Eine Dreischwestern-Fahrt. Wir Ostschweizer Sektionen des S. A. C. sind bei der Aufstellung unserer Tourenprogramme oft in bitterer Verlegenheit. Immer und immer wieder im Säntisgebiet herumlaufen geht nicht wohl an. Bündnerland und Glarnerberge sind bei den miserabeln Bahnverbindungen nur mit viel Zeitverlust zu erreichen und auch die Centralschweiz kann für uns nur bei zweitägigen Touren in Betracht fallen. So sind wir denn genötigt, hie und da einen Sprung über die Grenze hinaus zu thun zu unseren guten Nachbarn, den Österreichern, die uns jeweilen mit guter Küche, patentem «Spezial» und freundlichen Worten das Böse vergelten, das unsere Vorfahren den ihrigen am Morgarten und bei Sempach gethan. So hat die junge Sektion Thurgau am ersten Junisonntag letzten Jahres eine kleine Tour über den Rhein ausgeführt, die nur deshalb hier in knappen Strichen geschildert werden soll, weil sich das in Frage stehende Gebiet für Frühsommertouren von der Ostschweiz aus wie kaum ein zweites eignet und wie kaum ein anderes für Sektionen und Einzelgänger lohnend ist.
Wenn man von Rorschach rheinthalaufwärts nach Chur fährt, so beherrscht auf weiter Strecke ein vielgezackter ca. 2000 Meter hoher Felskamm die Thallandschaft. Bei Buchs hat man ihn grad gegenüber und wer ein kleines clubistisches Äderchen in sich hat, den ziehts hinauf, denn der Stock imponiert trotz der nicht bedeutenden Höhe. Der vielgezackte Berg ist vom Volksmunde, der in der geographischen Namengebung viel originellere Einfälle hat als die korrekte Kartographie, «Dreischwestern» getauft worden. Leute mit Phantasie mögen sich eine recht romantische Schauergeschichte mit dem Namen zusammenreimen. Die drei Schwestern sind der Kuhgratspitz (2124), der Garsellakopf (2078) und der Dreischwesterngipfel i. e. S. (2025). Es sind drei alte Schachteln von Bergen mit runzeligen Gesichtern und brüchigen Gliedern, sie sind eben sitzen geblieben, trotzdem von der andern Thalseite seit Jahrtausenden ein paar heiratsfähige Berggesellen, der Alvier, der Faulfirst und der Altmann, gar sehnsüchtig herübergeblinzelt haben. Vielleicht liesse sich auf diese Weise die angedeutete Schauergeschichte von den «Dreischwestern» ganz ordentlich zusammenbringen.
In sternklarer Vollmondnacht sind wir, eine fröhliche Kumpanei von zwölf Mann, von Buchs über die neue Rheinbrücke von Sevelen, die damals nicht einmal kollaudiert war, nach Vaduz hinüber gewandert. Mit österreichischer Liebenswürdigkeit nahm uns der Zollwächter am Brückenkopfe in Empfang; er wünschte gute Bergfahrt und fand es nicht für nötig, seine Nase in unsere Rucksackgeheimnisse hineinzustecken, wie das denn bei der Heimfahrt der helvetische Zöllner von St. Margrethen in übertriebener republikanischer Gewissenhaftigkeit gethan hat. Im «Goldenen Löwen» in Vaduz waren Quartiere bestellt und um halb elf Uhr sassen wir in heimeliger Stube, wo neben «unserm lieben Kaiser Franz» auch das Bildnis Johanns II., des souveränen Fürsten von Lichtenstein hängt.
Wir schliefen gut auf dem Boden Seiner Durchlaucht. Was hätte uns da auch passieren können, das Fürstentum Lichtenstein, dessen Haupt- und Residenzstadt das Dorf Vaduz ist, repräsentiert ja den Idealstaat der Zukunft und ist es geworden ohne Bebel und Greulich. Es hat keinen einzigen Soldaten, nicht einmal einen Landsturm; die guten Lichtensteiner zahlen keine Steuern, im Gegenteil, Seine Durchlaucht muss blechen, dass er die Lichtensteiner regieren darf und dieser Fürst, der kapitalkräftigste Herr ganz Österreichs, ist mit seiner Freigiebigkeit, die manche Kaiserbarmherzigkeit in den Schatten stellt, immer dabei, wenn’s eine Schule zu bauen gibt, wenn der überstellige Rhein gebändigt werden soll, oder wenn die Vaduzer ein Feuerwerk abbrennen wollen. Er hat den Vaduzern für 300,000 Fr. eine prächtige gotische Kirche bauen lassen und den Schaanern hat er für die ihrige gleich eine der grössten Alpen auf den Dreischwestern geschenkt; für die Rheinkorrektion hat er tief in die Tasche gegriffen und in Balzers hat er eine Erziehungsanstalt gegründet, wo die jungen Lichtensteinerinnen gratis fromm und gelehrt werden können. So siehts denn überall hablich aus im Liechtensteinischen und eine statistische Merkwürdigkeit macht die Glückseligkeit voll: Lichtenstein hat im Gegensatz zu vielen Grossstaaten fast genau so viel Frauen als Männer; von den 9434 Einwohnern, die bei der letzten Volkszählung gezählt wurden, waren 4757 männlich und 4677 weiblich. Jede Lichtensteinerin kann also mit tötlicher Sicherheit auf einen Lichtensteiner zählen und bleiben noch 80 Lichtensteiner übrig. Schliesslich sei beigefügt, dass Lichtenstein 159 Quadratkilometer gross ist und 16 Ortschaften zählt. Alles übrige steht im Bädecker, nicht aber das lose Sprüchlein, das einer von uns, inspiriert durch den patenten Vaduzer, beim Schlafengehen zusammengedichtet und nach bekannter frommer Weise halblaut treppauf gesungen hat:
Und der Fürst von Lichtenstein
Hat ein Ländchen ach so klein,
Springt ein Fass Petroleum
Riecht’s im ganzen Fürstentum.
