Das Calfeisental und seine einstigen Bewohner, die freien Walser

Calfeissen oder Calfeussen. Ein grosses Thal, gegen die Bündnerischen Grenzen, in welchem fruchtbare Alpen, auch beständige Eisgletscherberge liegen. Aus denselben empfängt die wilde Tamina ihre Quelle. Ehemals, da das Thal noch beständig bewohnt war, hatte es seinen eigenen Ammann und Gericht. Dermal ist es nur den Sommer durch, von denen, die sich auf den Alpen aufhalten, bewohnt. In dem Thal befindet sich eine Capell.
(Quelle: Johann Conrad Fäsi, Die Grafschaft und Landvogtey Sargans, 1765-1768)

Dass Calfeisen in frühern Zeiten bevölkert war, d. h. dass die Einwohner dort Sommer und Winter über ständig blieben, geht es zahlreichen Ueberresten menschlicher Ansiedelungen und aus verschiedenen Namen hervor. Die Kapelle bei St. Martin mit dem vielbesprochenen Beinhause steht an der Stelle einer alten Kirche; heute wird nur noch einmal im Jahre bei St. Martin Messe gelesen. Auf dem sog. “Rathhausboden” in der Sardonaalp finden sich eine grosse Zahl Mauerreste von Wohnhäusern und Ställen; auf dem “Ammannsboden” mag der Ammann gewohnt haben. Im “Parli” war der Marktplatz, wo man in 2 Sprachen “parlirte”. Heute ist im ganzen Thale nur noch ein einziges Haus Sommer und Winter bewohnt, dasjenige im sog. Gigerwald, 1237 m. Den Namen nach zu urtheilen, waren die ersten Bewohner des Thales Romanen, die spätern Allemannen.
(Fridolin Becker: Itinerarium für das Excursionsgebiet des S.A.C. 1888: Graue Hörner – Calanda – Ringelspitz. Glarus 1888)

