… Begleite mich nun, freundlicher Leser, ins weiden- und tannengrüne Obertoggenburg. Schon von Wattwil oder Ebnat aus betrachten wir jene eigenartige prächtige Gebirgskette der Churfirsten, die in ihrer Siebenteilung wie die Zähne einer Säge uns entgegenblinken. (Ihre Namen sind von Westen nach Osten: Selun, Frümsel, Brisi, Zustoll, Scheibenstoll, Käserruck und Hinterruck). Einstens bildeten diese sieben Berge einen einzigen zusammenhängenden Felsenrücken, der wie heute, einem Dache gleich, seine Gesteinsschichten nach Norden, dem Tale von Alt St. Johann zuwendet. Am Fusse derselbigen Schrägdächer breiten sich über dem herrlichen Alpenfichtenwald weitgedehnte fruchtbare Matten aus, die «Alpen» von Selun, Breitenalp, Selamatt usw., wo im Sommer zahlreiche Viehherden weiden. –
Hier oben, angesichts der stolzen Bergwelt des Säntis, des Wildhauser Schafberges und der Churfirsten, hauste vor vielen Jahrtausenden der Urmensch als Höhlenbärenjäger. Als schützende Unterkunftsstätte bei Wind und Wetter und während der Nacht hatte er sich jene grosse Höhle erwählt, die im Volke schon lange bekannt gewesen ist als das Wildenmannlisloch.
Es findet sich auf der Ostseite des langen Felsrückens, der vom westlichsten der Churfirsten, dem Selun, als Selunerruck gegen das Dorf Starkenbach hinunterzieht und die beiden Alpweiden Seluneralp und Breitenalp voneinander trennt. Das Höhlentor schaut gegen die östlich gelegene Breitenalp und liegt 1628m über Meer.
Nach der Volkssage sollen hier einstens Zwerglein gewohnt haben, die den Sennen viele gute Dienste erwiesen, dann aber von ihnen vertrieben und seither nie mehr gesehen wurden. Im Sommer 1844 hielt sich in der Höhle ein kaum zwanzigjähriger Mann auf, der wie ein Wilder lebte und gar nicht reden konnte. Der «Seluner», wie er hiess, wurde dann gefangen genommen, verlebte viele Jahre im Armenhaus zu Alt St. Johann und Nesslau, lernte aber weder arbeiten noch sprechen und starb anfangs Oktober 1898 im Alter von etwa 74 Jahren. Im Volksmunde wird von ihm noch vieles erzählt, aber niemand hat erfahren können, woher er stammte und wem er angehörte. Wahrscheinlich ist er ausgesetzt worden.
Es ist merkwürdig, wie die alten Sagen sich oftmals an jene Orte knüpfen, wo in undenklich früheren Zeiten der urgeschichtliche Mensch Einzug gehalten hatte. Auch im Wildmannlisloch bestätigte sich unsere Ahnung von dessen einstiger Besiedelung durch den Urmenschen. Schon die ersten Nachgrabungen durch Theodor Schweizer von Olten im Sommer 1923 förderten die Knochenüberreste von Höhlenbären zu Tage. Allein erst die gründlichen wissenschaftlichen Forschungen, die ich unter der tüchtigen Mithilfe von A. Ziegler in Unterwasser und mit den getreuen Höhlenarbeitern K. Huser Vater und Sohn, und E. Egli in Alt St. Johann in den letzten drei Jahren (1923-25) unternahm, ergaben das wirkliche prähistorische Bild einer früheren urmenschlichen Besiedelung. Das naturhistorische Museum bezw. der Bürgerrat der Stadt St. Gallen leistete zu Beginn die nötigen Geldmittel, während sich der folgenden Arbeitskampagnen mit rühmenswerter Tatkraft die Sektion Toggenburg des Schweizerischen Alpenklub angenommen, die sich dadurch ein Ehrenblatt in ihrer Vereinstätigkeit und in der Förderung der wissenschaftlichen Forschung der Schweizeralpen gestiftet hat.
Am Eingangstor zum Wildenmannlisloch geniesst man einen herrlichen Ausblick auf die ganze Westseite des Säntisgebirges und wenige Schritte in der Höhle drinnen grüsst durchs Felsenfenster der kühngebaute Wildhauser Schafberg herein. Die Höhle selbst bildet ein regelrechtes, oben gewölbtes, am Boden fast ebenes Tunnel von 60 Meter Länge, 4-2 Meter Breite und etwa 2,4 Meter Höhe, so dass man aufrechten Hauptes bis zu jener Stelle schreiten kann, wo der Urmensch einen weiterausgedehnten, günstig gestalteten Wohnplatz besass. Hinter diesem schliesst sich ein über 100 Meter langer, stellenweise über 2 Meter hoher, schmaler Gang an, der blind schliesst, weshalb man von dort nicht weiter vorzudringen vermag.
