Clubtour auf den Faulfirst

Clubtour des Sektion Uto, 24./25. September 1898.

Unter dem stetig blauen Himmel, der diesen Sommer monatelang über unser Alpenland ausgespannt war, konnten die Clubtouren fast alle programmgemäss durchgeführt werden. So stunden denn auch Samstag den 24. September sechs Clubgenossen programmgemäss mit Rucksack, Pickel, Berg- und Spazierstock am Bahnhof Enge und warteten auf den Blitzzug, der sie um 10.41 Uhr nach Flums entführen sollte. Hatte ich aber bislang gehofft, dass diese Exkursion auf den Faulfirst ein sowohl mühe- als gefahrloser Herbstbummel sein würde, so belehrte mich die blosse Gegenwart unseres verehrten Tourenchefs, Herrn V., eines bessern, und ich fing an zu bedauern, statt des belächelten Backels nicht lieber den Pickel mitgenommen zu haben. …

Bei einem halbstündigen Aufenthalt in Weesen, wo wir unsern Zug abwarten mussten, vertauschte ich meinen Spazierstock nun wirklich mit dem Bergstock und folgte auch darin dem Beispiel meiner Genossen, dass ich mir eine warme Bratwurst zu Gemüte führte. So für’s Mittagessen ausgerüstet, fanden wir am Bahnhof Flums einen Salle à manger en miniature, doch gerade gross genug für unser sechs, und ein ländlich-sittliches Diner. Eine Sau, die erste, die uns heute begegnete, sorgte auf dem Platze vor dem Haus für die nötige musikalische Unterhaltung. – Hier war es auch, wo meine Wenigkeit feierlich zum Historiker ernannt und eingeweiht wurde.

Ein Viertel vor 3 Uhr nahmen wir unsere Rucksäcke teils auf den eigenen Rücken, teils luden wir sie dem Träger Obi auf, der auf dem Umweg über Bärschis uns nachfolgen sollte. Der Gipfel, auf den wir uns morgen wagen wollten, war durch die Schlucht vor uns gerade sichtbar, und rechts von dieser Schlucht stiegen wir zunächst auf schmalem Steig, sodann auf gutem Alpenweg durch Alp und lichten Wald, an dessen Stammgewirr, in dessen Blättergrün die Sonnenstrahlen spielten. Auf romantischem Brückli überschreiten wir im Hintergrund der Schlucht den klaren Bach und Wasserfall. Es passiert uns dabei, dass wir von unserm Leiter photographisch abkonterfeit werden. Wollte er vielleicht ein Andenken an uns mit sich nach Hause nehmen, wenn uns etwa oben in der Faulfirstlücke etwas arrivieren sollte.

Über die Brücke schwenkt der Weg gleich rechts ab, worauf ich diejenigen aufmerksam machen möchte, die gern auf unrechte Wege geraten. Bald tritt er aus dem Walde heraus und führt uns über offene Weide, an Gruppen mächtiger Wettertannen vorbei. Im Rückblick erscheinen die Glarneralpen, vom Glärnisch bis zum Calanda, vor uns stecken die Gipfel der Alvierkette noch im Nebel drin. Wir sind jedoch noch nicht in die saubere Sennhütte von Malun eingetreten, so lichtet sich der Nebelschleier und es enthüllt sich uns die stolze Felsenbastion: der Alvier, die Gärtlisegg, unser Faulfirst, die Rosswies und der Gamsberg, alles wahre Felsenburgen, die von unserer Seite her wohl nur durch Runsen erklettert werden können. Der Gamsberg namentlich soll nur für «Gamserl» sein und solche, die es werden wollen.

Ein immer schöner werdender Abend lockt uns wieder vor die Thür und zur Begrüssung unserer drei eben einrückenden Nachzügler. Dieses Kleeblatt, trifolium magnum bonum, war in sage 2 ½ Stunden hier hinaufgelaufen, wo wir ganz gemütlich 3 ½ Stunden gebraucht hatten, gewiss eine artige Leistung für 1200 m Höhenunterschied. Das artigste aber leistete doch die untergehende Sonne. In einem Purpurmantel glühender Abendwolken sank sie im Westen nieder und liess in ihrem Glutenwiderschein die Felswand des Alvier wie Erz im Schmiedefeuer glühen.

Mittlerweile brodelte über dem offenen Feuer in der Hütte eine flotte Maggisuppe, Stiftung des Herrn V., und um dieselbe herum setzten und stellten sich die dunkeln Gestalten der Alpenclubisten. Nach der Abendsuppe kam der Thee und nach dem Thee die Anekdote. Um 8 ½ Uhr lag alles auf dem Heustock und man wäre wohl beinahe eingeschlafen, hätte nicht die Schweineherde unter uns ein grunzend Veto eingelegt! Sie waren uns am Abend in corpore zum Willkomm entgegengekommen, und es stritten sich die grossen und die kleinen Grunzer nun wohl darüber, wer uns am frühen Morgen das Abschiedsgeleite geben sollte. Als dieser Saulärm endlich verstummte, da kehrte sich Genosse G. auf seine andere Seite und fing an zu schnarchen. Darauf laute Reklamation! Dann eine Kirchenstille, bei der man wieder nicht einschlafen konnte, ein Lüftchen aus dem Saustall, der frische Heuduft und die kühle Nachtluft! – Um 5 ½ Uhr sitzen wir alle beim excellenten Morgenkaffee, Stiftung des Herrn V., aber nicht alle so fein gewaschen und gekämmt wie der Erzähler, der in der Dämmerung am Brunnentroge Toilette gemacht hatte. «Er kämmt es mit güldigem Kamme und sang ein Liedchen dabei», aber das Wasser hätte wohl appetitlicher sein dürfen – beim Tageslicht betrachtet!