Das Calfeisenthal*
(*Anmerkung: „Calfeisen“ oder „Calfeusen“ hiessen früher bloss die Alpwiesen und Weiden bei der Kapelle St. Martin. Später ging der Name auf das ganze Thal über. Die alten Thalbewohner und die jetzigen Eigenthümer genannter Güter tragen jetzt noch im Volke den Namen „Calfeisni“ oder „Calfeusner“, aber nie „Calfeuser“, weshalb es auch falsch ist, von einem „Calfeuserthal“ zu sprechen. In ähnlicher Weise hiessen die Bewohner von Vättis nicht „Vättiser“, sondern „Vättner“. Ganz unrichtig ist die Bezeichnung „Calfeusenthal“ für das Taminathal von Vättis bis Ragaz.)
Westwärts von Vättis zieht sich das Taminathal unter dem Namen Calfeisenthal weit in das Gebirge hinein. Dieses ist der Tamina eigenstes Werk. Hier hat der alte Rhein, der das Thal von Kunkels bis Pfäfers aushobelte, nicht mehr mitgewirkt, und man muss den Eifer und Erfolg des ungestümen Bergkindes in hohem Masse bewundern, wenn man die himmelhohen Thalwände betrachtet und hinunterblickt in die Schlucht, durch welche jetzt die Tamina dahinbraust. Hier hat sie freilich härtere Arbeit; aber im Laufe der Zeit werden auch hier noch Scenerien erstehen, wie man sie eben nur in jener andern Taminaschlucht findet.
Das Calfeisenthal ist ein in jeder Beziehung charakteristisches Alpenthal. Der forschende Wanderer findet hier die Natur in ihrer ganzen Grösse. Was Felsen für Schrecken und Schönheiten bieten können, findet er hier; den Kampf der Vegetation mit den rauhen Elementen des Hochgebirges, unbändige Wildwasser, krachende Lawinen, glänzende Firnen und grüne Almen; eine ganze Welt von Poesie kindlich-naiver, ergreifender, grandioser Art schwebt über dem rauschenden Thalbach.
Das Calfeisenthal ist ein Antiklinalthal; zu beiden Seiten stehen die Schichtenköpfe bald in grauen, bald in gelben Wänden vor, und infolge der verschiedenen Widerstandsfähigkeit der einzelnen Stufen gegen die Verwitterang haben sich Scenerien von gewaltiger ästhetischer Wirkung gebildet. Auf den so entstandenen Terrassen hat sich die Vegetation mit ihrem grünen Polster angesiedelt. Über die Wände stürzen die Wildbäche, die bei grösserer Wassermasse die schönsten Wasserfälle bieten würden. An solchen Stellen fährt im Winter auch der Schnee zu Thal; am Morgen auf dieser, am Abend auf jener Seite. Vor allen ist die „Fluhleue“ der Schrecken aller derjenigen, die bei feuchtem oder Föhnwetter den Weg durch das Thal zu nehmen haben. Ohne Geräusch sammelt sie oben auf der Alp Panära ihre riesigen Massen, und leise durch das glatte, ausgefegte Tobel herabschiessend, schleudert sie den ahnungslosen Wanderer in die Schlucht. Gewaltige Schneehaufen im Bett der Tamina zeugen noch im Spätsommer von der Arbeit der Schreckenstochter.
Die Flora ist hier mit einer Reihe von seltenen Pflanzen vertreten. Die rostblätterige Alpenrose (Rh. ferrugineum), die meist nur in den Höhen der Alpen zu treffen ist, steigt hier, ungefähr 20 Minuten hinter Vättis, an einer Stelle am Ufer der Tamina, bis zu 1100 m herab, wo sie schon anfangs Juni in Blüte steht.
Auch das Edelweiss blüht hinter Gigerwald schon in einer Höhe von 1300m grossen Beständen auf Rasen und Felsen. …
Bis nach St. Martin ist das Thal mehr eine imposante Schlucht zu nennen. Erst dort, wo die weicheren eocenen Gesteine den Thalgrund erreichen, breitet sich das Thal zu einem Kranze weidereicher Alpen aus, die noch ein bedeutendes Stück hinauf bewaldet sind, wodurch das Ganze wieder an Reiz und Lieblichkeit gewinnt. Der Südhang aber, dem firnenreichen Ringelgebirge angehörend, ist rauher und wilder. Dort herrscht die Arie und „Drose”, die in mächtigen dichten Beständen der verfolgten Gemse Heim und Versteck bietet. Auch das Weidegras dieser Thalseite ist nur sogenanntes „Schattengras”, das nicht so nahrhaft und „milchig” ist wie das „Sonnengras” der andern Thalseite. …
Hinten in der Alp Sardona und jenseits auf der Tristelalp finden wir noch bis zur Höhe von 1800 m zum Teil prächtige Exemplare von Arven noch in voller Triebkraft. Es sind wohl die einzigen des Kantons. …
Das Thal zählt nicht weniger als zehn Alpen, die ebensoviel verschiedene Besitzer haben. Bis auf zwei sind alles Galtalpen. Die meisten haben zwei, die Schräa-Alp drei, Panära sogar fünf Sässe oder Staffel mit ebensovielen Alphütten, unter denen diejenige beim „Judenhüttli” bei 1260 m die niedrigste, und die obere Hütte am Augstenberg bei 2021 m die höchste Hütte des Calfeisenthales ist. Da ist es nicht zu verwundern, wenn im Winter 1895 eine Lawine der Simelhörner die Zahl derselben um eine verminderte.
Entsprechend der Zahl der Alpen ist auch die Zahl des Viehes; so wurden beispielsweise im Jahre 1892 in den sämtlichen Alpen des Thales gesommert: 1145 Stück Rindvieh, 1283 Schafe, 167 Ziegen, 57 Schweine und 42 Pferde, zusammen 2694 Stück.
Wenn man dazu noch das heissblütige Volk der Gemsen, „Munggen”, Dohlen, Adler, Sperber, und als Krone des Ganzen die Menschen in ihrer mannigfaltigen Hirten- und Sennentracht dazu rechnet, dann bekommt man ungefähr einen Begriff von dem fröhlichen Leben und Treiben, das vom Frühling bis zum Herbst auf diesen sonnigen Triften herrscht, auf welche die erste Morgenröte des Sardona und das letzte Abendglühen des Ringel niederblickt. Es fehlt nur noch ein himmelblauer See, um das Bild des Friedens und der feierlichen Erhabenheit zu vollenden.
Vor Zeiten freilich stand hier alles anders. Wo jetzt Alphütten stehen, waren früher ständige Wohnungen der Menschen. Ein fremdes Volk, die freien Walser, war vor vielen hundert Jahren hier eingewandert, und auf dem Stockboden, dem Ammannsboden und in Sardona erbaute es seine Dörfer, und bebaute das Land. Auf dem Parli, hinter St. Martin, war der gemeinsame Marktplatz, wo die Leute des Thales und des benachbarten Bündnerlandes ihre wenigen Produkte austauschten. Das Volk wuchs heran; die Mittel zur Ernährung schwanden, weil das vorhandene Alpenland nicht für so viele ausreichte. Da begann man die Wälder auszureissen, so auf Panära und Schräa. Die Folge war, dass das Thal verwilderte; kalte Winde strichen über die Landschaft; vom Sardona stiegen schreckliche Hochgewitter hernieder, und unbändige Wildbäche verheerten die genannten Alpen. Da war des Bleibens nicht länger. Wohl oder übel musste ein Teil der Bewohner das Thal verlassen, um den übrigen noch Mittel zum Leben und Fortkommen zu lassen. 1385 fand die erste Auswanderung statt. Wenige Jahrhunderte ging es, und Not und Entbehrung zwangen auch die Zurückgebliebenen zur Auswanderung, um in fremder Gegend unter andern Leuten ihr Brot zu suchen. Wohin sie alle gezogen, melden keine Daten. Ihre Dörfer zerfielen, nur die Stätte, wo sie einst gestanden, erblickt der Wanderer heute noch, und sollte auch diese verschwinden, so zeugen doch die Namen des Thales für seine einstige Kultur. Die Geschichte ist zur Sage geworden, und mit der Sage verschwindet allmählich auch die Erinnerung an das Volk, das durch eigene Schuld seine Heimat verlor.
Nur das Kirchlein, das sie auf dem Felsen, inmitten des Thales, erbaut, steht heute noch und schaut friedlich in die ernste, erhabene Welt hinaus. Tief unten rauscht die Tamina eilig vorüber und bringt flüchtige Grüsse vom Sardona, der dort hinten im Thale hervorblitzt. Neben dem Kirchlein lag der alte Friedhof, der aus dem Stockboden hierher versetzt wurde. Die letzte Tote wurde hier 1615 begraben. Die Gebeine hat man ausgegraben und nebenan in dem armseligen Beinhaus untergebracht. Wann die St. Martinskapelle gebaut wurde, früher war es eine eigentliche Kirche im katholischen Sinne des Wortes, ist nicht mehr bekannt. Sicher ist, dass sie ums Jahr 1600 schon gestanden hat. (Alte Leute erinnern sich, dass das mit diesem Namen bezeichnete Mauerwerk früher total mit Gebeinen angefüllt war, von denen viele aussergewöhnliche Dimensionen besassen. Aber bei der schlechten Aufsicht ist der grösste Teil derselben durch raritätenliebende Reisende oder durch wilde Tiere abhanden gekommen, weshalb die Ableugnung der Reisebücher von noch vorhandenen Riesenknochen, wie sie besonders Tschudi bringt, zwar richtig, aber kindisch erscheint.) … Drinnen in der Kapelle („Chilchli” nennt sie das Volk) stehen einige Betstühle. Über dem Altar hängt das Bild des Thalpatrons, St. Martin, wie er als Kriegsheld zu Pferde sitzt und dem als Bettler verkleideten Heilande die Hälfte seines Mantels reicht.
Alljährlich werden hier im Frühjahr mehrere Messen gelesen für den Segen und das Wohlergehen der Hirten und Herden. Am Jakobifest aber, da pilgert das Volk von Vättis und Umgegend hierher, um den Tag des hl. Martin würdig zu begehen. Nach der Regel sollte der St. Martinstag am 11. November gefeiert werden; aber in solcher Jahreszeit wäre hier jede Feier unmöglich; daher verlegte man das Fest auf den Sonntag nach Jakobi, also in die zweite Hälfte des Juli. Da ist der Weg frei und ohne Lawinengefahr. Und so pilgern denn jährlich 100-200 Personen, Einheimische und Fremde, von allen Seiten herbei, von Vättis, Pfäfers, Ragaz, Vilters, Mels und Weisstannen, Alte und Junge, Burschen und Meitli; selbst alte Mütterchen scheuen sich nicht, den weiten beschwerlichen Weg unter die Füsse zu nehmen, und dazu noch den Rosenkranz zu beten. Auch die Kurgäste von Vättis fehlen nicht. Der schöne Gebrauch, dass die jungen Burschen die Fahnenstange, die Mädchen das Blatt dazu bis zum Judenhüttle trugen, woselbst dann die Fahne dem gesammelten Zuge vorangetragen wurde, hat aufgehört. Hinter dem Judenhüttle überrascht den Wanderer auf einmal der liebliche Blick auf die Kapelle und den malerischen, tannengekrönten Felskopf des Ancapan. Vom Turme des Kirchleins läutet das Glöcklein ins Thal, und der frohe Wiederhall von Felsen und Planken erweckt in ihm eine feierlich-freudige Stimmung. Von Panära, Brändlisberg, Schräa, Plattenalp, überall kommen die Hirten und Sennen herab, mit dem Edelweiss auf dem Hute und dem Hirtenstocke in der sehnigen Rechten. Und sie lagern sich alle auf dem Platze neben dem Kirchlein, die Jugend hier, die Alten dort, wie es sich eben trifft. Wenn alles ruhig geworden, tritt der Priester — gewöhnlich ist ein Ehrenprediger dazu eingeladen worden — auf die kleine Felsenterrasse zur Seite des Kirchleins, um in würdigen Worten das Leben und gute Beispiel des Heiligen den Andächtigen ans Herz zu legen. Dann beginnt unter freiem Himmel das feierliche Amt, wozu das Nötigste kümmerlich hergerichtet worden. Der Kirchenchor von Vättis singt eine lateinische Messe, natürlich ohne alle Begleitung. Es ist etwas Eigentümliches, und zumal den Fremden mag es gar seltsam anmuten, inmitten dieser hehren Alpenwelt, vom frischen Hauche der Firnen berührt, ein „Kyrie eleison” und „Gloria in excelsis Deo” singen zu hören. Die Felswände und Klüfte hallen es wieder, der rauschende Bach, die zitternden Tannenwipfel summen es mit und das helle Glöcklein ruft es freudig empor zu den weissen Höhen: Ehre sei Gott in der Höhe!
Ist die Feierlichkeit zu Ende und haben sich die Pilger auf dem Freien oder im „Pfarrhofe” noch etwas erfrischt, dann ziehen sie wieder von dannen. Der eine oder andere wirft noch einen Blick ins Beinhaus, auf dem Bilde rechts neben der Hütte deutlich erkennbar, wo die bleichen Schädel von der Vergänglichkeit menschlicher Geschlechter und menschlicher Schöpfung erzählen. …
Der Weg nach Calfeisen bietet dem Wanderer immer eine Fülle lieblich-idyllischer und wildromantischer Bilder. Wir sehen stets etwas Neues oder lernen das Alte verstehen, den Kampf zwischen Leben und Tod, zwischen Werden und Vergehen im Drama der Natur. Der Tag neigte sich dem Abend zu, als ich die St. Martinskapelle droben auf dem Felsen grüsste. Auf den Wiesen nebenan war man eben am „Heuen”. Draussen im Thale aber begann der Calanda sich langsam zu färben. Das helle Gelb nahm immer tiefere Nuancen an, bis zuletzt ein funkelndes Rot den Riesenbau belebte. Auf der Alp Ebne klang mir heimeliges Herdengeläute entgegen. Frei wie der Vogel in der Luft tummelten sich die Kühe im saftigen Grase, das den herrlichen Schuttkegel des Tristelbaches bekleidet. Die Dämmerung mahnt mich zur Eile. Wieder höre ich Geläute; ein einfacher Steg bringt mich auf die andere Seite der Tamina und ich stehe vor der Hütte von Sardona. Ein fröhlicher Jauchzer erschallt, und alsbald öffnen sich die Pforten zum frohen Willkomm und zu einem währschaften Trunk würziger Milch. Nach freundschaftlichem Geplauder mit den Hirten geht’s ins Heu, das nebenan im Scherm liegt. Wie das wohlthut! Noch lange schwirren die Pläne für das Kommende in meinem Kopfe herum und zogen die Hexen- und andere Sagen von Sardona am Geiste vorüber.
Mitten im Walde, sagt man allgemein, auf dem schönsten Platz der ganzen Alp, da wächst das feinste, üppigste Gras ringsum. Aber weder Rinder noch Schafe, weder Ziegen noch Pferde haben jemals während der Nacht oder am Tage sich dort gelagert. Hier haben die Hexen und bösen Geister des Nachts ihre Zusammenkunft und schmieden Pläne gegen die Guten.
An einem späten Herbstabend kehrte ein Jäger in die Hütte ein, und legte sich nach dem Essen zur Ruhe. Gleich darauf hörte er einen wunderschönen Gesang vor der Hütte, der sich wiederholte. Er horchte erstaunt zu. Des andern Tages war die Alp und das ganze Thal mit tiefem Schnee bedeckt.
Ein anderer hörte drei Mal seinen Namen rufen und trat vor die Hütte; er hörte den Ruf wieder aus weiterer Entfernung. Er ging dem Rufe nach und kam auf den ebenen Boden des „Hexenbühels“; heller Lichterglanz leuchtete in die Nacht hinaus, bei wunderschöner Musik schwangen sich auf dem Rasen wilde Gestalten in tollem Tanze, und an einem langen, reichbesetzten Tische sieht er eine Reihe schwarzgekleideter Gestalten mit bleichen Gesichtern sitzen, die ihn wiederholt zum Essen einladen. Vor dem Essen, denkt er, muss man beten; und er thut es auch. Dann will er sich an die Tafel setzen und sagt zu den Nächsten: Gott g’segn’ es. Da starren ihn die bleichen Gesichter an und verschwunden ist das unheimliche Geistermahl. Durch die finstere Nacht kehrt der Jäger wieder zur Hütte zurück.
Wo heute der Gletscher liegt, da blühte früher die schönste Alp des ganzen Thales; von der hohen Terrasse schaute sie freundlich über das Land. Sie gehörte dem Hirten Segnes, der sie vom sterbenden Vater unter der Bedingung geschenkt erhielt, dass er für seine Mutter Sorge trage. Sein Haus stand unten im Thale. Auf dem Rathausboden wohnte seine Geliebte Sardona, ein schönes, reiches und feuriges Mädchen, dem die Alp Chrazeri droben am Muttenthalergrat gehörte. Aber Reichtum und Schönheit machten sie hoftärtig über alle Massen. Das sah die alte Mutter des Hirten nicht gerne und bot daher alles auf, um das Verhältnis der beiden zu lösen. Vergeblich! Die schwarzen Augen auf dem Rathausboden waren mächtiger als sie. Oft stieg Segnes in dunkler Nacht dort hinauf und heckte mit seiner Geliebten Pläne aus, wie sie die alte Mutter am besten aus dem Wege schaffen könnten.
Als der Frühling ins Land zog, da stieg Segnes mit seinem Vieh zur Alp hinauf. Die Mutter kann ihm nicht folgen, denn sie ist alt und krank. Aber die Lebensmittel, die sie noch hat, sind bald aufgezehrt; andere Leute, die sich ihrer annehmen, hat sie nicht, und ihr Sohn bleibt den ganzen Sommer auf der Alp. Wie soll sie weiter leben? Von bitterm Weh erfüllt, entschliesst sie sich, womöglich auf die Alp zu steigen und von ihrem Sohne Hilfe und Fürsorge zu verlangen. Langsam, dem Tode nahe, schleppt sie sich den Berg empor. Aber zwei feurige Augen haben sie erspäht, und unbemerkt, auf verborgenen Pfaden, schleicht Sardona ihr nach. Sie kommt zur Hütte und bittet den Sohn um ein Stückchen Brot, damit sie noch leben könne. Sie droht ihm mit der Strafe Gottes für die ruchlose Behandlung. Vergebens! Höhnend holt der Sohn vom Scherm herauf einen Napf voll Jauche und stellt dieselbe der Mutter vor. Da klagt sie nicht mehr; den tödlichen Schmerz in ihrer Brust, kehrt sie um und will wieder zu Thal, um dort zu sterben. Eben kommt das hoffärtige Mädchen vom Rathausboden stolz dahergeschritten und geht verächtlich an der bleichen Mutter vorüber. Segnes sieht die Geliebte kommen und holt eilig einige Laibe Käse aus dem Keller und legt sie in den Kot vor der Hütte, damit die Geliebte ihre Füße nicht beschmutze; und voll teuflischer Bosheit ruft er noch der Mutter nach: „Aha, das ist nun ein anderer Besuch, als du !” Da kehrt sich die Mutter um und ruft in furchtbarem Ernste: „Nun so bleibet immer und ewig bei einander!“ Die Mutter hat’s gesprochen, der Himmel hat’s gehört.
Da fängt es an zu regnen und regnet den ganzen Tag, am Abend schneit es und schneit die ganze Nacht hindurch. Am andern Morgen sah man weder Hütte noch Herde wieder; ein gewaltiger Gletscher hatte alles Lebende bedeckt und bedeckt es heute noch. Alljährlich am Tage des Frevels, da reisst der Gletscher eine Spalte auf und die Gebannten steigen herab an den Rand des Gletschers und rufen flehentlich die Mutter, damit sie den Schwur zurücknehme. Sie horchen und horchen in die Winde hinaus, ob sie nicht die erlösende Stimme hören. Vergeblich; immer wieder müssen sie zurückkehren in das kalte Verliess und immer wieder schliessen sich die eisigen Pforten. Mitunter schaut der Sauren so düster ins Land und schüttelt seine Schneelocken; Lawinen stürzen ihm über die Stirne und donnern zum Gletscher hinab. Er ist unwillig darüber, dass er immer noch den Fluch tragen soll. Noch heute birgt der Gletscher sein Geheimnis; in dunkler Wetternacht hört man die Klagerufe der Gebannten; der fremde Wanderer hält sie für das Pfeifen des Windes in Tannen und Felsen; aber der Kundige weiss die Rufe zu deuten und gedenkt schaudernd der Schuld, die solche Strafe gefordert. Wie lange ich an Segnes und Sardona dachte, weiss ich nicht. …
Über den Taminsergletscher stieg ich wieder zu Thale. Einen Monat später zogen aus dem Calfeisenthale auch die Herden heimwärts. Die Rinder trugen Kränze und Melkstühle auf dem Kopfe und schüttelten erfreut die seltene Bürde. Die Küher und Sennen hatten saubere Hirtenhemden angezogen, den Melkeimer über der Schulter und den Hut mit Blumen geschmückt. Lustig erklangen die hellen Glocken und die frohen Jauchzer der Hirten:
„Ihr Matten lebt wohl, ihr sonnigen Weiden!
Der Senne muss scheiden, der Sommer ist hin.
Wir fahren zu Berge, wir kommen wieder,
Wann der Kukuk ruft, wann erwachen die Lieder. “
(Quelle: Friedrich Wilhelm Sprecher: Aus den Bergen des Taminathales. SAC Jahrbuch XXXI 1895/1896)

