Das Calfeisental und seine einstigen Bewohner, die freien Walser

Calfeissen oder Calfeussen. Ein grosses Thal, gegen die Bündnerischen Grenzen, in welchem fruchtbare Alpen, auch beständige Eisgletscherberge liegen. Aus denselben empfängt die wilde Tamina ihre Quelle. Ehemals, da das Thal noch beständig bewohnt war, hatte es seinen eigenen Ammann und Gericht. Dermal ist es nur den Sommer durch, von denen, die sich auf den Alpen aufhalten, bewohnt. In dem Thal befindet sich eine Capell.
(Quelle: Johann Conrad Fäsi, Die Grafschaft und Landvogtey Sargans, 1765-1768)

Dass Calfeisen in frühern Zeiten bevölkert war, d. h. dass die Einwohner dort Sommer und Winter über ständig blieben, geht es zahlreichen Ueberresten menschlicher Ansiedelungen und aus verschiedenen Namen hervor. Die Kapelle bei St. Martin mit dem vielbesprochenen Beinhause steht an der Stelle einer alten Kirche; heute wird nur noch einmal im Jahre bei St. Martin Messe gelesen. Auf dem sog. “Rathhausboden” in der Sardonaalp finden sich eine grosse Zahl Mauerreste von Wohnhäusern und Ställen; auf dem “Ammannsboden” mag der Ammann gewohnt haben. Im “Parli” war der Marktplatz, wo man in 2 Sprachen “parlirte”. Heute ist im ganzen Thale nur noch ein einziges Haus Sommer und Winter bewohnt, dasjenige im sog. Gigerwald, 1237 m. Den Namen nach zu urtheilen, waren die ersten Bewohner des Thales Romanen, die spätern Allemannen.
(Fridolin Becker: Itinerarium für das Excursionsgebiet des S.A.C. 1888: Graue Hörner – Calanda – Ringelspitz. Glarus 1888)

Das Calfeisenthal*
(*Anmerkung: „Calfeisen“ oder „Calfeusen“ hiessen früher bloss die Alpwiesen und Weiden bei der Kapelle St. Martin. Später ging der Name auf das ganze Thal über. Die alten Thalbewohner und die jetzigen Eigenthümer genannter Güter tragen jetzt noch im Volke den Namen „Calfeisni“ oder „Calfeusner“, aber nie „Calfeuser“, weshalb es auch falsch ist, von einem „Calfeuserthal“ zu sprechen. In ähnlicher Weise hiessen die Bewohner von Vättis nicht „Vättiser“, sondern „Vättner“. Ganz unrichtig ist die Bezeichnung „Calfeusenthal“ für das Taminathal von Vättis bis Ragaz.)
Westwärts von Vättis zieht sich das Taminathal unter dem Namen Calfeisenthal weit in das Gebirge hinein. Dieses ist der Tamina eigenstes Werk. Hier hat der alte Rhein, der das Thal von Kunkels bis Pfäfers aushobelte, nicht mehr mitgewirkt, und man muss den Eifer und Erfolg des ungestümen Bergkindes in hohem Masse bewundern, wenn man die himmelhohen Thalwände betrachtet und hinunterblickt in die Schlucht, durch welche jetzt die Tamina dahinbraust. Hier hat sie freilich härtere Arbeit; aber im Laufe der Zeit werden auch hier noch Scenerien erstehen, wie man sie eben nur in jener andern Taminaschlucht findet.
Das Calfeisenthal ist ein in jeder Beziehung charakteristisches Alpenthal. Der forschende Wanderer findet hier die Natur in ihrer ganzen Grösse. Was Felsen für Schrecken und Schönheiten bieten können, findet er hier; den Kampf der Vegetation mit den rauhen Elementen des Hochgebirges, unbändige Wildwasser, krachende Lawinen, glänzende Firnen und grüne Almen; eine ganze Welt von Poesie kindlich-naiver, ergreifender, grandioser Art schwebt über dem rauschenden Thalbach.
Das Calfeisenthal ist ein Antiklinalthal; zu beiden Seiten stehen die Schichtenköpfe bald in grauen, bald in gelben Wänden vor, und infolge der verschiedenen Widerstandsfähigkeit der einzelnen Stufen gegen die Verwitterang haben sich Scenerien von gewaltiger ästhetischer Wirkung gebildet. Auf den so entstandenen Terrassen hat sich die Vegetation mit ihrem grünen Polster angesiedelt. Über die Wände stürzen die Wildbäche, die bei grösserer Wassermasse die schönsten Wasserfälle bieten würden. An solchen Stellen fährt im Winter auch der Schnee zu Thal; am Morgen auf dieser, am Abend auf jener Seite. Vor allen ist die „Fluhleue“ der Schrecken aller derjenigen, die bei feuchtem oder Föhnwetter den Weg durch das Thal zu nehmen haben. Ohne Geräusch sammelt sie oben auf der Alp Panära ihre riesigen Massen, und leise durch das glatte, ausgefegte Tobel herabschiessend, schleudert sie den ahnungslosen Wanderer in die Schlucht. Gewaltige Schneehaufen im Bett der Tamina zeugen noch im Spätsommer von der Arbeit der Schreckenstochter.
Die Flora ist hier mit einer Reihe von seltenen Pflanzen vertreten. Die rostblätterige Alpenrose (Rh. ferrugineum), die meist nur in den Höhen der Alpen zu treffen ist, steigt hier, ungefähr 20 Minuten hinter Vättis, an einer Stelle am Ufer der Tamina, bis zu 1100 m herab, wo sie schon anfangs Juni in Blüte steht.
Auch das Edelweiss blüht hinter Gigerwald schon in einer Höhe von 1300m grossen Beständen auf Rasen und Felsen. …
Bis nach St. Martin ist das Thal mehr eine imposante Schlucht zu nennen. Erst dort, wo die weicheren eocenen Gesteine den Thalgrund erreichen, breitet sich das Thal zu einem Kranze weidereicher Alpen aus, die noch ein bedeutendes Stück hinauf bewaldet sind, wodurch das Ganze wieder an Reiz und Lieblichkeit gewinnt. Der Südhang aber, dem firnenreichen Ringelgebirge angehörend, ist rauher und wilder. Dort herrscht die Arie und „Drose”, die in mächtigen dichten Beständen der verfolgten Gemse Heim und Versteck bietet. Auch das Weidegras dieser Thalseite ist nur sogenanntes „Schattengras”, das nicht so nahrhaft und „milchig” ist wie das „Sonnengras” der andern Thalseite. …
Hinten in der Alp Sardona und jenseits auf der Tristelalp finden wir noch bis zur Höhe von 1800 m zum Teil prächtige Exemplare von Arven noch in voller Triebkraft. Es sind wohl die einzigen des Kantons. …
Das Thal zählt nicht weniger als zehn Alpen, die ebensoviel verschiedene Besitzer haben. Bis auf zwei sind alles Galtalpen. Die meisten haben zwei, die Schräa-Alp drei, Panära sogar fünf Sässe oder Staffel mit ebensovielen Alphütten, unter denen diejenige beim „Judenhüttli” bei 1260 m die niedrigste, und die obere Hütte am Augstenberg bei 2021 m die höchste Hütte des Calfeisenthales ist. Da ist es nicht zu verwundern, wenn im Winter 1895 eine Lawine der Simelhörner die Zahl derselben um eine verminderte.
Entsprechend der Zahl der Alpen ist auch die Zahl des Viehes; so wurden beispielsweise im Jahre 1892 in den sämtlichen Alpen des Thales gesommert: 1145 Stück Rindvieh, 1283 Schafe, 167 Ziegen, 57 Schweine und 42 Pferde, zusammen 2694 Stück.
Wenn man dazu noch das heissblütige Volk der Gemsen, „Munggen”, Dohlen, Adler, Sperber, und als Krone des Ganzen die Menschen in ihrer mannigfaltigen Hirten- und Sennentracht dazu rechnet, dann bekommt man ungefähr einen Begriff von dem fröhlichen Leben und Treiben, das vom Frühling bis zum Herbst auf diesen sonnigen Triften herrscht, auf welche die erste Morgenröte des Sardona und das letzte Abendglühen des Ringel niederblickt. Es fehlt nur noch ein himmelblauer See, um das Bild des Friedens und der feierlichen Erhabenheit zu vollenden.