Ins Stammbuch möchte ich aber dem Fürsten von Lichtenstein und Grafen zu Schellenberg das Sprüchlein nicht geschrieben haben.
Am folgenden Morgen machten wir uns früh auf die Socken. Es war kurz nach drei Uhr, als das Getrampel schwerer Nagelschuhe die guten Vaduzer aus ihrem Schlafe aufschreckte. Wir liessen den Steilweg, der direkt durch den Wald nach Gaflei hinaufführt, links liegen und folgten, getreu dem alten Wandersprüchlein, dass ein guter Krumm nicht um ist, dem Strässlein, das am Schloss Vaduz vorbei durch Wald und Weiden, durch Weiden und Wald im Andantino gemächlichen Schlenderns den Wanderer in 2 ½ Stunden zum Alpenkurhaus Gaflei hinaufführt.
Das Kurhaus Gaflei, wo wir den programmgemässen Frühstückshalt machten, liegt schon gegen 1600 Meter hoch. Die Aussicht weitet sich schon ganz gewaltig, namentlich ins Bündnerland hinein. Als Touristenplatz in Aufschwung gekommen ist Gaflei, seitdem durch den D. und Ö. Alpenverein und – wie könnte es auch anders sein – durch die splendide Mithülfe des Fürsten von Lichtenstein der Dreischwesternweg angelegt worden ist. Früher ist nur der nördlichste Gipfel, die Dreischwestern im engern Sinne, von Feldkirch aus bestiegen worden; auf den Garsellakopf oder den Kuhgratspitz kam nur hie und da einer, der eine grosse Gegensteigung und eine ziemlich mühsame Kletterei leichten Herzens mit in Kauf nahm. Die schönste Partie des heutigen Weges endlich, die Strecke Gaflei-Gafleisattel auf der Rheinthaler Seite war meines Wissens gar nicht zu machen. Heute führt nun ein sehr interessanter Weg von Gaflei an der Westwand zum Gafleisattel hinauf, von dort an der Ostwand zum Kuhgratspitz, dann weiter über den Garsellakopf zum Dreischwesterngipfel, so dass man also in 6 -7 Stunden von Gaflei aus über alle drei Gipfel nach Feldkirch hinuntergelangen kann. Die ganze Anlage soll circa 30,000 Franken gekostet haben; die erste Strecke Gaflei-Gafleisattel, die allein 10,000 Gulden verschlungen hat, ist ganz vom Fürsten gebaut worden; man hat deshalb den Weg «Fürstensteig» getauft, was unter sothanen Umständen auch der demokratisch geeichte Clubist nur billigen kann.
Wir marschierten um 6 ½ Uhr von Gaflei ab. Der Weg geht zunächst durch einen Zwergföhrenwald noch circa 100 Meter aufwärts, dann direkt hinein in die Felsen und bleibt nun eine Stunde lang an der steil ins Rheinthal abfallenden Westwand. Ohne starke Steigungen geht’s schmiegsam allen Runsen und Spalten des grotesk zerklüfteten Hanges nach; an einigen Stellen lag noch Schnee in den Runsen und Geschiebeablagerungen mahnten zur Vorsicht. Der Weg wird überhaupt auf dieser Strecke Jahr für Jahr Kosten verursachen; er ist auch ein paar Tage nach unserer Tour durch einen Gewitterregen auf einer Strecke von circa 30 Metern ungangbar gemacht worden. Ist er ordentlich im Stande, so kann er von Jedermann begangen werden; an schmalen Stellen sind für schwindelbehaftete Leute Geländer angebracht worden.