Das Glöcklein zu St. Martin im Kalfeisental läutet nur noch wenigen Menschen zum Grab. Wenn aber einer dort stirbt, klagt es umso mehr, dass man es klingen hört fast bis nach Vättis hinunter und hinauf zu den Alpställen von Sardona. So mag es früher schon getrauert haben, um die, deren bleiches Totengebein in einer Gruft neben dem Kirchlein liegt. Da ruhen sie seit uralten Tagen. Um den stillen Ort wächst im Sommer etwas Gras, blühen Männertreu und Alpenvergissmeinnicht. …
Die Grauen Hörner, die Ringelspitze, hinten der mächtige Saurenstock mit dem Sardonagletscher, sind die Wächter des Tales. Sie allein sahen das Volk kommen und gehen, sie könnten Sicheres erzählen. Aber sie schweigen.
Hoch oben bei der Sardonahütte liest man auf einem bemoosten Stein noch die Jahrzahl 1636. Wer sie damals eingeritzt hat, kann niemand sagen, aber wahrscheinlich wars ein Walser, bevor er seine Heimat verliess. Denn so still und leer das Kalfeisental heute ist — es hat seine Geschichte.
„Vor alten grauen Zeiten stand der Tütsche mit dem Welschen ennet dem Gebirge im Krieg. Der alte Kaiser Rotbart selber war mit grossem Kriegsvolk aufgebrochen, über die Alpen nach Lomparten gezogen und hatte den Feind dort geschlagen. Auf dem Heimweg liess er in den Alpen Wachposten zurück, um Land und Volk vor Ueberfällen zu beschützen. Da starb der Kaiser. Es trauerte das Reich. Niemand gedachte mehr der Wehr, die fern der Heimat in den stillen Alpentälern wachte. Die Wächter aber blieben in den Bergen, legten ihre Waffen nieder und zogen das Hirtenhemd an, um da als Aelpler zu hausen und zu hofen. Es sind unsere Vorfahren gewesen.” So erzählten die alten Walserväter in Sardona hinten beim Herdfeuer ihren Kindern, und die glaubten es: denn sie konnten das uralte Gewaffen ihrer Ahnen an der Wand hängen sehen. …
Im Urbar, dem Grundbuch der Grafschaft Sargans, liest man unter der Jahrzahl 1398 zum erstenmal die Bezeichnung Walser, Walseler, Walleser. Die Urkunden berichten von herkommenen lütten, frömbden, herkommenen lütten, die da fry oder Walser sind. Ihre Sässe seien zahlreich im Tal Galfeyssen: man finde aber auch solche ze Wißtann und Schwendi, im Fölteserberg und auf Matung, am Gonzen. …
Welche Freude, als sie [die ausgewanderten Walser] endlich nach mühseligem Aufstieg die Kunkelspasshöhe erreicht, und jenseits des Berges herrliche Alptriften ausgebreitet fanden, schattigen Wald und frisches Wasser. Wie sie aber im Tale zu einer Hütte kamen, vernahmen sie von einem Hirten, dass sie in Vättis seien und auf den Jagdgründen des Gotteshauses zu Pfäfers. Ein Jäger deutete den Fremdlingen nach Westen, aufwärts in ein enges Hochtal, wo noch kein Bein darin wohne und auch Wald, reiche Quellen, vielleicht auch Weid zu finden sei. Aber auch Bär, Wolf und Luchs träfe man dort nicht selten. Da musste ein Bote sogleich zum Abt ins Kloster eilen und als er zurückkehrte, wanderte das fahrende Volk wieder weiter und verkroch sich in das einsame, weltverlorene Kalfeisental.
Das Bergtal hat viel Aehnlichkeit mit dem Rhonetal des Oberwallis. Wie dort steigen zu beiden Seiten himmelhohe Gebirgsstöcke empor. Auch im Kalfeisental liegt zuhinterst ein gewaltiger Gletscher, der die Wiege eines Wassers ist. Hundert Wildbächlein, die den Bergen viel Geröll entführen, rinnen von links und rechts der Tamina zu. Je weiter man von Vättis in das Tal hineinkommt, umso näher rücken die ungeheuren Gebirgswände zusammen und fast mit jedem Schritt wird die Welt enger und furchtbarer. Zwei Stunden, und den Fels von St. Martin im Rücken, weitet sich das Tal. Die Felswände fallen zurück, werden mählich zu sanften Berglehnen, auf denen die Walser bei ihrem Einzug undurchdringliches Walddickicht fanden. Doch die schauerliche Wildnis schreckte sie nicht. Schon ihre Kinder kannten ja den Urwald, hatten sich gewöhnt an das heisere Geheul seiner Tiere und an den Schrei des Adlers. Und hier war ja alles so einsam und still. Nur die junge Tamina rauschte tief und geheimnisvoll, kam zwischen den silbergrauen, knorrigen Baumriesen hervor wie eine Waldjungfrau.
Da brach auf einmal die Sonne durch das bartige uralte Astwerk der Tannen und Arven, der Wald öffnete sich und ein frischer Grasplatz mit Ziprian, Königskerzen und Blaggenkraut lag im vollen Lichte und hatte etwas Urewiges an sich.
Heimat! Eine solche hatten sie gesucht. Auf sonniger Alp sind sie geboren worden, auf freier Alpe möchten sie leben, um, wenn es Zeit ist, zu scheiden und weiter zu wandern in anderes Land.
Kalfeissen hiess das Bergtal. Einfach und gross, abgekehrt und fernab von der geschäftigen Welt, war es seit Schöpfungstagen hier unberührt an Regen und Sonne gelegen. Die Menschen wohnten lieber drunten an den Bergsäumen, die mählich in die Rheinebene übergehen: denn es ist ein gesegneter Landstreifen dort, sonnig und warm, wo die Traube honigsüss wird und selbst Edelkastanien reifen. Im Kalfeisental aber wuchs nur Holz und Gras. Dafür kam der plumpe Bär und ging hungrig der Wolf, der Eber rannte grunzend vorüber und auf dem Baume sass lauernd der Luchs. Kein Klosterknecht noch Jägersmann aber hätte sich je ans Weidwerk in diese Gründe gewagt. So blieben sie völlig brach und ertragslos. Es mag darum den Herrschaften willkommen gewesen sein, als plötzlich fremde Leute in ihr Land einwanderten, und in die entlegensten Wildnisse Einlass begehrten. Freudig schrieben sie diese Kunde nieder, und so liest man heute noch in ihren Urbarien von frömbden, herkommenen lütten, die da fry oder Walser sind. Ihre Sässe seien zahlreich im tal Galfeyssen. Man finde auch solche ze Wißtann und Schwendi, am Fölteserberg und auf der Matte zwischen Schollberg und Gonzen.
Freie nannten sie sich, mit Recht. Sie waren es gewesen seit unvordenklichen Zeiten, sie wollten es auch bleiben solange Fels und Grat stehn auf ihrem Grunde. Keiner hat bisher jemals um Herrengunst gebuhlt, keiner soll es tun, sonst möge der Schutzpatron St. Theodul aus den Wolken fahren, den Berg über ihm zusammenbrechen und den Elenden begraben. Wohl versprechen sie, wie ihre Väter in Rätien, dem Grundbesitzer für die empfangenen Erblehensgüter zu zinsen, von den alljährlichen Erträgen einen redlichen, durch alle Zeiten hindurch stets gleich gross bleibenden Teil abzugeben. Sie sind aber nicht Leibeigene, Sklaven und Knechte wie die Umwohner, sondern freie Erbpächter, und können frei walten und schalten auf ihren Sässen und Hofstätten. So leistet denn jede der Familien: Cüeni Tontli, Willi abem Berg, Peter Arnolz, Jäcli von Sardon, Pantlion, Niclaus, Peter, Johanns und Johanns der Wittwen Söhne von Kalueys, die anno 1346 die Alp Sardona als ewiges Erblehen erhalten, an den Käszins ihren Teil gutes und gäbes Molken, dazu einen oder zwen Hafen ze Wisat. Die Walseler uß Schwendi und ze Wißtann gend ein Pfund Geleitgeld für Schutz und Schirm und ein Pfund für ein Rindfleisch. Die Walser abem Fölteserberg acht Schilling zu Geleit, die Walleser ab Matug jährlich zwei Pfund acht Schilling Haller, ein Rind, das dreissig Schilling wert ist und 48 Mass Schmalz von Zinsgütern. Von allen Bogtrechten und Stüren sind sie frei und ledig. Man kann bei ihnen nicht nachfragen um Frondienst, Zehnten, Fällen, Gelässen, um Fastnachtshennen, Ostereier und andere Abgaben. Einzig der Walser des Gutes zu Fusuns, dem heutigen Vasön, soll dem Abt von Pfäfers im Herbst ein Fuder Wyn von Ragaz oder von der Ebni, weders er will, uf die Festi Wartenstein führen. — Pantli und Marti Nufer und Kunraden Nufer, sin Bruodersun, verpflichten sich ferner, für ihr empfangenes Lehen dem Abt und sim Gotteshus Waffendienst zu leisten und getrülich zu dienen mit ihrem Lyb, mit Schild und Spiess in Krieg und Reisen nach Walliserrecht, das heißt auf Kosten des Herrn, von der Stund an, als sie ausgant von ihren Hüsern, bis dass sie wieder heimkomment. Auch Michel im Gigerwald, der zwei Güter erhalten, übernimmt auf sich und seine erblichen Nachkommen die Pflicht, dem Abt alle Jahre 15 Biner Schmalz zu geben und ihm in Kriegszeiten als Söldner und Reisläufer zu dienen mit Schild und mit Spiess nach Walliserrecht. Den Spruch vom Waffendienst hat ein Chronist niedergeschrieben, er lautet im Sarganserurbar: Item was herkommen lütt, die da fry oder Walser sind, sich in die Grafschaft Sargans ziehend und setzend, die lütt sollen minen Herren dienen mit Schild und mit Speer.
Die Walser wählten aus ihrem Volke heraus einen Talammann, der als Gemeindevater die walserischen Angelegenheiten zu leiten und zu besorgen hatte. Es wird erzählt, dass er solange im Amte verbleiben durfte, als eine abgeastete Tanne in der Nähe seiner Hütte nicht morsch wurde. Das war uraltes, unumstrittenes Recht. Noch heute heisst ein Platz im Kalfeisental Ammannsboden und ein anderer Rathausboden, wo früher das Rathaus gestanden haben soll. Jetzt aber wohnt dort keine Seele mehr.
Obwohl die Walserleute ihren eigenen Talammann besassen, hatten sie kein eigenes, selbständiges Gericht. Die niedere und die hohe Gerichtsbarkeit lag in den Händen weltlicher Landesherren, und so gehörten alle Bußen für Twing und Bann, Dieb und Frevel aus dem Kalfeisental aufs Schloss Freudenberg. Aber zu richten und schlichten gab es nicht viel, denn die Walser sind geschlachte, gutmütige, friedsame Leute, — Aber einmal muss doch ein Senn sich vergangen haben. Vom Richter aufs Schloss geladen, erschien er nicht. Da hat der Vogt seine Knechte geschickt, den Strafbaren zu holen. Als sie an seiner Hütte anklopften, stand er schon vor ihnen, ein riesenhafter, gewaltiger Kerl mit einer mächtigen Brente voll Milch, und bat die Fremdlinge, die wohl Durst hätten, daraus zu trinken. Die Knechte wollten gehorchen, aber als der Senn die mächtige Brente, ohne abzustellen, mit gestreckten Armen, ruhig und leicht, als ob es nur eine Rahmkelle wäre, ihnen vorhielt, da sollen sie sich in eiliger Flucht davongemacht haben.
Die Bergleute lassen sich nur selten sehen. Wenn sie aber im Spätherbst kommen, Cüeni Tontli mit seinen sechzehen Käsen, Willi abem Berg mit vierzehen und zwen Hasen, wenn die von Schwendi und Wißtann kommen, erschlagene Wildschweine und Bären mitschleppen, wenn die Matuger ihr Rind bringen und auf schwerbeladenem Räf Weidschmalz ins Schloss Sargans tragen, dann laufen Dörfler und Städtler scharenweise zusammen und beschauen mit Furcht und Schrecken die stämmigen, breitgeschulterten, verbarteten Bergleute, die wandernden Riesen gleichen. Da wird dann manch Kind, das vorher an der Arbeit geweint, auf einmal still, hilft der Mutter wieder fleissig in Küche und Keller, damit es nicht mit dem wilden Walsermann fortgehen müsse. Noch gleichen Tags kehren die Bergler auf ihre Gehöfte zurück. Die liegen wie große Steinblöcke im Hochtalgrund zwischen rauschendem Wald, freien und ausgehauenen Matten hingestreut. Es sind einfache, breite, wind- und wetterfeste Hütten, die mehr Alpställen als Gehöften gleichsehen, gezimmert aus rohentrindeten, aufeinandergetröhlten Baumstämmen. Zentnerschweres Gestein belastet das Dach und hält das Schindelwerk, wenn der Föhn plötzlich über Gräte und Kämme hereinbricht und durch Kalfeisen rast. Ein schmaler Gang führt längs in die Hütte hinein. Eine Seitentüre öffnet den niedern, grossen Viehstall, eine andere weiter hinten den Schopf, wo Waldsägen, Aexte, Sensen, Heuseile und Holzrechen aufbewahrt liegen. Zuhinterst gelangen wir in einen weiten, hohen Einraum, der die Hälfte der Hütte einnimmt. Nur spärliches Sonnenlicht dringt von aussen durch die Butzenscheiblein herein. Ein Holzfeuer, das in der Ecke brennt, hilft mit, den düstern Raum etwas mehr zu erhellen, der Küche, Stube und Kammer zugleich einschliesst. Das dürre Holz knistert, Flammenzungen schlagen weit aus über den grossen Kessirand und belecken die schwarzen Tragketten. Daneben steht auf einem Glutherde ein eiserner Dreifuss mit grosser, weitrandiger Bratpfanne. Ein Weib liegt auf der Steinplatte, bläst an und schaut in die