Vor Zeiten freilich stand hier alles anders. Wo jetzt Alphütten stehen, waren früher ständige Wohnungen der Menschen. Ein fremdes Volk, die freien Walser, war vor vielen hundert Jahren hier eingewandert, und auf dem Stockboden, dem Ammannsboden und in Sardona erbaute es seine Dörfer, und bebaute das Land. Auf dem Parli, hinter St. Martin, war der gemeinsame Marktplatz, wo die Leute des Thales und des benachbarten Bündnerlandes ihre wenigen Produkte austauschten. Das Volk wuchs heran; die Mittel zur Ernährung schwanden, weil das vorhandene Alpenland nicht für so viele ausreichte. Da begann man die Wälder auszureissen, so auf Panära und Schräa. Die Folge war, dass das Thal verwilderte; kalte Winde strichen über die Landschaft; vom Sardona stiegen schreckliche Hochgewitter hernieder, und unbändige Wildbäche verheerten die genannten Alpen. Da war des Bleibens nicht länger. Wohl oder übel musste ein Teil der Bewohner das Thal verlassen, um den übrigen noch Mittel zum Leben und Fortkommen zu lassen. 1385 fand die erste Auswanderung statt. Wenige Jahrhunderte ging es, und Not und Entbehrung zwangen auch die Zurückgebliebenen zur Auswanderung, um in fremder Gegend unter andern Leuten ihr Brot zu suchen. Wohin sie alle gezogen, melden keine Daten. Ihre Dörfer zerfielen, nur die Stätte, wo sie einst gestanden, erblickt der Wanderer heute noch, und sollte auch diese verschwinden, so zeugen doch die Namen des Thales für seine einstige Kultur. Die Geschichte ist zur Sage geworden, und mit der Sage verschwindet allmählich auch die Erinnerung an das Volk, das durch eigene Schuld seine Heimat verlor.
Nur das Kirchlein, das sie auf dem Felsen, inmitten des Thales, erbaut, steht heute noch und schaut friedlich in die ernste, erhabene Welt hinaus. Tief unten rauscht die Tamina eilig vorüber und bringt flüchtige Grüsse vom Sardona, der dort hinten im Thale hervorblitzt. Neben dem Kirchlein lag der alte Friedhof, der aus dem Stockboden hierher versetzt wurde. Die letzte Tote wurde hier 1615 begraben. Die Gebeine hat man ausgegraben und nebenan in dem armseligen Beinhaus untergebracht. Wann die St. Martinskapelle gebaut wurde, früher war es eine eigentliche Kirche im katholischen Sinne des Wortes, ist nicht mehr bekannt. Sicher ist, dass sie ums Jahr 1600 schon gestanden hat. (Alte Leute erinnern sich, dass das mit diesem Namen bezeichnete Mauerwerk früher total mit Gebeinen angefüllt war, von denen viele aussergewöhnliche Dimensionen besassen. Aber bei der schlechten Aufsicht ist der grösste Teil derselben durch raritätenliebende Reisende oder durch wilde Tiere abhanden gekommen, weshalb die Ableugnung der Reisebücher von noch vorhandenen Riesenknochen, wie sie besonders Tschudi bringt, zwar richtig, aber kindisch erscheint.) … Drinnen in der Kapelle („Chilchli” nennt sie das Volk) stehen einige Betstühle. Über dem Altar hängt das Bild des Thalpatrons, St. Martin, wie er als Kriegsheld zu Pferde sitzt und dem als Bettler verkleideten Heilande die Hälfte seines Mantels reicht.
Alljährlich werden hier im Frühjahr mehrere Messen gelesen für den Segen und das Wohlergehen der Hirten und Herden. Am Jakobifest aber, da pilgert das Volk von Vättis und Umgegend hierher, um den Tag des hl. Martin würdig zu begehen. Nach der Regel sollte der St. Martinstag am 11. November gefeiert werden; aber in solcher Jahreszeit wäre hier jede Feier unmöglich; daher verlegte man das Fest auf den Sonntag nach Jakobi, also in die zweite Hälfte des Juli. Da ist der Weg frei und ohne Lawinengefahr. Und so pilgern denn jährlich 100-200 Personen, Einheimische und Fremde, von allen Seiten herbei, von Vättis, Pfäfers, Ragaz, Vilters, Mels und Weisstannen, Alte und Junge, Burschen und Meitli; selbst alte Mütterchen scheuen sich nicht, den weiten beschwerlichen Weg unter die Füsse zu nehmen, und dazu noch den Rosenkranz zu beten. Auch die Kurgäste von Vättis fehlen nicht. Der schöne Gebrauch, dass die jungen Burschen die Fahnenstange, die Mädchen das Blatt dazu bis zum Judenhüttle trugen, woselbst dann die Fahne dem gesammelten Zuge vorangetragen wurde, hat aufgehört. Hinter dem Judenhüttle überrascht den Wanderer auf einmal der liebliche Blick auf die Kapelle und den malerischen, tannengekrönten Felskopf des Ancapan. Vom Turme des Kirchleins läutet das Glöcklein ins Thal, und der frohe Wiederhall von Felsen und Planken erweckt in ihm eine feierlich-freudige Stimmung. Von Panära, Brändlisberg, Schräa, Plattenalp, überall kommen die Hirten und Sennen herab, mit dem Edelweiss auf dem Hute und dem Hirtenstocke in der sehnigen Rechten. Und sie lagern sich alle auf dem Platze neben dem Kirchlein, die Jugend hier, die Alten dort, wie es sich eben trifft. Wenn alles ruhig geworden, tritt der Priester — gewöhnlich ist ein Ehrenprediger dazu eingeladen worden — auf die kleine Felsenterrasse zur Seite des Kirchleins, um in würdigen Worten das Leben und gute Beispiel des Heiligen den Andächtigen ans Herz zu legen. Dann beginnt unter freiem Himmel das feierliche Amt, wozu das Nötigste kümmerlich hergerichtet worden. Der Kirchenchor von Vättis singt eine lateinische Messe, natürlich ohne alle Begleitung. Es ist etwas Eigentümliches, und zumal den Fremden mag es gar seltsam anmuten, inmitten dieser hehren Alpenwelt, vom frischen Hauche der Firnen berührt, ein „Kyrie eleison” und „Gloria in excelsis Deo” singen zu hören. Die Felswände und Klüfte hallen es wieder, der rauschende Bach, die zitternden Tannenwipfel summen es mit und das helle Glöcklein ruft es freudig empor zu den weissen Höhen: Ehre sei Gott in der Höhe!
Ist die Feierlichkeit zu Ende und haben sich die Pilger auf dem Freien oder im „Pfarrhofe” noch etwas erfrischt, dann ziehen sie wieder von dannen. Der eine oder andere wirft noch einen Blick ins Beinhaus, auf dem Bilde rechts neben der Hütte deutlich erkennbar, wo die bleichen Schädel von der Vergänglichkeit menschlicher Geschlechter und menschlicher Schöpfung erzählen. …
Der Weg nach Calfeisen bietet dem Wanderer immer eine Fülle lieblich-idyllischer und wildromantischer Bilder. Wir sehen stets etwas Neues oder lernen das Alte verstehen, den Kampf zwischen Leben und Tod, zwischen Werden und Vergehen im Drama der Natur. Der Tag neigte sich dem Abend zu, als ich die St. Martinskapelle droben auf dem Felsen grüsste. Auf den Wiesen nebenan war man eben am „Heuen”. Draussen im Thale aber begann der Calanda sich langsam zu färben. Das helle Gelb nahm immer tiefere Nuancen an, bis zuletzt ein funkelndes Rot den Riesenbau belebte. Auf der Alp Ebne klang mir heimeliges Herdengeläute entgegen. Frei wie der Vogel in der Luft tummelten sich die Kühe im saftigen Grase, das den herrlichen Schuttkegel des Tristelbaches bekleidet. Die Dämmerung mahnt mich zur Eile. Wieder höre ich Geläute; ein einfacher Steg bringt mich auf die andere Seite der Tamina und ich stehe vor der Hütte von Sardona. Ein fröhlicher Jauchzer erschallt, und alsbald öffnen sich die Pforten zum frohen Willkomm und zu einem währschaften Trunk würziger Milch. Nach freundschaftlichem Geplauder mit den Hirten geht’s ins Heu, das nebenan im Scherm liegt. Wie das wohlthut! Noch lange schwirren die Pläne für das Kommende in meinem Kopfe herum und zogen die Hexen- und andere Sagen von Sardona am Geiste vorüber.
