Das Badehaus liegt hart am Eingang der spaltenartigen Schlucht, in welcher die Quelle entspringt und aus der die Tamina tobend hervorbricht, hart an die Felsen angelehnt, welche hier eine Höhe von etwa 300 Par. Fuss haben. Auf beiden Seiten des Flusses steigen sie senkrecht auf, dann aber folgt auf der linken Seite eine mit schönem Buchenwald bedeckte Halde, in welcher gut angebrachte Wege schöne Spaziergänge bieten und auf die Terrasse von Valens führen. Das Haus ist alterthümlich gebaut, aber bequem, und wenn auch die etwas düstere Umgebung, die nah herantretenden Felsenwände, das Brausen des Stromes und der enge Kreis, auf welchen das Leben dort beschränkt scheint, für Manche etwas Unheimliches haben, so findet man doch in der Regel, dass die Badegäste den Ort lieb gewinnen. Gerade diese Umstände nöthigen, sich enger aneinander anzuschliessen und es herrscht unter den Badegästen bald ein freundschaftlicher Ton, der sich auch auf die erstreckt, welche aus andern Gründen den Ort zufällig besuchen. Für den wirklich Kranken ist die stille Umgebung angenehmer als ein geräuschvolles Luxusbad, die Genesung oder wenigstens Erleichterung, die bei der anerkannten Heilkraft der Quelle den Meisten zu Theil wird, muss natürlich auch eine dankbare Erinnerung erwecken. Auch für die Armen ist gesorgt, und so bildet die kleine Welt, in welche man hier während der Kurzeit eingeschlossen ist, einen traulichen Kreis, den die Meisten ungern verlassen. So wurde mir wenigstens von Vielen gesagt.
Die Bäder sind gut eingerichtet und besonders angenehm ist der Ueberfluss an Wasser, das nicht erst erwärmt zu werden braucht, um gerade die dem Körper am besten zusagende Wärme zu haben (29 ½ °R.), also ungefähr Blutwärme.
Zur Quelle gelangt man jetzt auf die bequemste Weise, während in früheren Zeiten der Zugang sehr mühsam, wo nicht gefährlich war. Aus der alterthümlichen aber schönen Trinkhalle tritt man auf die Brücke, welche über die Tamina führt und steht nun unmittelbar vor dem Eingang des finsteren Schlundes. Eine von starken Balken und Brettern erbaute Galerie führt über den überhängenden Felsen durch, die sich beiderseits 200-290’ erheben, während die Kluft im Mittel etwa 30’ breit ist. Oben erscheint dem Wanderer nur ein schmaler Streif des blauen Himmels, das Einzige, was er von der sonnigen Oberwelt gewahr wird, während ihn sonst die Schatten der Tiefe umgeben; an mehreren Stellen verschwindet auch dies; unten braust und schäumt die Tamina über Felsenblöcke hin, bei feuchtem Wetter stürzen die Tagwasser als kleine Cascaden in die Kluft und im Hintergrund ist dann ein grösserer Wasserfall, in dessen Staubmasse die Mittagssonne einige Strahlen wirft und farbige Bilder hervorruft. Ueberhaupt erscheint die Kluft am schauerlichsten, wenn die Sonne hoch steht und einige Streiflichter in das Dunkel wirft, welches dadurch noch finsterer erscheint. Die Luft ist kühl und feucht, durch das Strömen des Wassers wird immer eine gewisse Zugluft erhalten. Es macht diese Umgebung unstreitig auf Jeden einen mächtigen Eindruck, auch wenn er sie nicht zum erstenmale sieht, und begreiflich ist es, dass Fremde, die hier zum erstenmale das Hochgebirg betreten und gleich von einer seiner erhabensten Scenen überrascht werden, davon förmlich überwältigt sind. Man geht auf diese Weise etwa 1500’ fort und bei jedem Schritt gestalten sich andere Bilder des unterirdischen Raums; endlich kommt man zur Quelle. Ihre Fassung, in der Tiefe sehr künstlich angelegt, ist äusserlich sehr einfach, eine kleine Terrasse gestattet freiere Bewegung, auch thun sich oben die Felsen weiter auseinander, man erblickt mehr freien Luftraum und die Zweige der Bäume und Büsche, die über die Kluft hängen; das Sonnenlicht blitzt farbig durch sie hin. Aus der Quelle steigen bei etwas kühlem Wetter starke Dampfwolken aufwärts. Hier ist der Weg abgeschlossen; nur auf weiten Umwegen gelangt man an das andere Ende der Spalte. …