Glutflämmlein, bis sie sich endlich aufrichtet und mit der Holzkelle in die Pfanne fährt und einen Fenz kehrt, der im Schmalze drin zittert. Der Rauch des Herdfeuers schwärzt die Wildschweinschinken, die im Rauchfang hängen. An der Wand steht wie ein böses Gespenst ein uralter Walliser Handwebstuhl. Die Kunkel eines Spinnrades wird sichtbar. In der andern Seitenwand, gegen den Stall hin, ist in Manneshöhe das mächtige Schlaflager eingelassen, wo Schlafsäcke mit Streu oder klipperdürrem Laub gefüllt liegen. Beim Zubettegehen muss es von den Kindern an Sprossen erklettert werden. Neben der Lagerstätte rohes und rauchgeschwärztes Balkenwerk, verziert mit Gehörn von Rehen, Gemsen und Steinböcken, mit Knochenschädeln erschlagener Bären und Wölfe. Spiess und Schild aus alten Zeiten hangen kreuzweis an der Sul, das Alphorn dahinter, wie es der Hirte braucht auf Bergen. Auf Steinplatten steht breitbeinig der schwere Holztisch, nur ein langer, in der Mitte wagrecht gespaltener Arvenstamm, um den Dreibeine als Höcker dienen. Ein Talglicht wird von der Mutter mit einem glimmenden Holzspan angezündet und brennt in langen, dunkeln Wintertagen, wenn sie plaudernd um das Herdfeuer herumhocken, am Tische sitzen, im Heulager liegen. Draussen aber fallen die Schneeflocken, hohl heult der Wind, Stürme rasen und Wildtiere klagen. Das Dämmerzwielicht über dem Tischbaum flackert, kämpft sterbensmüde, rafft sich hoch auf, fällt und erlischt. Die Kinder halten die Händlein ans Herdfeuer und schwatzen vom schönen Frühling und von der grossen Sonne, die im Sommer am Piz Sol aufsteige und immer so warm mache. Dazwischen schnurrte und murrte emsig das Spinnrad. Der Gomser Handwebstuhl aber klapperte, und lärmte. Dazu erklang ein uralt Lied von Freiheit durch den Raum; denn da fühlten sich die Herzen eins und unabhängig von der kalten, krämerischen Welt, deren Lärm nicht bis hieher drang und deren Freuden sie nicht ersehnten.
Der Frühling zog in das Bergtal ein, liess den Föhn hoch oben an scharfen Gräten und Felskanten sein schauerliches Lied anstimmen und erfüllte damit das ganze Tal. Das Schneehuhn gackert, der Steinbock schlendert träge am Felshang hin und her. Unten im Walde flötet unablässig die Ringamsel und stimmt mit ein in das Hohelied der Schöpfung. Die Kräutlein und Gräslein gucken erst vorsichtig aus dem apern Lehmboden hervor, ob der Winter auch wirklich im Schwinden sei. Dann aber schiessen sie heraus, Kraut, Blume und Halm zugleich, wachsen um die Wette hart hinter dem schmelzenden Schnee die Schräghalden hinauf, so eilig, als ob sie wüssten, dass in den Bergen der Sommer nur kurz ist. Und überall, allüberall ein Wachsen, Grünen und Blühen und wenn das Gras hoch steht und auch der Zyprian zu blühen beginnt, öffnen sich die Viehställe und auf den Weiden grast das Walliser-Rind. In den Hütten ächzen und rumpeln gewaltige Ankenkübel; unter dem Kessel flackert das Feuer, bis ein Senn kommt, seinen Ellbogen leicht in die lauwarme Milch eintaucht und dann zufrieden das schwere Kessi vom Herde wegzieht. Heuer kann Cüeni Tontli wieder käsen und schmalzen, dass es eine Lust und Freude ist. Er hat den grössten Milchsegen weit und breit im Tal, und das macht’s, weil er von seinem Urgrossvater vom Wallis her noch einen geheimen Zauberspruch weiss, der Macht und Gewalt hat über allerlei viehschädliches, heimtückisches Spukgesindel: Wohla Wicht, dass du weisst, dass du Wicht heissest, da du ne weisst noch ne kannst cheden: Chuospunni! — Es heisst, Cüeni Tontli und Nufer wollten auf den Herbst wieder mit einer Habe Zeitkühe aus dem Kalfeisental fort und über die Alpen ziehen, um sie auf den Märkten zu Cläven (Chiavenna) oder
Luggarus (Locarno) zu verhandeln.
Am Abend, wenn die Sonne hinter dem Sardonagletscher verschwunden ist, ihre letzten Strahlen nur noch blassrötlich durch die Ränder der Eiswände glühen, wenn die Nacht müde aus der Tiefe des Tales über Weid und Matte in die Höhe emporsteigt, dann kommt der Senn andächtig nochmals aus seiner Hütte. Er hält den Alpstock in der Hand, als ob er das Vieh noch zusammentreiben wollte, das überall zerstreut unter Schutz- und Wettertannen sich zur Ruhe legt. Er steigt auf die Anhöhe, wo das Arvenkreuz steht, überschaut nocheinmal lange sein Heimattal, richtet den Blick aufwärts zu den Sternen, und ruft in die Einsamkeit hinaus diesen Alpsegen:
Ave Maria! Ave Maria! Ave Maria!
B’hüet Gott und üser lieb Herr Jesus Christ
Lyber, Hab und Guet und alls, was hie uma ischt!
B’hüet üs Gott und der lieb heilig St. Jöri,
Der wohl hie ufwachi und höri!
B’hüet üs Gott und der lieb heilig St. Marti,
Der wohl hie ufwachi und warti!
B’hüet üs Gott und der heilig St. Gall,
Mit sinen Gottsheiligen all!
B’hüet üs Gott und der lieb heilig St. Peter,
St. Peter, nimmt den Schlüssel wohl in dyni rechti Hand
B’schlüss wohl da wilda Tiera ihra Gang
Dem Wolf da Racha, dem Büro, da Tatza,
Dem Rappa da Schnabel, dem Stei da Sprung,
B’hüet üs Gott vor einer bösa Stund!
B’hüet Gott alls hie in üserm Tal,
Allhin und allüberall!
Ave Maria! Ave Maria! Ave Maria!
Die letzten paar Worte nimmt der Urwald auf und gibt sie flüsternd als Echo wieder. Hoch über den eisigen Firnen des Gletschers leuchtet der Abendstern. Die ganze Alpenwelt schweigt. Nur von weither hört man ein Glöcklein den müden Tag ausläuten: das Betglöcklein des Kirchleins zu St. Martin.
An grossen, sonnigen Bergwelttagen, wenn die Luft flimmert und zittert über dem Tale, die Hitze das Vieh am Morgen schon zeitig wieder in die Ställe treibt, das muntre Geläute für etliche Stunden verstummt, hört man die Aexte der Roder und Reuter unaufhörlich im Waldschlag droben werken und arbeiten, von Zeit zu Zeit das fürchterliche Krachen fallender Baumriesen. Dann öffnet sich da und dort eine Hütte und starke, hochstämmige Knechte kommen heraus, mit Beilen und Reuthacken beladen, schreiten langsam und schwer die steilen Krummweglein hinauf, zu den Brüdern im Wald. Dort liegen Arven und Tannen erschlagen beisammen. Wie tote Riesen ruhen die Ergrauten sanft auf dem weichen, feuchten Waldboden und strecken ihre Aeste wie warnende Finger zum Himmel. Die Walser aber haben genug mit weitverschlungenen Wurzeln zu tun. Sie achten das nicht. — Urbar und Urkunde berichten, die Lütt hätten den Wald geschwemmt oder geschwendet, das heisst ausgerodet und schwinden gemacht mit Feuer und Axt.
Im August weiden die Herden schon fast zuoberst auf den Bergen. Im Vorder- und Hinter-Sardona ist es still und leer und auch im Gigerwald. Kein Vogel mag mehr singen in der Sonnenhitze, kein Tier mehr schleichen um die Hütten. Einzig die junge Tamina zeigt Leben und murmelt unablässig verklungene Weisen heimlich in der Tiefe. Der Abend wird frisch. Es grasen und läuten die Heimschkühe auf der Allmende. Ein alter Walsermann ist Hüter und macht die Runde, den Wehrspiess für alle Fälle in der Hand. Fröhliche Jauchzer frohlocken von der Höhe und langsam steigt es herab, das Heuervolk, und verschwindet in den Hütten. Wildheuträger folgen nach, fast versteckt unter gewaltigen Emdburdenen. Sie kommen nocheinmal heraus aus den Heuschobern und schauen nach dem Wetter, sind zufrieden und jauchzen einander zu von einer Talseite zur andern. Auch die Waldmänner im Rüteli, die immer noch schwemmen und brennen bis tief in die Nacht hinein, jauchzen und antworten, und ihre schallenden Jauchzer nimmt der Urwald auf, gibt sie hundertfach wieder und erfüllt das glückliche Tal.
Die Alpenrosen verdorren, die Wißenzen werden gelb, trüb und lahm die letzten Grasbüschel. Die Füchse fangen an zu bellen. Die Gamstiere steigen in Rudeln zu den Ställen herab. Der Winter bricht herein. Tuchfetzengross fallen die Schneeflocken und setzen sich müde auf die silbergrauen, dürren Schindeldächer nieder. Von den Wänden des Gletschers herab fegt ein Schneesturm, fährt heulend über die gerodeten Waldflächen hinweg, nach St. Martin. Dort pfeift der Gletscherwind und rüttelt am Schindeldache der Kapelle. Wild schlägt er auf das Gebälk des Türmchens ein, dringt durch die Luken in den Glockenstuhl und zerrt am Seil. Schneeflocken rasen wahnsinnig gegeneinander, schreien und heulen, bis ein gellender Pfiff sie zerreisst, und es zu schneien beginnt.
In den Bergen drinnen eilen die Stunden. Ein Jahr um das andere vergeht und kehrt nicht wieder. Jahrzehnte gehen dahin, sammeln sich zu Jahrhunderten und die rauschen gewaltig davon. Weisse Pergamentpapiere, worauf Klostermönche zu Pfäfers in zierlicher Handschrift Zeitereignisse niedergeschrieben, werden zu altersgrauen, unleserlichen Urkunden. Neue Zeiten brechen gewaltig sich Bahn. — Wo einst Schirm- und Schutztannen standen, der Wald wie ein warmer, dunkler Wintermantel am Berge lag, ist alles kahl und leer. Nur rauhe Winde streifen überall umher, treiben mit toten Wurzeln und sterbenden Baumstrünken tolle Spiele, orgeln schauerlich in den Lüften. Sturm und Regen arbeiten droben in Steinbrüchen, rüsten fleissig Platten und Felsblöcke, lassen von Zeit zu Zeit ein Stück los und talwärts fahren. Dann fausten die Knechte und fluchen, dass Gott erbarm, reden von Fortlaufen aus dem verwilderten Tal, fort auf die Kriegsreis, wo keiner mehr betteln und hungern muss, wo Spiess und Halmbart das Geld haufenweis herausschlagen.
Heimliche Sorge und Wehklage geht um, denn alles weiss, dass die guten Jahre längst vorbei sind im Tal und nun die bösen folgen.
Es trummat, es trummat
dur ganz Kalfeysa-n-i,
Wyb und Chinder chlagen,
es söt nit sy,
O Mueter, liebi Mueter!
I halt es numma-n-us,
das Trumma und das Pfyfa
das macht mi ganz confus!
Es trummat zu da Wofa,
es cha nit andersch sy.
Gott bhüet mi Wyb und Gofa —
Muess fort, zum Schwob, an Rhy!
In den Schweizerstädten wirbeln die Trommeln, Kriegsdrommeten schmettern, Kriegsartikel werden verlesen. An den Rathäusern flattern die Fahnen, alte Banner werden hervorgeholt, Proviant- und Reisewagen rollen aus den Gewölben der Zeughäuser. Im Sturmschritt, das Gewaffen in den harten Fäusten, von der Menge umjubelt und von Müttern beweint, verlassen die Heerhaufen die Orte und reisen fort, zum Schwab an den Rhein. Wie ein Ungewitter waren sie mit den Eidgenossen plötzlich über den Rheinstrom ins Feindesland eingefallen und rückten unter gewaltigen Stichen und Streichen vorwärts.
Da liessen die bedrängten Landesherren vor dem Arlberg einen Sturm rückwärts ergehen in der Not, und im Walsertal und Montafun begannen die Glocken den Krieg einzuläuten. In den Bergen droben horchten sie auf. Blonde Köpfe erschienen verwundert an den Fenstern, blaue Augen schauten fragend zu Tal. Ein Eilbote kam gelaufen und schrie um Hilfe, da der eidgenössische Kriegshund eingefallen sei ins Land und die Zähne an der Schanze zu Frastanz wetzen wolle. Da holten auch diese Walser ihre Waffen herab von den Wänden, denn so hatten sie es einst ihren Landesherren versprochen, nahmen Abschied von Weib und Kind, Hof und Vieh, und eilten zur Schlacht.
Auf den Höhen bei Frastanz wurde riesenhaft gerungen; denn als der Streit begonnen, sollen einsmals auf beiden Seiten mächtige Aelpler in der Hitze des Kampfes ihre Spiesse verworfen, junge Tannen entwurzelt, und im Kreise schwingend, einander wie Alpenkraut niedergemäht haben. So fochten Walser, Nufer gegen Nufer, Tontli gegen Tontli und Thöni gegen Thöni: die Giger erschlugen Giger, die Zumpen erstachen Zumpen und Arnolzen verfolgten Arnolzen. Allerorts floss Bruderblut. — Am vierten Tage, da die Toten alle begraben waren, sich aber noch kein Rächer zeigen wollte, um die Schweizer aus dem Felde zu schlagen, brachen sie die Letzi, schlissen das Lager, schmierten die Achsen der Kriegswagen und zogen unter Trummen und Pfyfen mit grossen Ehren und beutebeladen fröhlich über den Rhein in ihre Heimat zurück.