Mitten im Walde, sagt man allgemein, auf dem schönsten Platz der ganzen Alp, da wächst das feinste, üppigste Gras ringsum. Aber weder Rinder noch Schafe, weder Ziegen noch Pferde haben jemals während der Nacht oder am Tage sich dort gelagert. Hier haben die Hexen und bösen Geister des Nachts ihre Zusammenkunft und schmieden Pläne gegen die Guten.
An einem späten Herbstabend kehrte ein Jäger in die Hütte ein, und legte sich nach dem Essen zur Ruhe. Gleich darauf hörte er einen wunderschönen Gesang vor der Hütte, der sich wiederholte. Er horchte erstaunt zu. Des andern Tages war die Alp und das ganze Thal mit tiefem Schnee bedeckt.
Ein anderer hörte drei Mal seinen Namen rufen und trat vor die Hütte; er hörte den Ruf wieder aus weiterer Entfernung. Er ging dem Rufe nach und kam auf den ebenen Boden des „Hexenbühels“; heller Lichterglanz leuchtete in die Nacht hinaus, bei wunderschöner Musik schwangen sich auf dem Rasen wilde Gestalten in tollem Tanze, und an einem langen, reichbesetzten Tische sieht er eine Reihe schwarzgekleideter Gestalten mit bleichen Gesichtern sitzen, die ihn wiederholt zum Essen einladen. Vor dem Essen, denkt er, muss man beten; und er thut es auch. Dann will er sich an die Tafel setzen und sagt zu den Nächsten: Gott g’segn’ es. Da starren ihn die bleichen Gesichter an und verschwunden ist das unheimliche Geistermahl. Durch die finstere Nacht kehrt der Jäger wieder zur Hütte zurück.
Wo heute der Gletscher liegt, da blühte früher die schönste Alp des ganzen Thales; von der hohen Terrasse schaute sie freundlich über das Land. Sie gehörte dem Hirten Segnes, der sie vom sterbenden Vater unter der Bedingung geschenkt erhielt, dass er für seine Mutter Sorge trage. Sein Haus stand unten im Thale. Auf dem Rathausboden wohnte seine Geliebte Sardona, ein schönes, reiches und feuriges Mädchen, dem die Alp Chrazeri droben am Muttenthalergrat gehörte. Aber Reichtum und Schönheit machten sie hoftärtig über alle Massen. Das sah die alte Mutter des Hirten nicht gerne und bot daher alles auf, um das Verhältnis der beiden zu lösen. Vergeblich! Die schwarzen Augen auf dem Rathausboden waren mächtiger als sie. Oft stieg Segnes in dunkler Nacht dort hinauf und heckte mit seiner Geliebten Pläne aus, wie sie die alte Mutter am besten aus dem Wege schaffen könnten.
Als der Frühling ins Land zog, da stieg Segnes mit seinem Vieh zur Alp hinauf. Die Mutter kann ihm nicht folgen, denn sie ist alt und krank. Aber die Lebensmittel, die sie noch hat, sind bald aufgezehrt; andere Leute, die sich ihrer annehmen, hat sie nicht, und ihr Sohn bleibt den ganzen Sommer auf der Alp. Wie soll sie weiter leben? Von bitterm Weh erfüllt, entschliesst sie sich, womöglich auf die Alp zu steigen und von ihrem Sohne Hilfe und Fürsorge zu verlangen. Langsam, dem Tode nahe, schleppt sie sich den Berg empor. Aber zwei feurige Augen haben sie erspäht, und unbemerkt, auf verborgenen Pfaden, schleicht Sardona ihr nach. Sie kommt zur Hütte und bittet den Sohn um ein Stückchen Brot, damit sie noch leben könne. Sie droht ihm mit der Strafe Gottes für die ruchlose Behandlung. Vergebens! Höhnend holt der Sohn vom Scherm herauf einen Napf voll Jauche und stellt dieselbe der Mutter vor. Da klagt sie nicht mehr; den tödlichen Schmerz in ihrer Brust, kehrt sie um und will wieder zu Thal, um dort zu sterben. Eben kommt das hoffärtige Mädchen vom Rathausboden stolz dahergeschritten und geht verächtlich an der bleichen Mutter vorüber. Segnes sieht die Geliebte kommen und holt eilig einige Laibe Käse aus dem Keller und legt sie in den Kot vor der Hütte, damit die Geliebte ihre Füße nicht beschmutze; und voll teuflischer Bosheit ruft er noch der Mutter nach: „Aha, das ist nun ein anderer Besuch, als du !” Da kehrt sich die Mutter um und ruft in furchtbarem Ernste: „Nun so bleibet immer und ewig bei einander!“ Die Mutter hat’s gesprochen, der Himmel hat’s gehört.
Da fängt es an zu regnen und regnet den ganzen Tag, am Abend schneit es und schneit die ganze Nacht hindurch. Am andern Morgen sah man weder Hütte noch Herde wieder; ein gewaltiger Gletscher hatte alles Lebende bedeckt und bedeckt es heute noch. Alljährlich am Tage des Frevels, da reisst der Gletscher eine Spalte auf und die Gebannten steigen herab an den Rand des Gletschers und rufen flehentlich die Mutter, damit sie den Schwur zurücknehme. Sie horchen und horchen in die Winde hinaus, ob sie nicht die erlösende Stimme hören. Vergeblich; immer wieder müssen sie zurückkehren in das kalte Verliess und immer wieder schliessen sich die eisigen Pforten. Mitunter schaut der Sauren so düster ins Land und schüttelt seine Schneelocken; Lawinen stürzen ihm über die Stirne und donnern zum Gletscher hinab. Er ist unwillig darüber, dass er immer noch den Fluch tragen soll. Noch heute birgt der Gletscher sein Geheimnis; in dunkler Wetternacht hört man die Klagerufe der Gebannten; der fremde Wanderer hält sie für das Pfeifen des Windes in Tannen und Felsen; aber der Kundige weiss die Rufe zu deuten und gedenkt schaudernd der Schuld, die solche Strafe gefordert. Wie lange ich an Segnes und Sardona dachte, weiss ich nicht. …
Über den Taminsergletscher stieg ich wieder zu Thale. Einen Monat später zogen aus dem Calfeisenthale auch die Herden heimwärts. Die Rinder trugen Kränze und Melkstühle auf dem Kopfe und schüttelten erfreut die seltene Bürde. Die Küher und Sennen hatten saubere Hirtenhemden angezogen, den Melkeimer über der Schulter und den Hut mit Blumen geschmückt. Lustig erklangen die hellen Glocken und die frohen Jauchzer der Hirten:
„Ihr Matten lebt wohl, ihr sonnigen Weiden!
Der Senne muss scheiden, der Sommer ist hin.
Wir fahren zu Berge, wir kommen wieder,
Wann der Kukuk ruft, wann erwachen die Lieder. “
(Quelle: Friedrich Wilhelm Sprecher: Aus den Bergen des Taminathales. SAC Jahrbuch XXXI 1895/1896)

Das Glöcklein zu St. Martin im Kalfeisental läutet nur noch wenigen Menschen zum Grab. Wenn aber einer dort stirbt, klagt es umso mehr, dass man es klingen hört fast bis nach Vättis hinunter und hinauf zu den Alpställen von Sardona. So mag es früher schon getrauert haben, um die, deren bleiches Totengebein in einer Gruft neben dem Kirchlein liegt. Da ruhen sie seit uralten Tagen. Um den stillen Ort wächst im Sommer etwas Gras, blühen Männertreu und Alpenvergissmeinnicht. …
Die Grauen Hörner, die Ringelspitze, hinten der mächtige Saurenstock mit dem Sardonagletscher, sind die Wächter des Tales. Sie allein sahen das Volk kommen und gehen, sie könnten Sicheres erzählen. Aber sie schweigen.
Hoch oben bei der Sardonahütte liest man auf einem bemoosten Stein noch die Jahrzahl 1636. Wer sie damals eingeritzt hat, kann niemand sagen, aber wahrscheinlich wars ein Walser, bevor er seine Heimat verliess. Denn so still und leer das Kalfeisental heute ist — es hat seine Geschichte.
