wenigen Metern wieder zusammenlaufen. Von Distanz 150 bis 200 zeigen sich im Boden und an den Wänden merkwürdige Höhlungen (sogenannte Wannen), die bis 1m lang, 3 dm tief und 3 bis 4 dm breit sind. Der Boden ist namentlich gegen das Ende der Höhle äusserst schlammig; überall liegen faulende Holzstücke und Kohlenteilchen. Wir fanden ferner Skeletteile einer Fledermaus. Die Gesteinsschichten sind fast horizontal und oft mit schönen Bänken geziert. Die Deckenoberfläche ist manchmal ganz flach. Zu hinterst ist der Gang mit Sturztrümmern bedeckt. Die Höhle hat eine Länge von 220m und verläuft in der Richtung von Nordost nach Südwest. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Höhle ursprünglich die Quelle eines Flusses bildete. Merkwürdigerweise fanden wir keine Spur eines Menschen oder grösseren Tieres.
Einige photographische Aufnahmen und eine Schlammkruste, die meinen Anzug vollkommen bedeckte, war der einzige Gewinn, den ich von der Entdeckungsreise mit nach Hause brachte; glücklicherweise war der meines Begleiters etwas grösser, was mich einigermassen tröstete. Immerhin muss ich zugeben, dass mein Talent als Höhlenforscher einer weitern Entwicklung nicht fähig zu sein scheint.
(Quelle: Alpina XVII – 1910. Von Willy Baumann, S. A. C. Uto)