Ins Kalfeisental sollte der Frühling kommen. Er kam nicht. Von neuem fing es an zu schneien, als ob vorher noch nie eine Flocke gefallen wäre. Vom Sardonagletscher herab fegte ein eiskalter Gletscherwind, raste über Stock und Stein hinaus nach St. Martin. Der Bär stand wieder hungrig im Schnee hinter der Hütte, während die Wölfe in Rudeln von Sässen zu Sässen zogen. Doch die in der Hütte wussten es nicht. Die Knechte lagen im Stalle beim Vieh und ruhten noch von ihrer tollen Schwabenreise aus, während die andern auf leeren Brenten um das Herdfeuer herum hockten, wohl zwanzig, dreissig Köpfe und Köpflein beisammen und sich an der Flamme erwärmten. Kein frohes Lied ertönte, kein Webstuhl lärmte, kein Spinnrad surrte, nur aus dem Stalle vernahm man das Schreien der Ziegen und das hungrige Bröhlen der Kühe und Kälber. Ein Gerede ging um, dass man, wenn der Sturm nachlasse, noch in die Gschwend hinauf gehen wolle, um für das Vieh dort grüne Rinde und Tannenäste zu holen. Wie Hohn klang es, als die Knechte erzählten, dass sie im Rheintal schon blühende Bäume gesehen hätten und in Ragaz das Gras kniehoch stünde.
„Dann hat der alte Saphoyer also doch recht gehabt, als er dem Ammann vor zehn Jahren erklärte, es wäre das beste, wenn man das Rathaus und die Hütten abbräche, die Alpen verkaufte und fortzöge: denn es werde doch kälter und leider von Jahr zu Jahr im Kalfeisental.“
Was der hundertjährige Saphoyer auf seinem Sterbebette gesprochen, ist geschehen. Wohl fing es noch einmal an zu lenzen und blühen im Talgrunde, als wollten vergangene Tage wiederkehren. Aber plötzlich brach es los und über den Trinsersattel herein kam’s schwarz wie die Nacht. Unheimliches Wolkengesindel, vom Föhn in die Enge getrieben, lauerte wie ein gefrässiges Tier hart über dem Tale. Das Vieh in den Ställen wurde unruhig, hob hustend die Köpfe und zerrte an den Ketten. Alpbutze und Hunde schlichen überall umher, frassen Gras und sprangen auf den Matten. Die Füchse erwachten und reisten bellend mit der ganzen Verwandtschaft aus, die Munken pfiffen und verschwanden in ihre Löcher. In schwülen Lüften schwärmten lärmend die Dohlen und flogen im Kreis um die Hütten. Dort aber brach in den Brenten die Milch und wurde sauer. In dürren Balken und Wänden hörte man schauerlich die Doggi hämmern, wie sie Sargnägel ins Holz eintrieben. — Ein Alpknecht kam totenbleich aus dem Obersäss hergelaufen und erzählte, dass der Sardonagletscher erwache und sich vorwärts bewege, dass die Tamina droben heftig brause und brodle, der Wassermann sich zeige und seinen schwarzen Leib wälze, die Fluten hoch aufspritzten. — Auch im Rüteli sei es nicht richtig, erklärten die Holzer: denn es liege dort im Kuhstall ein Melchstuhl, der ganz allein springe und tanze. Am tollsten aber gehe es im Waldschlag zu und her, wo die Hexen allüberall auf den Tannästen sässen, in grünen Röcken und gelben Schlapphüten hin und her schaukelten und einem dürre Tannzapfen an den Kopf würfen. Das alles deute auf Unwetter.
Ein hellflammender Blitzstrahl, dass Schild und Spiesse an der Sul oben zusammenfuhren, die bleichen Knochenschädel grässlich hervorstachen und grinsen mussten, dann ein gewaltiger Donnerschlag — und es kam. Unaufhörlich flotschte und prasselte Regen und Schnee und Hagel durcheinander herab und klapperte aus die dürren Schindeldächer nieder, wie es die Aeltesten im Tale noch nie erlebt hatten. „Diüh — Diühüh!” heulte der Sturm und warf kübelweise die harten Hagelkörner durch die offenen Gucklöcher herein, den Knechten ins narbige Gesicht. Auf den Dächern wälzte er die Steine von den Latten, liess sie über die nassen Schindeln gleiten und riss so wütend an Balken und Rufen, dass sich das ganze Dachwerk wie eine lose Schindel hob und senkte und krachend aus den Fugen fiel. Schriller und ausgelassener schrie der Sturm und sein Ruf glich dem wilden Jauchzen eines Betrunkenen. Neben den Hütten herab rauschten die breiigen Schneewasser, Rinnsale, die sonst trocken lagen, führten Wasser wie Wildbäche und warfen es über Halden und Tobelwände der Tamina entgegen. Die heulte und kämpfte in der Tiefe mit aufrechtstehenden Waldbäumen, trug auf ihrem Rücken zerbrochene Brenten, Melchstühle und Ankenkübel heraus aus dem Tale und stürzte sich wie eine Verzweifelte in den Rhein. In den Bergen rollte der Donner, erschütterte es die Gräte, dass morsche Felsköpfe zu wanken anfingen, plötzlich ausglitten und krachend auf Planken und Wildheuböden schössen und über Wurzeln und Stöcke hinweg, wie Erdschollen auf einen Sarg in die dunkle Tiefe sausten. Hinterher flatterte auf milchweissem Pferd Wodans graufleckiger Mantel, und am Ende des schauerlichen Zuges ritten gellende Hexen auf stürzenden Blöcken ins Tal.
Seither ist es still und immer stiller geworden im Kalfeisental. Einzig vom Weglein her, das der Tamina entlang über St. Martin nach Vättis hinausläuft, konnte man eine Zeitlang noch Schlittenrädige rollen hören. Die Urkunden berichten, dass eine Familie um die andere der rauhen Wildnis den Rücken kehrte und wie nach verlorener Schlacht fortzog.
So geschah es, dass alsbald 300 Alpstösse von Hintersardona durch Kauf an Bauern aus der March, dem Gasterland und Weesen übergingen. Anno 1511 verkaufte Jörg Thöni, der nach Sevelen gezogen, an Hans Metzger zu Buchs seine fünf Kuhweid in Kalfeisen, die Krezeren genannt, und zwei Jahre später weitere 14 ½ Alpstösse, die er und sein Bruder Christian besessen. Als daher im Spätherbst 1515 ein Trupp Walserknechte, die einst als junges Blut ins Welschland gereist und zuletzt noch bei Munz und Meriann (Monza und Marignano) gefochten, nun wieder heimkehren wollten, fanden sie das Tal fast menschenleer. Im Bertschis-, Zumpen- und Banndligenhof standen die Türen und Tore sperrangelweit offen. „Da hat beim Eid der Schwab gehaust”, fluchten die vernarbten Knechte, aber wie sie über Lochers Ebene und dem thürren Büel dahinschritten, die Blöcke und Platten und Erdschlipfe sahen, wussten sie bald, was vorgegangen war. In der Egg hinten fanden sie zwei Greise wie Legföhren am Boden liegen, die sich abmühten, eine Felsplatte wegzuschaffen. Diese Hände mussten erst erlahmen, ihre Augen erblinden, das warme Herz zu einem Brocken Gletschereis werden, ehe sie ruhten. Sie hatten ihre Familien zurückhalten können und halfen den Jungen gerne mit, die verdorbenen Grasplätze von den Steinen zu belesen. Sie hoffen immer noch auf bessere Zeiten. Die Landsknechte jedoch kehrten der Heimat den Rücken, um ihre verschwundenen Sippen aufzusuchen.
In Kalfeisen ist es nicht besser geworden, nie mehr. Der Sardonagletscher streckte seine Zunge zu tief ins Gras und atmete zu kalt im Tal. So sind denn die Greise mit ihren Hoffnungen im Totenbaum hinausgetragen und begraben worden auf dem stillen Friedhöflein zu St. Martin. Ihre Kinder und Kindeskinder folgten nach und sie alle schlafen dort sanft und gut beisammen, schlicht und einfach, wie sie gelebt. Als letzte Walserin soll Katharina Sutter anno 1615 verschieden sein. Auf einem Stein ob der Sardonahütte ist die Jahrzahl 1636 eingeritzt worden. Der letzte Walser des Kalfeisentales ist Johannes Sutter gewesen, der daselbst im Sommer, am 15. Juli 1709, im hohen Alter von 84 Jahren starb. Von fremden Sennen musste er zu seiner letzten Ruhestätte getragen werden.
Auch die Reisläufer haben für ihre alten Tage noch Ruhe und Frieden gefunden. Einige freilich mussten lange wandern und suchen, an mancher Berghütte anklopfen, bis sie den Walserberg und die Alp Palfries gefunden hatten, die von Matug her schon längst mit freien Walsern bevölkert worden war. Doch jetzt lag sie vor ihnen, wie ein einziger gewaltiger Waldwiesgarten an der warmen Sonne, vom Gonzenkamm gegen die mächtige Gauschla hinauf und dem Südfusse des Alviers entlang, zur Strahlrüfe hinüber sich ausbreitend. — Der graue, tausendjährige Urwald, der einst die riesige Alpe bedeckte, war fast verschwunden. Schlegel hatten mit wuchtigen Streichen ihn geschlagen. Zindel zündeten das Holz an, das allerorten im Wege gelegen. So ward der brüllende Urwald zur friedlichen Weide. Die Jahnen besiegten im Bärenbüehl zu Vorderpalfries das letzte Untier. Die Schuhmacher verstanden aus den Häuten erlegter Wildtiere für ihre Brüder neues Schuhwerk zu schneiden, während die aus dem Geschlechte der Wappen ihnen seit unvordenklichen Zeiten schon das beste Walsertuch woben. So waren die Walser eins und eine Familie.
Palfries war Heimat, Hoch über Wolken lag die riesige Alpe da. Wenn unten im Tale schon lange der Abend durch Gassen und Gässlein schlich, der Bauer das Vieh in die Dörfer trieb, schien droben noch lange die Sonne und weideten Kühe und Rinder. Denn dort waren sie näher den Wolken, als ihren mächtigen dunkeln Schatten, die wie Riesen auf der Ebene des Rheintales dahineilten. So hüteten sie ihre Herden in Kraut und Gras, bis die Sonne den Tagbogen vollendet, fern hinter Glarner- und Schwyzerbergen versank, und ein Alphorn weithin zur Sammlung und Heimkehr rief. Dann hatten es Eimer und Brenten wichtig und die Ankenkübel rauschten und drehten sich hastig, als ob sie bemerkt hätten, dass hinten vom Wallensee her ein Rauhwind über Malun nach Palfries heraufstrich und das Gras vorzeitig verwelkte. Bevor aber die Nacht kam, öffneten sich die Türen, Männer, Frauen und Kinder traten aus den niederen Hütten und dankten dem Herrn für den vergangenen Sonnentag:
„Gottvater, du Schöpfer von Himmel und Erd,
schirm unsern Ring, hüt unsre Herd!”
Dann wurde es dunkel und still auf der grossen Alp, nur weit im Süden hinter den grauen Hörnern lebte und glühte ein matter Lichtschein, das Alpglühn des einsamen Sardonagletschers, und spannte eine goldene Strahlenbogenbrücke herüber auf Palfries- Hier aber verhallte in den Steinwänden des Alviers noch das letzte Echo: Bhüet üs Gott und walti Gott!
Die Jahrhunderte sind ein Flug und kehren nicht wieder. Menschen kommen, Menschen gehen. Die Alpenrosen auf Palfries haben verblüht und fangen an zu verdorren. Der Enzian wird gelb, trüb und lahm das Gras. Rauhe Winde jagen heulend über Stock und Stein und verlärmen die Tage. Kein Baum noch Strauch steht ihnen im Weg. — Es sei auf der Alp seit einem Mannsalter um einen Tschopen kälter, behauptete der alte Kammjos steif und fest. Vor altem sei ein Alpstecken, den man im Frühling beim Föhnluft zu Vorderpalfries abends in den Schnee steckte, am andern Morgen auf dem aperen Boden gelegen und im Herbst noch keine Milch in der Brente gefroren. — Böse Winter ziehen von Malun herüber und bringen Armut, Not und Hunger allerorten. Der Grünhütler, der grause Unhold, geistert in Sturmnächten johlend durch die grenzenlose Einsamkeit und pocht Schrecken in die hintersten Hütten. Dort sitzen sie, die letzten Könige der Berge, am verglimmenden Herdfeuer, zerschneiden den Kindern die breiten ledernen Schellenriemen zu Wanderschuhen, während die Sennen klagen, dass man früher auf Palfries einen Stein hätte suchen müssen, um ihn einer Kuh nachzuwerfen und dass der Ziprian, das Milchkraut, so saftig und zahlreich gewachsen sei, dass man die Kühe im Tag dreimal habe melken müssen.
Herdfeuer und Lichter erloschen auf Palfries. Alvier und Gauschla, die beiden Berggreise könnten noch weiter erzählen, wie die letzten freien Walser nach 1798 noch ihre alten Berghäuser abbrachen und mit ihnen zu Tal gefahren sind. Aber sie schweigen. Auch von der alten Rathausglocke erzählen sie nicht, die starke Sennen auf einem Hornschlitten mit sich schleppten. Während der Talfahrt soll ihnen auf der Alp Elabrie das Fahrzeug unter der Last zusammengebrochen sein. Wohin die zersprungene Palfrieserglocke noch geschleppt wurde, weiss niemand zu erzählen. Die Berge haben genug mit sich selber zu tun, dass nicht noch mehr Felsen sich lösen, in die Tiefe donnern und auf den Grashalden am Regen erbleichen.
Erde zu Erde! — Asche zu Asche! — Staub zu Staub! — Einzig die Liebe, die dich, vergessenes Volk, zur Freiheit in Bergeshöhen hinaufzog, bleibet und stehet fest alle Zeit.
(Quelle: Jakob Kuratle: Vergessenes Volk. Schilderungen aus der Walsergeschichte. Appenzeller Kalender Band 210, 1931)