„Vor alten grauen Zeiten stand der Tütsche mit dem Welschen ennet dem Gebirge im Krieg. Der alte Kaiser Rotbart selber war mit grossem Kriegsvolk aufgebrochen, über die Alpen nach Lomparten gezogen und hatte den Feind dort geschlagen. Auf dem Heimweg liess er in den Alpen Wachposten zurück, um Land und Volk vor Ueberfällen zu beschützen. Da starb der Kaiser. Es trauerte das Reich. Niemand gedachte mehr der Wehr, die fern der Heimat in den stillen Alpentälern wachte. Die Wächter aber blieben in den Bergen, legten ihre Waffen nieder und zogen das Hirtenhemd an, um da als Aelpler zu hausen und zu hofen. Es sind unsere Vorfahren gewesen.” So erzählten die alten Walserväter in Sardona hinten beim Herdfeuer ihren Kindern, und die glaubten es: denn sie konnten das uralte Gewaffen ihrer Ahnen an der Wand hängen sehen. …
Im Urbar, dem Grundbuch der Grafschaft Sargans, liest man unter der Jahrzahl 1398 zum erstenmal die Bezeichnung Walser, Walseler, Walleser. Die Urkunden berichten von herkommenen lütten, frömbden, herkommenen lütten, die da fry oder Walser sind. Ihre Sässe seien zahlreich im Tal Galfeyssen: man finde aber auch solche ze Wißtann und Schwendi, im Fölteserberg und auf Matung, am Gonzen. …
Welche Freude, als sie [die ausgewanderten Walser] endlich nach mühseligem Aufstieg die Kunkelspasshöhe erreicht, und jenseits des Berges herrliche Alptriften ausgebreitet fanden, schattigen Wald und frisches Wasser. Wie sie aber im Tale zu einer Hütte kamen, vernahmen sie von einem Hirten, dass sie in Vättis seien und auf den Jagdgründen des Gotteshauses zu Pfäfers. Ein Jäger deutete den Fremdlingen nach Westen, aufwärts in ein enges Hochtal, wo noch kein Bein darin wohne und auch Wald, reiche Quellen, vielleicht auch Weid zu finden sei. Aber auch Bär, Wolf und Luchs träfe man dort nicht selten. Da musste ein Bote sogleich zum Abt ins Kloster eilen und als er zurückkehrte, wanderte das fahrende Volk wieder weiter und verkroch sich in das einsame, weltverlorene Kalfeisental.
Das Bergtal hat viel Aehnlichkeit mit dem Rhonetal des Oberwallis. Wie dort steigen zu beiden Seiten himmelhohe Gebirgsstöcke empor. Auch im Kalfeisental liegt zuhinterst ein gewaltiger Gletscher, der die Wiege eines Wassers ist. Hundert Wildbächlein, die den Bergen viel Geröll entführen, rinnen von links und rechts der Tamina zu. Je weiter man von Vättis in das Tal hineinkommt, umso näher rücken die ungeheuren Gebirgswände zusammen und fast mit jedem Schritt wird die Welt enger und furchtbarer. Zwei Stunden, und den Fels von St. Martin im Rücken, weitet sich das Tal. Die Felswände fallen zurück, werden mählich zu sanften Berglehnen, auf denen die Walser bei ihrem Einzug undurchdringliches Walddickicht fanden. Doch die schauerliche Wildnis schreckte sie nicht. Schon ihre Kinder kannten ja den Urwald, hatten sich gewöhnt an das heisere Geheul seiner Tiere und an den Schrei des Adlers. Und hier war ja alles so einsam und still. Nur die junge Tamina rauschte tief und geheimnisvoll, kam zwischen den silbergrauen, knorrigen Baumriesen hervor wie eine Waldjungfrau.
Da brach auf einmal die Sonne durch das bartige uralte Astwerk der Tannen und Arven, der Wald öffnete sich und ein frischer Grasplatz mit Ziprian, Königskerzen und Blaggenkraut lag im vollen Lichte und hatte etwas Urewiges an sich.
Heimat! Eine solche hatten sie gesucht. Auf sonniger Alp sind sie geboren worden, auf freier Alpe möchten sie leben, um, wenn es Zeit ist, zu scheiden und weiter zu wandern in anderes Land.
Kalfeissen hiess das Bergtal. Einfach und gross, abgekehrt und fernab von der geschäftigen Welt, war es seit Schöpfungstagen hier unberührt an Regen und Sonne gelegen. Die Menschen wohnten lieber drunten an den Bergsäumen, die mählich in die Rheinebene übergehen: denn es ist ein gesegneter Landstreifen dort, sonnig und warm, wo die Traube honigsüss wird und selbst Edelkastanien reifen. Im Kalfeisental aber wuchs nur Holz und Gras. Dafür kam der plumpe Bär und ging hungrig der Wolf, der Eber rannte grunzend vorüber und auf dem Baume sass lauernd der Luchs. Kein Klosterknecht noch Jägersmann aber hätte sich je ans Weidwerk in diese Gründe gewagt. So blieben sie völlig brach und ertragslos. Es mag darum den Herrschaften willkommen gewesen sein, als plötzlich fremde Leute in ihr Land einwanderten, und in die entlegensten Wildnisse Einlass begehrten. Freudig schrieben sie diese Kunde nieder, und so liest man heute noch in ihren Urbarien von frömbden, herkommenen lütten, die da fry oder Walser sind. Ihre Sässe seien zahlreich im tal Galfeyssen. Man finde auch solche ze Wißtann und Schwendi, am Fölteserberg und auf der Matte zwischen Schollberg und Gonzen.
Freie nannten sie sich, mit Recht. Sie waren es gewesen seit unvordenklichen Zeiten, sie wollten es auch bleiben solange Fels und Grat stehn auf ihrem Grunde. Keiner hat bisher jemals um Herrengunst gebuhlt, keiner soll es tun, sonst möge der Schutzpatron St. Theodul aus den Wolken fahren, den Berg über ihm zusammenbrechen und den Elenden begraben. Wohl versprechen sie, wie ihre Väter in Rätien, dem Grundbesitzer für die empfangenen Erblehensgüter zu zinsen, von den alljährlichen Erträgen einen redlichen, durch alle Zeiten hindurch stets gleich gross bleibenden Teil abzugeben. Sie sind aber nicht Leibeigene, Sklaven und Knechte wie die Umwohner, sondern freie Erbpächter, und können frei walten und schalten auf ihren Sässen und Hofstätten. So leistet denn jede der Familien: Cüeni Tontli, Willi abem Berg, Peter Arnolz, Jäcli von Sardon, Pantlion, Niclaus, Peter, Johanns und Johanns der Wittwen Söhne von Kalueys, die anno 1346 die Alp Sardona als ewiges Erblehen erhalten, an den Käszins ihren Teil gutes und gäbes Molken, dazu einen oder zwen Hafen ze Wisat. Die Walseler uß Schwendi und ze Wißtann gend ein Pfund Geleitgeld für Schutz und Schirm und ein Pfund für ein Rindfleisch. Die Walser abem Fölteserberg acht Schilling zu Geleit, die Walleser ab Matug jährlich zwei Pfund acht Schilling Haller, ein Rind, das dreissig Schilling wert ist und 48 Mass Schmalz von Zinsgütern. Von allen Bogtrechten und Stüren sind sie frei und ledig. Man kann bei ihnen nicht nachfragen um Frondienst, Zehnten, Fällen, Gelässen, um Fastnachtshennen, Ostereier und andere Abgaben. Einzig der Walser des Gutes zu Fusuns, dem heutigen Vasön, soll dem Abt von Pfäfers im Herbst ein Fuder Wyn von Ragaz oder von der Ebni, weders er will, uf die Festi Wartenstein führen. — Pantli und Marti Nufer und Kunraden Nufer, sin Bruodersun, verpflichten sich ferner, für ihr empfangenes Lehen dem Abt und sim Gotteshus Waffendienst zu leisten und getrülich zu dienen mit ihrem Lyb, mit Schild und Spiess in Krieg und Reisen nach Walliserrecht, das heißt auf Kosten des Herrn, von der Stund an, als sie ausgant von ihren Hüsern, bis dass sie wieder heimkomment. Auch Michel im Gigerwald, der zwei Güter erhalten, übernimmt auf sich und seine erblichen Nachkommen die Pflicht, dem Abt alle Jahre 15 Biner Schmalz zu geben und ihm in Kriegszeiten als Söldner und Reisläufer zu dienen mit Schild und mit Spiess nach Walliserrecht. Den Spruch vom Waffendienst hat ein Chronist niedergeschrieben, er lautet im Sarganserurbar: Item was herkommen lütt, die da fry oder Walser sind, sich in die Grafschaft Sargans ziehend und setzend, die lütt sollen minen Herren dienen mit Schild und mit Speer.