Am Gafleisattel erwartet den Wanderer eine Ueberraschung. Er tritt durch einen Kammeinschnitt plötzlich an die Ostwand, das Rheinthal und der Blick in die Schweiz hinein sind weggewischt und man sieht nun in das tiefe dunkle Saminathal hinab und drüber weg in die weite Tiroler Gipfelwelt hinein. Eine gute Stunde lang zieht sich nun der Weg an der Ostseite des Kammes aufwärts, aber so nahe am Grat, dass man nur ein paar Schritte abseits thun muss, um ins Rheinthal hinunter sehen zu können. Hie und da kann man sich auch das Vergnügen gestatten, rittlings auf den Grat zu sitzen und das eine Bein ins Rheinthal, das andere ins Saminathal hinunter schlenkern lassen. So kommt man ohne grosse Mühe hinauf zum Kuhgratspitz, dem ersten und höchsten Gipfel des Dreischwesternstockes. Dass die Besteigung dieses Berges keine alpine Heldenthat ist, geht daraus hervor, dass wir den Gipfel von einem Rudel jungen Mädchen besetzt fanden; es war ein – Kochkurs aus Dornbirn. Wir beglückwünschten das junge Volk zu seiner bergsteigerischen Leistung, waren aber doch froh, als die Mädels mit ihrem pickelbewaffneten Führer den Rückweg nach Gaflei hinunter antraten, von woher sie gekommen waren, denn der Kochkurs von Dornbirn und die Sektion Thurgau S. A. C. hätten auch bei weitgehendster Verträglichkeit auf dem engbegrenzten Raum der Kuhgratspitze nebeneinander nicht Platz gehabt.
Der Herr hat es mir nicht verliehen, eine Aussicht zu schildern; ich will also nur in trockenen Worten sagen, dass die Rundschau packend ist, namentlich gegen Süden und Osten, wo man zunächst der Rätikonkette in alle ihre intimsten Geheimnisse hineinschaut und dann ins heilige Land Tirol hinein, wo die alpinen Majestäten an jenem wunderbaren Junimorgen ihren funkelndsten Sonntagsstaat von Licht und Glanz und Bläue umgelegt hatten. Auch der Blick ins Rheinthal hinab und drüber weg in das Glarnerland und in die Centralschweiz hinein ist über die Massen schön und weit. Etwa eine Stunde lang schauten wir in diese Herrlichkeiten hinein und sprachen dazu gegen allen clubistischen Brauch dem mitgebrachten Vaduzer wacker zu; dann erinnerten wir uns aber doch, dass noch zwei weitre Schwestern unseres Besuches warteten. Ein schüchterner Vorschlag, es bei einem Gipfel bewenden zu lassen und dem Kochkurs nach Gaflei hinunter nachzulaufen, wurde mit gebührender Verachtung bestraft. Eine halbe Stunde später standen wir auf dem Garsellakopf und in einer weiteren halben Stunde auf dem dritten Dreischwestergipfel. Die Passage zwischen den drei Gipfeln bietet heute absolut keine Schwierigkeiten mehr; die Leitern scheinen mehr zur Dekoration da zu sein und an Seilen hat man auch nicht gespart. Auf dem nördlichsten Gipfel, dem altbekannten, thut sich ein schöner Blick über das weite Thal der Ill in den dunkeln Bregenzerwald hinein auf und fern von Norden her blaut das schwäbische Meer mit seinen blanken Uferstädten herauf.
Inzwischen war es 11 Uhr geworden, die Mittagssonne begann sich fühlbar zu machen und der Gedanke an den fast dreistündigen Abstieg nach Feldkirch hinab in der schönsten Mittagszeit lastete schwer auf den Gemütern. Dann nahmen wir aber tapfer unser clubistisches Gewissen zusammen und zogen fürbas hinab zur Alp Garsella, dann unheimlich lang, fast eben durch Weiden und Wald und durch Wald und Weiden, an der historischen Stätte vorbei, wo im Schwabenkriege der Urner Heinrich Wolleb eine gebirgsgewohnte Schar Schweizer über die nördlichen Ausläufer der Dreischwestern den Oesterreichern bei Frastanz in den Rücken geführt hat, schliesslich von der Alp Amerlügen auf gut Glück direkt hinab auf kniemordendem Pfad in die Ebene. Um ½ 2 Uhr zogen wir sonnenverbrannt und schweissgebadet in Feldkirch ein.
Und das Fazit: Die Dreischwestern sind für ostschweizerische Sektionen des S. A. C. eine sehr dankbare Tagestour. Wer vor einem Normalarbeitstag von 9 – 10 Stunden zurückschreckt, der gehe am Vorabend noch nach Gaflei; dann wird die Dreischwestern-Fahrt zum genussreichen Sonntagsspaziergang.
(von Hans Schmid, Sektion Thurgau S. A. C.)
(Quelle: Alpina 1902)