Das Kunkelstal und der Lauf des alten Rheins

Gungelserberg / Gunggels / Kunkels in dem Oberen oder Grauen Pundt / gibt den Pass aus dem Sarganserland in Pündten: diesen Pass habe den 13. Augstm. 1703 höher befunden als Vettis 800 und als Zürich 1720 Schuh.
(Quelle: Helvetiae stoicheiographia. Orographia et Oreographia. Oder Beschreibung der Elementen/Grenzen und Bergen des Schweizerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands. Erster Theil. Johann Jakob Scheuchzer. Zürich 1716)

Der Gungelserberg / worüber ein Strass auf Pfäfers / und die Graffschaft Sargans von Damins führet / ist ein breit / und theils Orthen sehr hoches Gebirg; deme auch die heissesten Sonnen-Straalen die weisse Schneefarb beständig lassen müssen.
(Quelle: Helvetiae stoicheiographia. Orographia et Oreographia. Oder Beschreibung der Elementen/Grenzen und Bergen des Schweizerlands. Der Natur-Histori des Schweitzerlands. Erster Theil. Johann Jakob Scheuchzer. Zürich 1716)

… Reizend ist die Umgebung von Vättis. Das Dörfchen liegt am Fuss einer alten Gletschermoräne in so geschützter Lage, dass hier auf 997 M. noch Obstbau betrieben wird. Weithin breitet sich das grüne Wiesenthal aus und steigt langsam gegen die Höhen von Kunkels, von wo aus ein steiler Pfad durch die zerrissenen Felsenmassen nach Tamins und Reichenau hinabführt. Auf der rechten Seite kehrt der Calanda seine abgebrochenen Schichtenköpfe dem Thale zu und steigt desshalb in zerrissenen senkrechten Wänden auf, über welche die Spitzen kühn und scharf geschnitten herabschauen. Auf der linken Thalseite steigen die Vorderstufen der Ringelspitze und der grauen Hörner in ähnlichen steilen Felsenmassen auf, welche Gletscher tragen, zwischen ihnen wie eingesprengt öffnet sich das Calfeuser Thal.
(Gottfried Theobald: Naturbilder aus den Rhätischen Alpen. Ein Führer durch Graubünden. 2. Aufl. Chur 1862, S. 63f.)

Der Lauf des alten Rheins: … Aber nicht nur der innere Bau, auch die äussere Gestalt unseres Clubgebietes weist sehr bemerkenswerthe Erscheinungen auf. Wer hinaufwandert durch das Taminathal über Vättis gegen den Kunkelspass, der würde, wenn er es nicht aus den Karten anders erkannt hätte, südlich des Kunkels keinen Absturz erwarten, sondern eine allmälig südlich ansteigende Fortsetzung des Thalbodens von Vättis und Kunkels. Indessen wird ihm auffallen, dass beim Dorfe Kunkels, wo wir uns in einem gewaltigen Hauptquerthal der Alpen zu befinden denken, kein entsprechender Fluss, nur ein schwacher Bach vorhanden ist. In der That bildet der Thalboden vom Kunkelspass bis Vättis, zusammen mit den Terrassen von Valens und Dorf Pfäfers ursprünglich die Fortsetzung des Thalbodens von Schams. Ein alter westlicher Stammrhein ergoss sich aus Schams, und nachdem er etwa 700 m hoch über dem jetzigen Reichenau den Vorderrhein aufgenommen hatte, über den Kunkelspass nach dem Walenseethal durch den Greifensee und das Glatthal hinab in den untern Rheinlauf. Hier, wie so oft, sind die alten Thalläufe vielfach zerstückelt worden. Der Ostrhein schnitt über Reichenau dem Westrhein in die Seite, lenkte ihn ab, und es folgte die Vertiefung vom Niveau des Kunkelspasses nach Reichenau hinab.
Durch diesen Entzug an ausspülendem Wasser wurde das alte Westrheinthal im Gebiete von Kunkels bis Pfävers in der Ausspülung todt gelegt. Weiter unten schnitten die alte Zürichseesihl und die Linth wieder ein Stück aus dem alten Westrhein hinaus und rissen dasselbe an sich, während das Glatthal als der letzte, ebenfalls in der Vertiefung absterbende Rest, den Fuss des alten Westrheinthales darstellend, zurückblieb. Das gewaltige Thalstück Kunkelspass-Pfävers ist also ein ausser Betrieb gesetztes Stück eines alten Hauptflusslaufes des Westrheines, es ist ein Thaltorso, denn Kopf und Beine sind ihm jetzt durch andere Flussläufe abgeschnitten, nur ein Arm, die Tamina, ist noch am Torso geblieben.
Die Art und Weise, wie unser Thalstück Kunkels-Pfävers aus dem alten Westrheine ausgeschaltet worden ist, findet ein auffallend ähnliches Gegenstück in dem aus dem alten Ostrheine ausgeschalteten und dadurch ebenfalls in der Austiefung zurückgebliebenes Thalstück Lenz-Lenzerheide-Parpan-Churwalden-Malix.
Unserem Thalstummel blieb einzig noch ein kräftiger westlicher Seitenfluss treu. Das ist das Kalfeuserthal mit der Tamina. Freilich kann auch sie sich nicht mehr in den alten Stammvater Westrhein ergiessen. Derselbe besteht als solcher gar nicht mehr. Sie ergiesst sich in den Sieger im Wettkampfe der Thalbildung, den Ostrhein, und trifft hier wieder zusammen mit ihren Schwestern, den Wassern aus Rheinwald, Avers und Schams, die schon vorher auch dem Adoptivvater Westrhein zugewendet worden waren. Die Tamina leistet, was sie kann, um den von ihr durchströmten Theil hinabzuvertiefen auf die neuere Ausspülungsbasis, welche ihr durch ihre jetzige Mündungsstelle gegeben ist. So hat sie die Taminaschlucht beim Bade Pfävers eingeschnitten, und die Verwitterung arbeitet an der Abschrägung der Wände und der Erweiterung des Einschnittes. Die für Ausspülungen im Felsen durch einen geschiebeführenden Fluss so bezeichnenden glatten concaven Erosionskessel sind bis hoch oben an den Schluchtwänden stellenweise noch zu erkennen. Im Vereine mit den alten Kieslagern, die bis auf den alten Thalboden hinauf sich finden lassen, beweisen sie das allmälige Einsägen durch den Fluss.
Im Kunkels- und Taminathal in seiner jetzigen Gestalt liegt uns somit ein merkwürdiges Stück Thalgeschichte vor, dessen einzelne Abschnitte durch genaues Verfolgen der Terrassen und Thalstufensysteme ermöglicht war. Wir konnten hier nur das Resultat in kurzen Zügen aufführen.
(Quelle: SAC Jahrbuch XXIIII 1888_89. Albert Heim)

Irrwege auf St. Pirmin

Ein Beispiel eines Dörfchens, das sich in der Alpenregion erhalten, ist Furggels auf dem St. Margrethenberg. Ein grosser Theil der prächtigen Wiesen und Weiden in diesem freundlichen Hochthälchen gehört dem Kloster resp. gegenwärtig der Irrenheilanstalt Pirminsberg, so das Sennhaus mit dem Kirchlein. Da hat man oft so recht den Gegensatz zwischen der idyllischen Ruhe und Freundlichkeit der Natur und der schrecklichen Wirklichkeit, die über den Menschen liegt. Da sitzt man träumerisch neben dem Kirchlein und sieht die Sonne vom Pizalun und dann vom Falknis Abschied nehmen; im Sennhaus daneben aber sammeln sich die Irren, die hier oben den Sommer zubringen, um auf dem Felde zu arbeiten und die so gutartig sind, dass man sie einigermassen beschäftigen kann. Wenn man den Schlüsselbund sieht, den der Oberwärter mit sich führt, mit dem er die Kammern der Armen abschliesst, dann vergeht einem Idylle und Träumen. Aber wie doppelt herrlich glänzt die Sonne am andern Morgen, wenn wir über die grünen Höhen schweifen und das Wehe der Menschheit auf eine Zeit lang wieder vergessen.
(Fridolin Becker: Itinerarium für das Excursionsgebiet des S.A.C. 1888: Graue Hörner – Calanda – Ringelspitz. Glarus 1888, S. 50)