Die Walser wählten aus ihrem Volke heraus einen Talammann, der als Gemeindevater die walserischen Angelegenheiten zu leiten und zu besorgen hatte. Es wird erzählt, dass er solange im Amte verbleiben durfte, als eine abgeastete Tanne in der Nähe seiner Hütte nicht morsch wurde. Das war uraltes, unumstrittenes Recht. Noch heute heisst ein Platz im Kalfeisental Ammannsboden und ein anderer Rathausboden, wo früher das Rathaus gestanden haben soll. Jetzt aber wohnt dort keine Seele mehr.
Obwohl die Walserleute ihren eigenen Talammann besassen, hatten sie kein eigenes, selbständiges Gericht. Die niedere und die hohe Gerichtsbarkeit lag in den Händen weltlicher Landesherren, und so gehörten alle Bußen für Twing und Bann, Dieb und Frevel aus dem Kalfeisental aufs Schloss Freudenberg. Aber zu richten und schlichten gab es nicht viel, denn die Walser sind geschlachte, gutmütige, friedsame Leute, — Aber einmal muss doch ein Senn sich vergangen haben. Vom Richter aufs Schloss geladen, erschien er nicht. Da hat der Vogt seine Knechte geschickt, den Strafbaren zu holen. Als sie an seiner Hütte anklopften, stand er schon vor ihnen, ein riesenhafter, gewaltiger Kerl mit einer mächtigen Brente voll Milch, und bat die Fremdlinge, die wohl Durst hätten, daraus zu trinken. Die Knechte wollten gehorchen, aber als der Senn die mächtige Brente, ohne abzustellen, mit gestreckten Armen, ruhig und leicht, als ob es nur eine Rahmkelle wäre, ihnen vorhielt, da sollen sie sich in eiliger Flucht davongemacht haben.
Die Bergleute lassen sich nur selten sehen. Wenn sie aber im Spätherbst kommen, Cüeni Tontli mit seinen sechzehen Käsen, Willi abem Berg mit vierzehen und zwen Hasen, wenn die von Schwendi und Wißtann kommen, erschlagene Wildschweine und Bären mitschleppen, wenn die Matuger ihr Rind bringen und auf schwerbeladenem Räf Weidschmalz ins Schloss Sargans tragen, dann laufen Dörfler und Städtler scharenweise zusammen und beschauen mit Furcht und Schrecken die stämmigen, breitgeschulterten, verbarteten Bergleute, die wandernden Riesen gleichen. Da wird dann manch Kind, das vorher an der Arbeit geweint, auf einmal still, hilft der Mutter wieder fleissig in Küche und Keller, damit es nicht mit dem wilden Walsermann fortgehen müsse. Noch gleichen Tags kehren die Bergler auf ihre Gehöfte zurück. Die liegen wie große Steinblöcke im Hochtalgrund zwischen rauschendem Wald, freien und ausgehauenen Matten hingestreut. Es sind einfache, breite, wind- und wetterfeste Hütten, die mehr Alpställen als Gehöften gleichsehen, gezimmert aus rohentrindeten, aufeinandergetröhlten Baumstämmen. Zentnerschweres Gestein belastet das Dach und hält das Schindelwerk, wenn der Föhn plötzlich über Gräte und Kämme hereinbricht und durch Kalfeisen rast. Ein schmaler Gang führt längs in die Hütte hinein. Eine Seitentüre öffnet den niedern, grossen Viehstall, eine andere weiter hinten den Schopf, wo Waldsägen, Aexte, Sensen, Heuseile und Holzrechen aufbewahrt liegen. Zuhinterst gelangen wir in einen weiten, hohen Einraum, der die Hälfte der Hütte einnimmt. Nur spärliches Sonnenlicht dringt von aussen durch die Butzenscheiblein herein. Ein Holzfeuer, das in der Ecke brennt, hilft mit, den düstern Raum etwas mehr zu erhellen, der Küche, Stube und Kammer zugleich einschliesst. Das dürre Holz knistert, Flammenzungen schlagen weit aus über den grossen Kessirand und belecken die schwarzen Tragketten. Daneben steht auf einem Glutherde ein eiserner Dreifuss mit grosser, weitrandiger Bratpfanne. Ein Weib liegt auf der Steinplatte, bläst an und schaut in die Glutflämmlein, bis sie sich endlich aufrichtet und mit der Holzkelle in die Pfanne fährt und einen Fenz kehrt, der im Schmalze drin zittert. Der Rauch des Herdfeuers schwärzt die Wildschweinschinken, die im Rauchfang hängen. An der Wand steht wie ein böses Gespenst ein uralter Walliser Handwebstuhl. Die Kunkel eines Spinnrades wird sichtbar. In der andern Seitenwand, gegen den Stall hin, ist in Manneshöhe das mächtige Schlaflager eingelassen, wo Schlafsäcke mit Streu oder klipperdürrem Laub gefüllt liegen. Beim Zubettegehen muss es von den Kindern an Sprossen erklettert werden. Neben der Lagerstätte rohes und rauchgeschwärztes Balkenwerk, verziert mit Gehörn von Rehen, Gemsen und Steinböcken, mit Knochenschädeln erschlagener Bären und Wölfe. Spiess und Schild aus alten Zeiten hangen kreuzweis an der Sul, das Alphorn dahinter, wie es der Hirte braucht auf Bergen. Auf Steinplatten steht breitbeinig der schwere Holztisch, nur ein langer, in der Mitte wagrecht gespaltener Arvenstamm, um den Dreibeine als Höcker dienen. Ein Talglicht wird von der Mutter mit einem glimmenden Holzspan angezündet und brennt in langen, dunkeln Wintertagen, wenn sie plaudernd um das Herdfeuer herumhocken, am Tische sitzen, im Heulager liegen. Draussen aber fallen die Schneeflocken, hohl heult der Wind, Stürme rasen und Wildtiere klagen. Das Dämmerzwielicht über dem Tischbaum flackert, kämpft sterbensmüde, rafft sich hoch auf, fällt und erlischt. Die Kinder halten die Händlein ans Herdfeuer und schwatzen vom schönen Frühling und von der grossen Sonne, die im Sommer am Piz Sol aufsteige und immer so warm mache. Dazwischen schnurrte und murrte emsig das Spinnrad. Der Gomser Handwebstuhl aber klapperte, und lärmte. Dazu erklang ein uralt Lied von Freiheit durch den Raum; denn da fühlten sich die Herzen eins und unabhängig von der kalten, krämerischen Welt, deren Lärm nicht bis hieher drang und deren Freuden sie nicht ersehnten.
Der Frühling zog in das Bergtal ein, liess den Föhn hoch oben an scharfen Gräten und Felskanten sein schauerliches Lied anstimmen und erfüllte damit das ganze Tal. Das Schneehuhn gackert, der Steinbock schlendert träge am Felshang hin und her. Unten im Walde flötet unablässig die Ringamsel und stimmt mit ein in das Hohelied der Schöpfung. Die Kräutlein und Gräslein gucken erst vorsichtig aus dem apern Lehmboden hervor, ob der Winter auch wirklich im Schwinden sei. Dann aber schiessen sie heraus, Kraut, Blume und Halm zugleich, wachsen um die Wette hart hinter dem schmelzenden Schnee die Schräghalden hinauf, so eilig, als ob sie wüssten, dass in den Bergen der Sommer nur kurz ist. Und überall, allüberall ein Wachsen, Grünen und Blühen und wenn das Gras hoch steht und auch der Zyprian zu blühen beginnt, öffnen sich die Viehställe und auf den Weiden grast das Walliser-Rind. In den Hütten ächzen und rumpeln gewaltige Ankenkübel; unter dem Kessel flackert das Feuer, bis ein Senn kommt, seinen Ellbogen leicht in die lauwarme Milch eintaucht und dann zufrieden das schwere Kessi vom Herde wegzieht. Heuer kann Cüeni Tontli wieder käsen und schmalzen, dass es eine Lust und Freude ist. Er hat den grössten Milchsegen weit und breit im Tal, und das macht’s, weil er von seinem Urgrossvater vom Wallis her noch einen geheimen Zauberspruch weiss, der Macht und Gewalt hat über allerlei viehschädliches, heimtückisches Spukgesindel: Wohla Wicht, dass du weisst, dass du Wicht heissest, da du ne weisst noch ne kannst cheden: Chuospunni! — Es heisst, Cüeni Tontli und Nufer wollten auf den Herbst wieder mit einer Habe Zeitkühe aus dem Kalfeisental fort und über die Alpen ziehen, um sie auf den Märkten zu Cläven (Chiavenna) oder
Luggarus (Locarno) zu verhandeln.