Eine Viertelstunde später Abmarsch bei klarem Himmel, morgenfrischer Luft und Nebel in der Tiefe. Um 7 Uhr lässt Herr G. im Couloir der Faulfirstlücke Halt machen, teils um diejenigen nachrücken zu lassen, welche infolge ungünstiger Körperbeschaffenheit seinem Schritte nicht haben folgen können, teils um uns alle auf das zu stärken, was noch kommen sollte. Und das that nun wirklich not, denn über die zwei arbeitsvollen, aufregenden Stunden, die nun folgten, bis wir oben in der Lücke standen, kann ich nur Grausiges berichten. Zum Debut kletterte Herr G. wie eine Katze über den ersten rundlichen Felsblock. Ein Zweiter versuchte es ihm nachzuthun und rutschte dreimal wieder herunter, das vierte Mal gelang es ihm. Dann folgte meine Wenigkeit. Ich lag gerade haltlos, mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem unbequemen Blocke – während die andern auf Umwegen bereits über demselben angelangt waren – als mir, von diesen losgelöst, ein Hagel Steine über den Cylinder rasselte. Und so ging es mit manchen Hindernissen weiter und meist auf allen Vieren. Steine kollerten noch die schwere Menge die Runse hinunter, teils auf eigene Rechnung, teils auch trotz aller Sorgfalt von den Vorderen in Bewegung gesetzt – glücklicherweise, ohne Unheil anzurichten – und von unten herauf hagelte es Schimpfwörter! Die beiden Leiter thaten mannhaft ihre Pflicht. Hier zogen sie einen schweren Mann am Strick hinauf, dort halfen sie einem leichteren mit dem Pickel nach. Um 9 ½ Uhr erreichten wir die Scharte und traten aus dem Schattenreich hinüber in den warmen Sonnenschein.

Von hier weg, meinte Herr G., sei der Gipfel in zehn Minuten unser. Mir schien das mehr als unwahrscheinlich. Herr G. behielt aber Recht und 3 ¾ Stunden nach Abgang von Alp Malun sassen wir alle nebeneinander, auf dem schmalen Rasenband des Faulfirstgipfels, 2385 m hoch. Von der Aussicht, die alles umfasste, was wir im Aufstieg stückweise gesehen, und noch viel mehr, will ich nur erwähnen, dass mir auf der einen Seite das Dorf Flums, das wir im Couloir ständig zwischen den Beinen durch hatten sehen können, auf der andern Seite die Ebene des unteren Rheinthals imponierte. Vom Walensee und auch von den mittleren Höhen war vieles von Nebel verdeckt; was aber den Nebelschichten entragte, badete in der herbstlich klaren Atmosphäre, die uns selbst auf unserer hohen Warte umgab und wohlig umspülte. Am Tage nachher hat dann das Wetter umgeschlagen.

Eine Stunde blieben wir hier, kneipten, schmausten und rauchten.

Da wir leider nicht wissen konnten, wie viel Zeit der Abstieg ins Rheinthal und nach Buchs hinunter in Anspruch nehmen würde, mussten wir unsern herrlichen Sitz zu früh schon verlassen.

Erst ging’s über ganz wenig Geröll und dann über Rasen und ein amphitheatralisch geformtes Karrenfeld. Bald waren wir im Baumrevier mit malerischen Tannengruppen und mit mathematischer Genauigkeit hat der rekognoscierende Feldherrenblick des Herrn G. von einem Hügel aus, auf dem er unterwegs Truppenschau gehalten, die Gerade entdeckt, die uns zur Alp Untersäss und von da nach dem Dorfe Buchs hinunterbefördern musste. Wald und Wiesen wechselten in angenehmster Reihenfolge. Zuletzt nahm uns auf breitem Fahrweg ein prächtiger Buchenwald in seinen mildthätigen Schatten auf. Schon drangen die Klänge einer Dorfmusik zu uns herauf – einer andern als gestern in Flums – noch wenige Minuten, und wir ziehen durch Reihen sonntäglicher Spaziergänger und Spaziergängerinnen, an einer Reihe schmucker St. Galler Häuschen vorbei, dem Bahnhof zu. Der Abstieg hatte sonder Erwarten nur 2 ½ Stunden gedauert.

Zwei Bier, zwei schwarze Kaffee und ein Glas Vaduzer Kratzer zum Diner auf den Mann, und wir sind restauriert, regeneriert und niemand sieht uns mehr was an.

Auf der Heimfahrt besahen wir uns vom Bahnzug aus den neuen Pfad des österreichischen Alpenclubs hoch oben an der Felswand der drei Schwestern, und das Kurhäuschen Gaflei, liessen Baltzers, wo das beste Wirtshaus existieren soll, weil wir nicht anders konnten, an uns vorüberziehen, guckten selbstzufrieden von Flums aus zu unserem Couloir hinauf, prägten uns das stille Bild des Walensees aufs neue ein und fanden darauf den Zürchersee so lieblich wie zuvor.

Trotz der unerwarteten Schwierigkeiten, die sich uns entgegenstellten, war diese Tour doch eine überaus genussvolle. Bei der trockenen Beschaffenheit der steilen Rasenhalden gestaltete sich allerdings die Kletterei im Couloir etwas mühsam und nicht ganz ungefährlich, so dass wir uns im Bahnzuge sagten: «Für ein Mal war es schön, doch möchten wir’s ein zweites Mal nicht wieder wagen.» – Ein zweites Mal nehmen wir dann den «Gamsberg»! (Referat von A. Pfrunder)

(Quelle: Alpina 1899)

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