Der Kurverein Ragaz hat verschiedene Reklamationen von Fremden über die schlechten Wegverhältnisse & das Fehlen von Wegweisern auf den Piz Alun bekommen & die Herren des Kurvereins, welche auch der Sektion Piz Sol angehören, gebeten sie möchten im Comité d. Sektion darüber reden, was gemacht werden solle & könne. Herr Hilty gibt eine Schilderung der jetzt bestehenden Verhältnisse & Herr Direktor Haeberlin bestätigt, dass ein früher vom Kurverein aufgepflanzter Wegweiser die Leute verleitet habe, durch Wiesboden, welcher der Anstalt Pirminsberg gehöre, hindurchzugehen. Das Comité kommt dann zu der Auffassung, man solle abwarten bis vom Kurverein etwas gemacht werde. Was gemacht werde, sei ja gleich, wenn es nur ein Weg mit Markierungen sei.
(Aus dem Protokollbuch der Sektion: Comité Sitzung, den 2. Juni 1904 in Wartenstein)

Auf Pochen des Kurvereins ist der Weg auf den Piz Alun neu markiert & an der steilsten Stelle eine Tracé durchstochen worden. Die Wegfrage wäre also vorläufig geregelt.
(Aus dem Protokollbuch der Sektion: Comité Sitzung, 13. Septemb. 1904 in Wartenstein)

Alpsegen – Ave Maria auf den Alpen

… möge auch eine schöne Sitte Erwähnung finden, welche auf mehreren Alpen des Bezirks Sargans (St. Galler Oberland) heimisch ist. Dort tritt mit einbrechender Dunkelheit ein Senne vor die Alphütte und singt einen längeren Gebetspruch, dessen musikalische Form nach Art der katholischen Litaneien, aber ganz eigenthümlich gestaltet ist. Dieser Gebetspruch wird jeden Abend gesungen, und selbst Schneegestöber oder Sturm hindert den Senn nicht an der Ausübung des religiösen Gebrauchs. Die Art und Weise des Vortrages dieses «Alpsegens», die Dunkelheit, das vieltönige Geläute der Heerdenglocken – alles vereint macht auf den Hörer einen tiefen und unverwischbaren Eindruck. Tritt noch der Fall hinzu, dass auf einer ausgedehnten Alp zwei oder mehrere Besitzungen – «Stösse» – sind, so wird die ganze Eigenthümlichkeit noch dadurch erhöht, dass man den Gesang der Sennen von den anderen «Stössen» her wie ein geisterhaftes Echo in die Nacht ausklingen hört. Die Reihenfolge des Absingens vom «Alpsegen» ist in den Rechtsamen der einzelnen Stösse verbrieft, und die Sennen sind auf den Vorrang so sehr eifersüchtig, dass schon blutige Händel erfolgten, wenn sich ein Senn des folgenden Stosses etwa beigehen liess, in übungswidriger Freiheit den «Alpsegen» vor seinem «berechtigten» Vordermann abzusingen. Gebetspruch und Sangweise scheinen uralt zu sein. Da Letztere meines Wissens noch nie veröffentlicht wurde, so mögen Spruch und Weise zusammen durch unser Clubbuch den Weg in die Oeffentlichkeit finden.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1867-68)

Alpsegen auf Brändlisberg: Das Alpleben ist im Allgemeinen ein freundliches; die Aelpler nähren sich gut mit Milch und “Tätsch”. Auf den meisten Alpen wird noch der Alpsegen gebetet, allerdings nicht gerade immer mit der grössten Feierlichkeit und Hingebung. Ein löbliches Beispiel, wie man den Alpsegen rufen muss, gibt der treue Hirt von Brändlisberg, Jakob Keller, ein Protestant, der aber die Mutter Gottes und die “lieben Gottesheiligen all” so innig anruft, wie der beste Katholik. Keller ruft nicht nur, sondern er vertraut auch auf seinen Ruf und sichtbar erhören die Heiligen, denen er sich und “Alles, was in seinem Ring” ist, empfiehlt, diesen Ruf. Als wir ihn bei Gelegenheit um eine Abschrift seines Alpsegens ersuchten, wollte er nicht willfahren; er sagte, das wäre eine Versündigung, es könnte Jemand über diesen Segen lachen und das könnte und möchte er nicht verantworten. Der gute Brändlisberghirt hatte Recht.
(Quelle: Fridolin Becker: Itinerarium für das Excursionsgebiet des S.A.C. 1888: Graue Hörner – Calanda – Ringelspitz. Glarus 1888)

Wohl sämmtliche Mitglieder unserer Expedition hatten heute zum ersten Mal die Gelegenheit, den Alpsegen sprechen zu hören. Sobald die Nacht hereingebrochen und die Tagesarbeit erledigt ist, begibt sich einer der Sennen, Hut und Hirtenstab in der Hand, ins Freie und spricht oder ruft laut ein langes Gebet, in welchem die Heiligen um Schutz für Mensch, Vieh und Alp angerufen werden:
Ave Maria!
Bhüet’s Gott und üser lieb Herr Jesus Christ,
Liber, Hab und Guet und Alles, was hie uma ist!
Bhüet’s Gott und d’r lieb heilig Sant Jöri,
Der wol hier ufwachi und höri!
Bhüet’s Gott und d’r lieb heilig St. Marti,
Der wol hier ufwachi und walti!
Bhüet’s Gott und d’r lieb heilig Sant Gall
Mit synen Gottsheiligen all!
Bhüet’s Gott und d’r lieb heilig Sant Peter!
Sant Peter, nimm den Schlüssel wol in die rechti Hand;
Bschliess wol den wilda Thiera ihra Gang,
Dem Wolf da Racha, dem Bära da Tatza,
Dem Rappa da Schnabel, dem Stei da Sprung,
Bhüet’s üs Gott vor einer bösa Stund,
Dass solchi Thierli mögen weder kratzen noch bissen,
So wenig als die falscha Juda üsa lieba Herrgott bschissa!
Bhüet’s Gott Alles hie in diesem Ring
Und die liebi Mueter Gottes mit irem herzallerliebsta Chind!
Bhüet’s Gott Alles hie in üsem Tal,
Allhie und überall.
Bhüet’s Gott und das walti Gott und das tue der liebe Gott!
Es macht dieses «Segensprechen» in stiller Nacht auf hoher Alp auch auf prosaisch und skeptisch angelegte Hörer einen tiefen und bleibenden Eindruck.
Nach einer gefälligen Mittheilung des Hrn. Pfarrer Brändle in Ragaz, Präsident der Section Alvier S. A. C., wird dieser Alpsegen ausser auf der Lasaalp noch auf der Alp Brändlisberg im Kalfeuserthal, auf Pardiel und einigen Alpen des Weisstannenthales gesprochen. Einen, abgesehen von etwas verschiedener Schreibweise, ziemlich genau übereinstimmenden Alpsegen gibt Dr. Ludwig Tobler für die Gegend von Sargans an. Die einzigen wichtigeren Abweichungen finden sich in den Zeilen von «St. Peter» an bis «Bhüet üs Gott», die im Sarganser Alpsegen lauten:
«Bschliess wohl dem Bären sein Gang,
Dem Wolf d’r Zahn, dem Luchs d’r Chräuel,
Dem Rappen d’r Schnabel, dem Wurm d’r Schweif,
Dem Stei d’r Sprung!
Bhüet üs Gott vor solcher bösen Stund.»
Kleine Verschiedenheiten im Alpsegen mögen wohl von Thal zu Thal vorkommen. Merkwürdig ist, dass nach Hrn. Pfr. Brändle’s Mittheilung der Senn, der den Alpsegen auf Brändlisberg, in voller naiver Andacht spricht, ein Protestant ist.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1888-89)

… Bei dieser Gelegenheit gerade noch eine andere Bemerkung, die sich auf eine Anmerkung auf Seite 47 des letzten Jahrbuches bezieht. Es wird dort gesagt, dass der allen Besuchern der Lasaalp wohlbekannte Alpsegen auch auf der Alp Brändlisberg, ferner auf Pardiel und einigen Alpen des Weisstannenthales gesprochen werde. Nach der Aussage Kohlers ist der Alpsegen im Kalfeuserthale auf sämmtlichen, wie er sich ausdrückte, katholischen Alpen üblich, und das sind meiner Kenntniss nach alle, mit Ausnahme der Eggalp, die der Gemeinde Sevelen gehört. Ob die Bemerkung Kohlers sich auch auf die den Bündnern gehörenden Alpen Sardona, Malans und Schräa bezieht, kann ich im Augenblick nicht sagen. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass der Alpsegen im Tersol, auf Panära und auf der Plattenalp üblich ist, auch auf der Ebene, wenn mich das Gedächtnis nicht täuscht.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1889-90)

Auf den Alpen des Sarganserlandes, hauptsächlich in den obersten Sässen derselben, wird nachstehendes Ave Maria gebetet, welches unzweifelhaft aus einer Zeit herstammt, da in unsern Gebirgen noch allenthalben Bären, Wölfe, Luchse und dergleichen hausten und da man sogar noch den Spuk eines Lindwurms oder Drachen befürchtete.
Die Alpknechte getrauen sich nicht, dieses Gebet auch nur einen einzigen Abend zu unterlassen. Der Senn oder einer seiner Gehilfen tritt, den Hut und den Hirtenstab in der Hand, vor die Alphütte auf eine Anhöhe und ruft mit lauter Stimme in die Nacht hinaus:
Ave Maria!
Bhüt’s Gott und unser lieb Herr Jesus Christ
Liber, Hab und Gut und alles, was hierum ist;
Bhüt’s Gott und der lieb heilig St. Jöri,
Der wohl hier ufwache und höri.
Bhüt’s Gott und der lieb heilig St. Marti,
Der wohl hier ufwache und warti,
B’hüts Gott und der lieb heilig St. Gall
Mit seinen Gottsheiligen all.
Bhüt’s Gott und der lieb heilig St. Peter.
St. Peter, nimm die Schlüssel wohl in deine rechte Hand,
Bschliess wohl uf dem Bären seinen Gang,
Dem Wolf den Zahn, dem Luchs den Kräuel,
Dem Raben den Schnabel, dem Wurm den Schweif,
Dem Stein den Sprung!
Bhüt’ üs Gott vor solcher böser Stund,
Dass solche Tierle mögen weder krätzen noch bissen,
Wohl so wenig, als die falschen Juden unsern lieben Herr Gott bschissen.
Bhüt’s Gott alles hier in unserm Ring
Und die lieb Mutter Gottes mit ihrem Kind.
Bhüt’s Gott alles hier in unserm Tal,
Allhier und überall.
Bhüt’s Gott, und es walte Gott, und das tue der lieb Gott!”
“Ave Maria” und die Rufe an die Heiligen werden dreimal gesprochen.

Ernste Mahnung: Einst beabsichtigte ein Senn, das Ave Maria nicht mehr zu beten und blieb deshalb um die bestimmte Zeit in der Hütte, wo er mit den andern Knechten des Gebetes spottete.
Da flog mit lautem Krachen die Hüttentüre auf. Es wollte sich aber niemand zeigen, der diese aufgemacht hätte, weshalb sie die Knechte wieder zuschlössen. So geschah es auch zum zweiten Male. Als der Senn beim dritten Male die Türe wieder schliessen wollte, sah er einen ungewöhnlich grossen Mann vor der Hütte stehen, der einen hohen, wackeligen Hut auf dem Kopfe trug und der ihn mit einer tiefen, wie aus der Ferne her tönenden Stimme also anredete: “Ich rate dir, unverweilt das Ave Maria zu beten!”
Zitternd und bebend gehorchte der Knecht. Der finstere Nachtwandler aber stand hinter ihm, schaute ihm während des Gebetes über die Achsel und sprach nachher: “Es ist dir guot chu, dass du kei einzigs Wort usglu häst; sust hätt ich dich verrupft wie ‘s Gstüpp in der Sunnä!” (Gstüpp, Stuppe heisst der Abfall des Werges beim Hanf. Gemeint sind wohl die leichten Nebel, die vor der Sonne weichen.)
(J. Natsch)
(Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen. Von J. Kuoni. St. Gallen, 1903)