Am Abend, wenn die Sonne hinter dem Sardonagletscher verschwunden ist, ihre letzten Strahlen nur noch blassrötlich durch die Ränder der Eiswände glühen, wenn die Nacht müde aus der Tiefe des Tales über Weid und Matte in die Höhe emporsteigt, dann kommt der Senn andächtig nochmals aus seiner Hütte. Er hält den Alpstock in der Hand, als ob er das Vieh noch zusammentreiben wollte, das überall zerstreut unter Schutz- und Wettertannen sich zur Ruhe legt. Er steigt auf die Anhöhe, wo das Arvenkreuz steht, überschaut nocheinmal lange sein Heimattal, richtet den Blick aufwärts zu den Sternen, und ruft in die Einsamkeit hinaus diesen Alpsegen:
Ave Maria! Ave Maria! Ave Maria!
B’hüet Gott und üser lieb Herr Jesus Christ
Lyber, Hab und Guet und alls, was hie uma ischt!
B’hüet üs Gott und der lieb heilig St. Jöri,
Der wohl hie ufwachi und höri!
B’hüet üs Gott und der lieb heilig St. Marti,
Der wohl hie ufwachi und warti!
B’hüet üs Gott und der heilig St. Gall,
Mit sinen Gottsheiligen all!
B’hüet üs Gott und der lieb heilig St. Peter,
St. Peter, nimmt den Schlüssel wohl in dyni rechti Hand
B’schlüss wohl da wilda Tiera ihra Gang
Dem Wolf da Racha, dem Büro, da Tatza,
Dem Rappa da Schnabel, dem Stei da Sprung,
B’hüet üs Gott vor einer bösa Stund!
B’hüet Gott alls hie in üserm Tal,
Allhin und allüberall!
Ave Maria! Ave Maria! Ave Maria!
Die letzten paar Worte nimmt der Urwald auf und gibt sie flüsternd als Echo wieder. Hoch über den eisigen Firnen des Gletschers leuchtet der Abendstern. Die ganze Alpenwelt schweigt. Nur von weither hört man ein Glöcklein den müden Tag ausläuten: das Betglöcklein des Kirchleins zu St. Martin.
An grossen, sonnigen Bergwelttagen, wenn die Luft flimmert und zittert über dem Tale, die Hitze das Vieh am Morgen schon zeitig wieder in die Ställe treibt, das muntre Geläute für etliche Stunden verstummt, hört man die Aexte der Roder und Reuter unaufhörlich im Waldschlag droben werken und arbeiten, von Zeit zu Zeit das fürchterliche Krachen fallender Baumriesen. Dann öffnet sich da und dort eine Hütte und starke, hochstämmige Knechte kommen heraus, mit Beilen und Reuthacken beladen, schreiten langsam und schwer die steilen Krummweglein hinauf, zu den Brüdern im Wald. Dort liegen Arven und Tannen erschlagen beisammen. Wie tote Riesen ruhen die Ergrauten sanft auf dem weichen, feuchten Waldboden und strecken ihre Aeste wie warnende Finger zum Himmel. Die Walser aber haben genug mit weitverschlungenen Wurzeln zu tun. Sie achten das nicht. — Urbar und Urkunde berichten, die Lütt hätten den Wald geschwemmt oder geschwendet, das heisst ausgerodet und schwinden gemacht mit Feuer und Axt.
Im August weiden die Herden schon fast zuoberst auf den Bergen. Im Vorder- und Hinter-Sardona ist es still und leer und auch im Gigerwald. Kein Vogel mag mehr singen in der Sonnenhitze, kein Tier mehr schleichen um die Hütten. Einzig die junge Tamina zeigt Leben und murmelt unablässig verklungene Weisen heimlich in der Tiefe. Der Abend wird frisch. Es grasen und läuten die Heimschkühe auf der Allmende. Ein alter Walsermann ist Hüter und macht die Runde, den Wehrspiess für alle Fälle in der Hand. Fröhliche Jauchzer frohlocken von der Höhe und langsam steigt es herab, das Heuervolk, und verschwindet in den Hütten. Wildheuträger folgen nach, fast versteckt unter gewaltigen Emdburdenen. Sie kommen nocheinmal heraus aus den Heuschobern und schauen nach dem Wetter, sind zufrieden und jauchzen einander zu von einer Talseite zur andern. Auch die Waldmänner im Rüteli, die immer noch schwemmen und brennen bis tief in die Nacht hinein, jauchzen und antworten, und ihre schallenden Jauchzer nimmt der Urwald auf, gibt sie hundertfach wieder und erfüllt das glückliche Tal.
Die Alpenrosen verdorren, die Wißenzen werden gelb, trüb und lahm die letzten Grasbüschel. Die Füchse fangen an zu bellen. Die Gamstiere steigen in Rudeln zu den Ställen herab. Der Winter bricht herein. Tuchfetzengross fallen die Schneeflocken und setzen sich müde auf die silbergrauen, dürren Schindeldächer nieder. Von den Wänden des Gletschers herab fegt ein Schneesturm, fährt heulend über die gerodeten Waldflächen hinweg, nach St. Martin. Dort pfeift der Gletscherwind und rüttelt am Schindeldache der Kapelle. Wild schlägt er auf das Gebälk des Türmchens ein, dringt durch die Luken in den Glockenstuhl und zerrt am Seil. Schneeflocken rasen wahnsinnig gegeneinander, schreien und heulen, bis ein gellender Pfiff sie zerreisst, und es zu schneien beginnt.
In den Bergen drinnen eilen die Stunden. Ein Jahr um das andere vergeht und kehrt nicht wieder. Jahrzehnte gehen dahin, sammeln sich zu Jahrhunderten und die rauschen gewaltig davon. Weisse Pergamentpapiere, worauf Klostermönche zu Pfäfers in zierlicher Handschrift Zeitereignisse niedergeschrieben, werden zu altersgrauen, unleserlichen Urkunden. Neue Zeiten brechen gewaltig sich Bahn. — Wo einst Schirm- und Schutztannen standen, der Wald wie ein warmer, dunkler Wintermantel am Berge lag, ist alles kahl und leer. Nur rauhe Winde streifen überall umher, treiben mit toten Wurzeln und sterbenden Baumstrünken tolle Spiele, orgeln schauerlich in den Lüften. Sturm und Regen arbeiten droben in Steinbrüchen, rüsten fleissig Platten und Felsblöcke, lassen von Zeit zu Zeit ein Stück los und talwärts fahren. Dann fausten die Knechte und fluchen, dass Gott erbarm, reden von Fortlaufen aus dem verwilderten Tal, fort auf die Kriegsreis, wo keiner mehr betteln und hungern muss, wo Spiess und Halmbart das Geld haufenweis herausschlagen.
Heimliche Sorge und Wehklage geht um, denn alles weiss, dass die guten Jahre längst vorbei sind im Tal und nun die bösen folgen.
Es trummat, es trummat
dur ganz Kalfeysa-n-i,
Wyb und Chinder chlagen,
es söt nit sy,
O Mueter, liebi Mueter!
I halt es numma-n-us,
das Trumma und das Pfyfa
das macht mi ganz confus!
Es trummat zu da Wofa,
es cha nit andersch sy.
Gott bhüet mi Wyb und Gofa —
Muess fort, zum Schwob, an Rhy!