Die ganze Höhle ist nicht durch Menschenhand, sondern einzig durch die Natur und ihre Kräfte (Gesteinsverschiebungen, Bruchspalten, chemische Auflösungstätigkeit des Höhlenwassers) entstanden. … Diesen ((Höhlenboden)) hatten wir nun zu durchgraben, um die Funde (Tierknochen, menschliche Werkzeuge usw.) ans Tageslicht zu fördern. … erscheint in etwa 60-80 Zentimeter Tiefe die rötlich-braune, 30-50 Zentimeter dicke Fundschicht mit massenhaft Knochen vom Höhlenbären, mit Knochen-Instrumenten und Steinwerkzeugen des Urmenschen, die aber nur spärlich vorhanden sind, weil der Mensch bei seinen wiederholten Wegzügen von der Höhle die besten seiner Werkzeuge mitgenommen hat. … Nicht alle Funde können in dem klebrigen, nassen Lehm schon hinten am Fundplatze mit dem Lichte der Azetylenlampen erkannt werden. Die Funderde (Lehm) wird deshalb mittelst Karette vor die Höhle hinaus ans Tageslicht geführt, wo auch der kleinste Lehmkloss aufs genaueste zur Untersuchung gelangt. Alles Wichtige muss vom Leiter der Ausgrabungen ins Notizbuch vermerkt werden.
Die Steinwerkzeuge des Wildenmannlisloch-Menschen bestehen nicht aus dem Kalkstein der Höhle (wie im Drachenloch), sondern aus hartem Quarz (Oelquarzit, Hornstein), der in der Höhle und ihrer Umgebung nirgends zu finden ist. Der Urmensch hat das Steinwerkzeug-Material aus dem Tale von Alt St. Johann und Wildhaus heraufgeholt und es dort zum Werkzeug (Messer, Schaber) zubearbeitet. …
Unter den Tierknochen befinden sich auch solche des Höhlenlöwen, sowie des Steinbockes, der Gemse, des Edelhisches und von anderen Alpentieren. Der Löwe deutet an, dass das damalige Klima günstiger, d. h. wärmer gewesen sein muss als das heutige, …
Nach der Lage der Fundschicht lässt sich beweisen, dass die Bewohnung unserer Höhle in der letzten Zwischeneiszeit stattgefunden hat. Nach dieser folgte erst die letzte Vergletscherung der Alpentäler. Der Höhlenmensch flüchtete sich vor dem Eise in die ausserhalb des Gletschers gelegenen, nicht vereisten Gegenden und kehrte nie mehr zu den Bergen zurück. Jahrtausende lang lag das Gebirge ohne menschliche Besiedelung da. Erst in der geschichtlichen Zeit wagte sich der viel spätere Mensch wieder in diese Höhen hinauf (Alpwirtschaft, Bergreisen, Bergsport).
So erfahren wir, wie der Höhlenmensch hier oben in freier Alpenluft wohl ein gesundes, teilweise aber hartes Leben geführt hat. Der Kampf mit den gewaltigen Bären, dessen Junge er in mit Zweigen verdeckten Löchern (Fallgruben) erbeutete, verlangte von ihm den tüchtigen Gebrauch seines scharfen Auges und des seines Ohrs. Mit List wusste er des Raubtieres Meister zu werden.
Der Fang eines einzigen Jungbärs versorgte ihn für Tage und Wochen mit Nahrung. Daneben benützte er zum Essen saftige Kräuter, Wurzeln, Beeren und Früchte. Die steinerne Wohnung, die Höhle, bot ihm Schutz vor schlimmer Witterung und wilden Tieren. Hieher brachte er seine Beute und verfertigte seine Werkzeuge am lustigen Höhlenfeuer.
Den schönsten Teil der Jagdbeute, d. h. die Schädel des Höhlenbären betrachtete der Urmensch als Heiligtum und brachte sie in den dunkelsten Gemächern dem Gotte des Waldes als Dank- und Sühnopfer dar. Seine Toten begrub er nie in der Wohnhöhle, sondern brachte sie an andere verborgene Orte. …
(Quelle: Appenzeller Kalender Band 206, 1927. Von E. Baechler)