Man war früher der Meinung, die Schlucht der Tamina sei eine mit Geschiebe und Bergschutt gefüllte Spalte, welche in unendliche Tiefe hinabreiche und aus dieser komme die Quelle hervor. Dies ist durch die 1857-58 unter Leitung des Ingenieurs Hefti ausgeführten Arbeiten vollkommen widerlegt und damit eine grosse Besorgniss für die Zukunft beseitigt. Nachdem man etwa 15’ tief den Schutt weggeräumt hatte, fand man das Flussbett, so weit es aufgedeckt wurde, aus glatt ausgewaschenem, wie polirtem Kalkfels bestehend. Die Hauptspalte mit ihren Nebenverzweigungen lief schief durch, sie war an den tiefsten Stellen am engsten und lieferte da einige kleine Fäden Thermalwasser, eine ziemlich starke Quelle auf der linken Seite des Flusses und eine sehr starke, etwas von der Mitte gegen die rechte Seite zu, nicht weit von der früher schon gefassten Hartmannsquelle und der alten Hauptquelle. Die feste Beschaffenheit des Felsbodens machte eine vollständige Fassung möglich, welche ausgeführt wurde, so dass man jetzt die ganze Masse des heissen Wassers in seiner Gewalt hat. Käme die Quelle aus Geschiebe, so hätte sich dies nicht ebenso ausführen lassen. Es ist damit zugleich der Beweis geführt, dass die Taminaschlucht eine durch Auswaschung entstandene ist.
Höchst interessant waren die zur Fassung der Quelle mit grosser Energie und Intelligenz unternommenen Arbeiten. Es war gerade mitten im Winter und die Schlucht hatte ihre winterlichen Verzierungen von grossen hereinhängenden Eiszacken u.s.w angelegt. Der Tamina hatte man, da sie um diese Zeit sehr wenig Wasser hat, ein Bett in einer Bretterleitung über der Quelle weg angewiesen und arbeitete unter demselben ungestört in die Tiefe. Der aufsteigende Dampf des Thermalwassers, die flimmernden Lichter in dem dunklen Raume, die da und dort auftauchenden Gestalten der Arbeiter, das Knarren der Pumpen u.s.w. brachten in diese sonst so stillen Räume ein Bild von Leben und Thätigkeit ganz eigenthümlicher Art und wenn man überhaupt in dieser Schlucht von jeher etwas mit dem Eingang in die Unterwelt Verwandtes gefunden hat, so hatte diese Scene in der That etwas Infernalisches.
Diese Arbeiten wurden später dadurch fortgesetzt, dass auf der rechten Seite ein Stollen in die Felsen getrieben wurde, um die Quellspalte tiefer im Berge zu treffen. Man erreichte sie, nachdem man etwa 80’ im festen Fels vorgegangen war, aber eine neue wunderbare Erscheinung zeigte sich hier. Die Spalte erweiterte sich zu einer nach OSO gestreckten Höhle, welche mit Thermalwasser gefüllt war, und sich in mehrere Seitenräume theilte. Allerlei Stalaktitengebilde hingen von der Decke, mächtige Dampfwolken drangen aus der Kluft hervor und ein Bach von heissem Wasser floss durch den Stollen ab und fliesst fortwährend. In den ersten Tagen nach der Entdeckung, ehe durch die zur Benutzung nothwendigen Verbauungen der ursprüngliche Charakter dieser Scene etwas verwischt wurde, war diese gewiss das Wunderbarste in der ganzen an Merkwürdigkeiten so reichen Umgebung und ist auch jetzt noch höchst sehenswerth. … Durch diese neue höchst wichtige Entdeckung ist das Bad wohl für immer gegen Wassermangel sicher gestellt. …
(Quelle: Naturbilder aus den Rhätischen Alpen. Ein Führer durch Graubünden. Von Prof. Gottfried Theobald. Chur, 1862)