In den Schweizerstädten wirbeln die Trommeln, Kriegsdrommeten schmettern, Kriegsartikel werden verlesen. An den Rathäusern flattern die Fahnen, alte Banner werden hervorgeholt, Proviant- und Reisewagen rollen aus den Gewölben der Zeughäuser. Im Sturmschritt, das Gewaffen in den harten Fäusten, von der Menge umjubelt und von Müttern beweint, verlassen die Heerhaufen die Orte und reisen fort, zum Schwab an den Rhein. Wie ein Ungewitter waren sie mit den Eidgenossen plötzlich über den Rheinstrom ins Feindesland eingefallen und rückten unter gewaltigen Stichen und Streichen vorwärts.
Da liessen die bedrängten Landesherren vor dem Arlberg einen Sturm rückwärts ergehen in der Not, und im Walsertal und Montafun begannen die Glocken den Krieg einzuläuten. In den Bergen droben horchten sie auf. Blonde Köpfe erschienen verwundert an den Fenstern, blaue Augen schauten fragend zu Tal. Ein Eilbote kam gelaufen und schrie um Hilfe, da der eidgenössische Kriegshund eingefallen sei ins Land und die Zähne an der Schanze zu Frastanz wetzen wolle. Da holten auch diese Walser ihre Waffen herab von den Wänden, denn so hatten sie es einst ihren Landesherren versprochen, nahmen Abschied von Weib und Kind, Hof und Vieh, und eilten zur Schlacht.
Auf den Höhen bei Frastanz wurde riesenhaft gerungen; denn als der Streit begonnen, sollen einsmals auf beiden Seiten mächtige Aelpler in der Hitze des Kampfes ihre Spiesse verworfen, junge Tannen entwurzelt, und im Kreise schwingend, einander wie Alpenkraut niedergemäht haben. So fochten Walser, Nufer gegen Nufer, Tontli gegen Tontli und Thöni gegen Thöni: die Giger erschlugen Giger, die Zumpen erstachen Zumpen und Arnolzen verfolgten Arnolzen. Allerorts floss Bruderblut. — Am vierten Tage, da die Toten alle begraben waren, sich aber noch kein Rächer zeigen wollte, um die Schweizer aus dem Felde zu schlagen, brachen sie die Letzi, schlissen das Lager, schmierten die Achsen der Kriegswagen und zogen unter Trummen und Pfyfen mit grossen Ehren und beutebeladen fröhlich über den Rhein in ihre Heimat zurück.
Ins Kalfeisental sollte der Frühling kommen. Er kam nicht. Von neuem fing es an zu schneien, als ob vorher noch nie eine Flocke gefallen wäre. Vom Sardonagletscher herab fegte ein eiskalter Gletscherwind, raste über Stock und Stein hinaus nach St. Martin. Der Bär stand wieder hungrig im Schnee hinter der Hütte, während die Wölfe in Rudeln von Sässen zu Sässen zogen. Doch die in der Hütte wussten es nicht. Die Knechte lagen im Stalle beim Vieh und ruhten noch von ihrer tollen Schwabenreise aus, während die andern auf leeren Brenten um das Herdfeuer herum hockten, wohl zwanzig, dreissig Köpfe und Köpflein beisammen und sich an der Flamme erwärmten. Kein frohes Lied ertönte, kein Webstuhl lärmte, kein Spinnrad surrte, nur aus dem Stalle vernahm man das Schreien der Ziegen und das hungrige Bröhlen der Kühe und Kälber. Ein Gerede ging um, dass man, wenn der Sturm nachlasse, noch in die Gschwend hinauf gehen wolle, um für das Vieh dort grüne Rinde und Tannenäste zu holen. Wie Hohn klang es, als die Knechte erzählten, dass sie im Rheintal schon blühende Bäume gesehen hätten und in Ragaz das Gras kniehoch stünde.
„Dann hat der alte Saphoyer also doch recht gehabt, als er dem Ammann vor zehn Jahren erklärte, es wäre das beste, wenn man das Rathaus und die Hütten abbräche, die Alpen verkaufte und fortzöge: denn es werde doch kälter und leider von Jahr zu Jahr im Kalfeisental.“
Was der hundertjährige Saphoyer auf seinem Sterbebette gesprochen, ist geschehen. Wohl fing es noch einmal an zu lenzen und blühen im Talgrunde, als wollten vergangene Tage wiederkehren. Aber plötzlich brach es los und über den Trinsersattel herein kam’s schwarz wie die Nacht. Unheimliches Wolkengesindel, vom Föhn in die Enge getrieben, lauerte wie ein gefrässiges Tier hart über dem Tale. Das Vieh in den Ställen wurde unruhig, hob hustend die Köpfe und zerrte an den Ketten. Alpbutze und Hunde schlichen überall umher, frassen Gras und sprangen auf den Matten. Die Füchse erwachten und reisten bellend mit der ganzen Verwandtschaft aus, die Munken pfiffen und verschwanden in ihre Löcher. In schwülen Lüften schwärmten lärmend die Dohlen und flogen im Kreis um die Hütten. Dort aber brach in den Brenten die Milch und wurde sauer. In dürren Balken und Wänden hörte man schauerlich die Doggi hämmern, wie sie Sargnägel ins Holz eintrieben. — Ein Alpknecht kam totenbleich aus dem Obersäss hergelaufen und erzählte, dass der Sardonagletscher erwache und sich vorwärts bewege, dass die Tamina droben heftig brause und brodle, der Wassermann sich zeige und seinen schwarzen Leib wälze, die Fluten hoch aufspritzten. — Auch im Rüteli sei es nicht richtig, erklärten die Holzer: denn es liege dort im Kuhstall ein Melchstuhl, der ganz allein springe und tanze. Am tollsten aber gehe es im Waldschlag zu und her, wo die Hexen allüberall auf den Tannästen sässen, in grünen Röcken und gelben Schlapphüten hin und her schaukelten und einem dürre Tannzapfen an den Kopf würfen. Das alles deute auf Unwetter.
Ein hellflammender Blitzstrahl, dass Schild und Spiesse an der Sul oben zusammenfuhren, die bleichen Knochenschädel grässlich hervorstachen und grinsen mussten, dann ein gewaltiger Donnerschlag — und es kam. Unaufhörlich flotschte und prasselte Regen und Schnee und Hagel durcheinander herab und klapperte aus die dürren Schindeldächer nieder, wie es die Aeltesten im Tale noch nie erlebt hatten. „Diüh — Diühüh!” heulte der Sturm und warf kübelweise die harten Hagelkörner durch die offenen Gucklöcher herein, den Knechten ins narbige Gesicht. Auf den Dächern wälzte er die Steine von den Latten, liess sie über die nassen Schindeln gleiten und riss so wütend an Balken und Rufen, dass sich das ganze Dachwerk wie eine lose Schindel hob und senkte und krachend aus den Fugen fiel. Schriller und ausgelassener schrie der Sturm und sein Ruf glich dem wilden Jauchzen eines Betrunkenen. Neben den Hütten herab rauschten die breiigen Schneewasser, Rinnsale, die sonst trocken lagen, führten Wasser wie Wildbäche und warfen es über Halden und Tobelwände der Tamina entgegen. Die heulte und kämpfte in der Tiefe mit aufrechtstehenden Waldbäumen, trug auf ihrem Rücken zerbrochene Brenten, Melchstühle und Ankenkübel heraus aus dem Tale und stürzte sich wie eine Verzweifelte in den Rhein. In den Bergen rollte der Donner, erschütterte es die Gräte, dass morsche Felsköpfe zu wanken anfingen, plötzlich ausglitten und krachend auf Planken und Wildheuböden schössen und über Wurzeln und Stöcke hinweg, wie Erdschollen auf einen Sarg in die dunkle Tiefe sausten. Hinterher flatterte auf milchweissem Pferd Wodans graufleckiger Mantel, und am Ende des schauerlichen Zuges ritten gellende Hexen auf stürzenden Blöcken ins Tal.
Seither ist es still und immer stiller geworden im Kalfeisental. Einzig vom Weglein her, das der Tamina entlang über St. Martin nach Vättis hinausläuft, konnte man eine Zeitlang noch Schlittenrädige rollen hören. Die Urkunden berichten, dass eine Familie um die andere der rauhen Wildnis den Rücken kehrte und wie nach verlorener Schlacht fortzog.
So geschah es, dass alsbald 300 Alpstösse von Hintersardona durch Kauf an Bauern aus der March, dem Gasterland und Weesen übergingen. Anno 1511 verkaufte Jörg Thöni, der nach Sevelen gezogen, an Hans Metzger zu Buchs seine fünf Kuhweid in Kalfeisen, die Krezeren genannt, und zwei Jahre später weitere 14 ½ Alpstösse, die er und sein Bruder Christian besessen. Als daher im Spätherbst 1515 ein Trupp Walserknechte, die einst als junges Blut ins Welschland gereist und zuletzt noch bei Munz und Meriann (Monza und Marignano) gefochten, nun wieder heimkehren wollten, fanden sie das Tal fast menschenleer. Im Bertschis-, Zumpen- und Banndligenhof standen die Türen und Tore sperrangelweit offen. „Da hat beim Eid der Schwab gehaust”, fluchten die vernarbten Knechte, aber wie sie über Lochers Ebene und dem thürren Büel dahinschritten, die Blöcke und Platten und Erdschlipfe sahen, wussten sie bald, was vorgegangen war. In der Egg hinten fanden sie zwei Greise wie Legföhren am Boden liegen, die sich abmühten, eine Felsplatte wegzuschaffen. Diese Hände mussten erst erlahmen, ihre Augen erblinden, das warme Herz zu einem Brocken Gletschereis werden, ehe sie ruhten. Sie hatten ihre Familien zurückhalten können und halfen den Jungen gerne mit, die verdorbenen Grasplätze von den Steinen zu belesen. Sie hoffen immer noch auf bessere Zeiten. Die Landsknechte jedoch kehrten der Heimat den Rücken, um ihre verschwundenen Sippen aufzusuchen.
In Kalfeisen ist es nicht besser geworden, nie mehr. Der Sardonagletscher streckte seine Zunge zu tief ins Gras und atmete zu kalt im Tal. So sind denn die Greise mit ihren Hoffnungen im Totenbaum hinausgetragen und begraben worden auf dem stillen Friedhöflein zu St. Martin. Ihre Kinder und Kindeskinder folgten nach und sie alle schlafen dort sanft und gut beisammen, schlicht und einfach, wie sie gelebt. Als letzte Walserin soll Katharina Sutter anno 1615 verschieden sein. Auf einem Stein ob der Sardonahütte ist die Jahrzahl 1636 eingeritzt worden. Der letzte Walser des Kalfeisentales ist Johannes Sutter gewesen, der daselbst im Sommer, am 15. Juli 1709, im hohen Alter von 84 Jahren starb. Von fremden Sennen musste er zu seiner letzten Ruhestätte getragen werden.
Auch die Reisläufer haben für ihre alten Tage noch Ruhe und Frieden gefunden. Einige freilich mussten lange wandern und suchen, an mancher Berghütte anklopfen, bis sie den Walserberg und die Alp Palfries gefunden hatten, die von Matug her schon längst mit freien Walsern bevölkert worden war. Doch jetzt lag sie vor ihnen, wie ein einziger gewaltiger Waldwiesgarten an der warmen Sonne, vom Gonzenkamm gegen die mächtige Gauschla hinauf und dem Südfusse des Alviers entlang, zur Strahlrüfe hinüber sich ausbreitend. — Der graue, tausendjährige Urwald, der einst die riesige Alpe bedeckte, war fast verschwunden. Schlegel hatten mit wuchtigen Streichen ihn geschlagen. Zindel zündeten das Holz an, das allerorten im Wege gelegen. So ward der brüllende Urwald zur friedlichen Weide. Die Jahnen besiegten im Bärenbüehl zu Vorderpalfries das letzte Untier. Die Schuhmacher verstanden aus den Häuten erlegter Wildtiere für ihre Brüder neues Schuhwerk zu schneiden, während die aus dem Geschlechte der Wappen ihnen seit unvordenklichen Zeiten schon das beste Walsertuch woben. So waren die Walser eins und eine Familie.
Palfries war Heimat, Hoch über Wolken lag die riesige Alpe da. Wenn unten im Tale schon lange der Abend durch Gassen und Gässlein schlich, der Bauer das Vieh in die Dörfer trieb, schien droben noch lange die Sonne und weideten Kühe und Rinder. Denn dort waren sie näher den Wolken, als ihren mächtigen dunkeln Schatten, die wie Riesen auf der Ebene des Rheintales dahineilten. So hüteten sie ihre Herden in Kraut und Gras, bis die Sonne den Tagbogen vollendet, fern hinter Glarner- und Schwyzerbergen versank, und ein Alphorn weithin zur Sammlung und Heimkehr rief. Dann hatten es Eimer und Brenten wichtig und die Ankenkübel rauschten und drehten sich hastig, als ob sie bemerkt hätten, dass hinten vom Wallensee her ein Rauhwind über Malun nach Palfries heraufstrich und das Gras vorzeitig verwelkte. Bevor aber die Nacht kam, öffneten sich die Türen, Männer, Frauen und Kinder traten aus den niederen Hütten und dankten dem Herrn für den vergangenen Sonnentag:
„Gottvater, du Schöpfer von Himmel und Erd,
schirm unsern Ring, hüt unsre Herd!”
Dann wurde es dunkel und still auf der grossen Alp, nur weit im Süden hinter den grauen Hörnern lebte und glühte ein matter Lichtschein, das Alpglühn des einsamen Sardonagletschers, und spannte eine goldene Strahlenbogenbrücke herüber auf Palfries- Hier aber verhallte in den Steinwänden des Alviers noch das letzte Echo: Bhüet üs Gott und walti Gott!
Die Jahrhunderte sind ein Flug und kehren nicht wieder. Menschen kommen, Menschen gehen. Die Alpenrosen auf Palfries haben verblüht und fangen an zu verdorren. Der Enzian wird gelb, trüb und lahm das Gras. Rauhe Winde jagen heulend über Stock und Stein und verlärmen die Tage. Kein Baum noch Strauch steht ihnen im Weg. — Es sei auf der Alp seit einem Mannsalter um einen Tschopen kälter, behauptete der alte Kammjos steif und fest. Vor altem sei ein Alpstecken, den man im Frühling beim Föhnluft zu Vorderpalfries abends in den Schnee steckte, am andern Morgen auf dem aperen Boden gelegen und im Herbst noch keine Milch in der Brente gefroren. — Böse Winter ziehen von Malun herüber und bringen Armut, Not und Hunger allerorten. Der Grünhütler, der grause Unhold, geistert in Sturmnächten johlend durch die grenzenlose Einsamkeit und pocht Schrecken in die hintersten Hütten. Dort sitzen sie, die letzten Könige der Berge, am verglimmenden Herdfeuer, zerschneiden den Kindern die breiten ledernen Schellenriemen zu Wanderschuhen, während die Sennen klagen, dass man früher auf Palfries einen Stein hätte suchen müssen, um ihn einer Kuh nachzuwerfen und dass der Ziprian, das Milchkraut, so saftig und zahlreich gewachsen sei, dass man die Kühe im Tag dreimal habe melken müssen.
Herdfeuer und Lichter erloschen auf Palfries. Alvier und Gauschla, die beiden Berggreise könnten noch weiter erzählen, wie die letzten freien Walser nach 1798 noch ihre alten Berghäuser abbrachen und mit ihnen zu Tal gefahren sind. Aber sie schweigen. Auch von der alten Rathausglocke erzählen sie nicht, die starke Sennen auf einem Hornschlitten mit sich schleppten. Während der Talfahrt soll ihnen auf der Alp Elabrie das Fahrzeug unter der Last zusammengebrochen sein. Wohin die zersprungene Palfrieserglocke noch geschleppt wurde, weiss niemand zu erzählen. Die Berge haben genug mit sich selber zu tun, dass nicht noch mehr Felsen sich lösen, in die Tiefe donnern und auf den Grashalden am Regen erbleichen.
Erde zu Erde! — Asche zu Asche! — Staub zu Staub! — Einzig die Liebe, die dich, vergessenes Volk, zur Freiheit in Bergeshöhen hinaufzog, bleibet und stehet fest alle Zeit.
(Quelle: Jakob Kuratle: Vergessenes Volk. Schilderungen aus der Walsergeschichte. Appenzeller Kalender Band 210, 1931)

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