Auf hoher Alp, wo die feindliche Wirkung der Elemente verstärkt zu Tage tritt, sehnt sich der Hirte, abgeschlossen von allem menschlichen Beistand und ohnmächtig gegenüber den vielen ihn umlauernden Gefahren, doppelt nach einer schirmenden Hand. Die Alpen werden kurze Zeit nach deren Bezug durch den Ortsgeistlichen benediziert, um Krankheit und Gefahr zu bannen. Auch wird dem Vieh vor der Alpfahrt Heu, das während des Läutens in der hl. Nacht vor das Haus gelegt worden, zu fressen gegeben, da solches schützende Kraft besitzt.
Ueberdies glaubt sich der Senn, angesichts der vielen feindlichen Gewalten, in der Weise des Beistandes überirdischer Helfer versichern zu müssen, das er durch den nachfolgenden Alpsegen (Betruf), durch das «Ave Mareïä» den Segen Gottes, den Schutz der Jungfrau Maria und der Heiligen herniederfleht auf Mensch und Vieh, auf Hütte und Matte, auf Grund und Grat.
«Ave Maria! Ave Maria! Ave Maria!
B’hüät’s Gott und über liäb Herr Jesu Christ
Lyber, Hab und Guät und alles, was hier umä-n-ist!
B’hüät’s Gott un-d’r heilig Sant Jöüri (Georg),
Där wohl hier ufwachi und höüri!
B’hüät’s Gott un-d’r heilig Sant Marti,
Där wohl hier ufwachi und warti!
B’hüät’s Gott un-d’r liäb heilig Sant Gall!
Mit synä Gottsheiligä-n-all!
B’hüät’s Gott un-d’r liäb heilig Sant Peïter!
Sant Peïter! Nimm dy Schlüssel wohl in dy rächti Hand,
Und b’schlüss wohl uf dem Bären syn Gang,
D’m Wolf d’r Zahn,
D’m Luchs d’r Chräuel,
D’m Rappen d’r Schnabel,
D’m Wurm d’r Schweif,
D’r Flug d’m Greif,
D’m Stei d’r Sprung!
B’hüät-is Gott vor solcher bösen Stund!
Dass solchi Tiärli mögen weder kretzen noch byssen,
So wenig, als die falschen Juden üsern liäben Herrgott b’schyssen!
B’hüät Gott alles hier in üserm Ring,
Un-die liäb Mueter Gottes mit ihrem Chind!
B’hüät Gott alles hier in üserm Tal,
Allhier und überall!
B’hüät’s Gott und das walti Gott, und das tuä d’r lieb Gott!
Ave Maria! Ave Maria! Ave Maria!
Der Betruf wird durchwegs in gleicher Tonhöhe gesprochen; nur ab und zu lässt der Betende seine Stimme um eine Terz oder Quart fallen. Der seltsam singende Tonfall erinnert lebhaft an die katholische Litanei. Wehe dem Sennen, der den Alpsegen zu rufen vergass, der sich des Gebetes halber nicht von Lust und Freude trennen wollte! Furchtbar lässt die Sage den Frevler büssen. Der reissenden Tiere, des Bären, Wolfes und Luchses ist andernorts Erwähnung getan worden. Der «Rappen» ist der Lämmergeier, der Schrecken der Schaf- und Ziegenherden. Dieser horstete nach Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Höhen des Sarganserlandes. Der «Wurm» und der «Greif» sind Lindwurm und Greif, die beiden durch die mittelalterliche Volksphantasie stark umrankten Fabelwesen. …
(Quelle: Volksbrauch und Volksglaube des Sarganserlandes. Von Werner Manz. 1916)

Postkarte Alpsegen Alp Schrina 1926

Alte Stiche von der Taminaschlucht und vom alten Bad Pfäfers

Landschafft vmb das Wildebadt Pfäffers. Kupferstichkarte von Matthäus Merian aus dem Jahr 1642.
Wahre Contrafactur des Wunderlichen Bads zu Pfäffers in Ober Schweytz. Kupferstich vom alten Bad Pfäfers von Matthäus Merian aus dem Jahr 1642
Kupferstich vom alten Bad Pfäfers (vor dem Brand von 1629), veröffentlicht 1867
Kupferstich vom Bad Pfäfers von Frey, veröffentlicht 1835
Kupferstich vom Bad Pfäfers von Caspar Burkhardt, veröffentlicht 1843
Kupferstich von der Quelle der Bäder Pfäfers von Caspar Burkhardt, veröffentlicht 1843
Kupferstich von der Taminaschlucht von Jobst Riegel um 1860

Von dem Bad zu Pfeffers inn ober Schwytz

Von dem Bad zu Pfeffers inn ober Schwytz / in dem Fürstenthum des hochwirdigen Fürsten vnnd Herrn / Joann Jacob von Gottes gnaden Abbt daselbs / in der Landtuogty Sangans.

… Das ich euch aber das Pfeffers Bad entdeck / werdend nitt kundtbar die drii ersten erfunden / also zuuerstan das dises wasser vß bemelten corporibus sin krafft vnn tugend empfangen habe / darumb in keinerley wäg für ein frucht der element solle gehalten werden / sunder an im selbs ein volkommens element / vnd als ein element beschriben werden / in den eigentschafften glych dem wasser. Vnd also wie sich der vrsprung im wasser element befindet / also ouch dises Bad glych erhöcht vnd geachtet. Vnd also sol ouch von den geleerten deß Sulphurs / des Mercurij / des Salis nit gedacht noch zugeleit werden. Wie aber sin vrsprung vnd herkummen verstanden sol werden / bewißt das liecht der natur wie hernach volget. …

Das erzell ich darumb das hie in dem Bad Pfeffers das wasser gescheiden ist in siner complex / dz heiß in sin sunder adern vnd cataracten / vnd das kalt derglychen ouch in sin andern gang. Dann nüt ist so kalt / es habe hitz in im: nüt so heiß / es habe kelty in im. Also werdend gescheiden von einander die empfintligkeit der kelti / also ouch der wermi. Also ist das wasser vnn Bad Pfeffers / das element wasser gescheiden vom andern wasser inn empfintligkeit der wermy. Nit das dises wasser allein also syg / sunder sölicher adern vil / weliche iren vßgang nemmend in die fliessenden wasser / See vnd Meer vns nit bekanntlich / dann die kelty anderer wasser löschst ir hitz vß. Darumm vil wasser sind die nit in rechter wasserkelty / sunder mit wermy gespürt vnd gemerckt werdend. …

So ist ouch nitt minder / so vor vnseren ougen die brünnenden berg stand / das ouch in der erden söliches fhürs vil syge / vnd die wasseradern so dardurch louffend / von inen gewermt werdend / vnnd warm an den tag gesandt von wegen behaltner wermy nit mögend in der zyt erkalten. Das aber dises wasser also sin vrsprung nemme / sol widerredt werden / vrsach das sölich wasser / gschmack / eigentschafft vnd vermischung der selbigenn yrrdischen fhürung nitt bringt / als dann in vil andern bedern befunden wirt / welches doch in dem wasser vnnd Bad Pfeffers mit nichten gespürt mag werden / dann es an im selbs ein luter klar wasser / das kein corpus anhenckt / ouch in keinerley wäg mit vngeschmack erfunden wirt. …

Das aber ir des Bads vnnd wassers Pfeffers verschwynen vnd widerkommen erkennind / merckend also. Was Gott beschaffen hat / hat er zuuerjüngerung verordnet / also durch den tod des eltern das iünger entspringt / vnd also einem yetlichen ding sin zyl vnnd termin gesetzt / in dem es sich gaudieren vnnd exultieren sol / vnn wyter nimmer zuherrschen es sye gut oder böß. … Darumb hat Gott dem guten vnnd dem bösen sin zyl gesetzt / damit keins zehoch vfstige. Es were atweders gut. Also ist dz Bad Pfeffers sich zuuerjüngeren verordnet / damit es in glycher tugend blybe / des bösen noch des guten zeuil werde.

Söliches verstandend gewüsser in den wäg. Gott hat dem Summer geordnet in im vfzewachsen vnnd ein summerzyt zeläben allen denen corpora so der Sunnen krefft vnderworffen sind. Also wachsend mit dem Summer sine geordnete constellation / krüter /vnd anders / sterbend ouch also mit im ab. Also merckend ouch von dem Bad Pfeffers / das sin verjüngerung angadt im Früling / vnd terminiert sich im Wynter / wachßt mit den krütern / stirbt mit inen. Vnnd wie die krüter gezwungen werdend von vfgang der Sunnen das sy vß der erden wachsen müssend / also wirt ouch gezwungen in der potentz vnd operation der Sunnen / daß dz Bad Pfeffers ouch herfür muß vnnd sich erzeigen nebend den yrrdischen gwechsen / vnd also mit den yrrdischen terminis wider vergon vnd verlieren / vnd sin somen in der erden setzen / welcher vß krafft der Sunnen wider verjüngert wirt in sin alt wesen. Also wirdt vrsprung vnd herkommen des Bads Pfeffers gnugsam erzelt sin.

Von krefften vnd tugenden des wassers vnd Bads Pfeffers.

Die kreffty des Bads Pfeffers zebeschryben sol geschehen in den wäg. Der mensch hat örter an im der reinigung (emunctaria genennt) durch die selbig trybt sy ir widerwertigkeit vß. Nun ist aber vil hindernuß an dem selbigen ort / also das die natur im vßtryben offtmals zeschwach ist / ir zehelffen ist die artzny beschaffen. Nun sind etlich örter der reinigung / die durch die hut beschehen söllend / wo nun die natur am selbigen ort bresthafftig ist / sol ouch geholffen werden: dann wo sy wil vßtryben / da sol der artzet hilfflich sin. Also sind die vßtrybende krefft allein purgantia / etlich trybend von innen heruß / als Reubarbara: etlich ziehents von vssen heruß / als die Beder. Also ist dises Bad Pfeffers ein purgation vßzeziehen was die innwendig emunctoria nit vermügend / vnn das selbig mit gwalt durch fleisch vnd hut / in siner tugend glich der stamonea. …

Diewyl nun die würckung der wermy also menge operation erzeigt / vnd nit allzyt ein digestion / so wirt müssen diser natürlichen wermy dises Bads Pfeffers nachgeben werden / das sin operation in der attrahierung wyt übertrifft die ander attractiua. Dann durch das wesen der wermy wirt die anziehend krafft durch die wermy gesterckt / vnn in sölicher operation mag sich kein ander artzny verglychen. Darumm so wüssend das die wermy groß zebetrachten ist / vnn zehalten wie ein arcanum. …

Aber vil würckt hie in disen dingen die angeborne wermy / die sich so lieblich verglicht mit menschlicher natur / dann yngelybte wermy würckt grosse ding / wie die wermy der hüner ir eigne jungen vßbrutet. Ouch vß sölicher wermy die sydenwürm geboren werdend / ouch die wermy der frouwen vfenthalt ein langs alter den alten. Darumb so wüssend diewyl da ein söliche wermy incorporiert ist / das diß wasser Pfeffers wyt übertreffen muß vnnd übertrifft ir glychmässige simplicia / in welchen kein werme verordnet ist.

Von angryffen des Bads Pfeffers / ouch von nammen der kranckheiten so darinn füglich vnd nit füglich sind.

Dieses Bads würckung inn angryffung der kranckheiten wirt vollbracht in zween wäg / im vßziehen der materien vß welcher die kranckheit kumpt: zum anderen in der verzeerung desselbigen. Vff das merckend söliche exempel. Zu glycherwyß wie Gott verschaffen hat dem magneten sin krafft an sich zuziehen das ysen / also hat er ouch geben ein anziehende krafft disem wasser Pfeffers / vßzeziehen vß den lacerten des lybs alle die kranckheiten so der gantzen chirurgy / das ist der wundartzny / befolhen sind / vnd das wasser ist die artzny die der Chirurgicus in allen verzwyfleten kranckheiten bruchen sol. Das ist so vil / so die natürlich würckung nit wil erstatten / so erstattets dises Bad. … Wyter so ist da ein verzeerende krafft / das yhenig so durch das anziehen nit mag geweltiget werden / das verzeert sich hinweg. Zu glicherwyß wie der wind die füchte der erden / vnnd als die Sunn die da vßlert groß gruben der wasser / also wirt ouch vßgelert in disem Bad die materia vnd flüß der kranckheiten. …

Darumb sol der kranck der in disem Bad badet / nitt nach gemeinem bruch sin Badenfart vßrichten / sunder nach dem bruch siner kranckheit. Etlich kranckheit endent sich in nün oder zähen tagen / etlich in xii. oder xv. tagen. Dann da muß man zu vnn nachgeben der herten complexion / rühe vnd groby der lüten / flyß vnn vnflyß der Badens / gestalt vnn eigenschafften der der da badet ouch siner kranckheiten. Nach dem selbigen sol sich der kranck selbs erwegen / diewyl söliche materia im lyb verschlossen / durch die schweißlöcher nitt mag vßgan / so muß die hut hinweg / vff daß heruß komme. So gwaltig ist die krafft diß bads. Mer söllend ir aber mercken / das die boßheit vnd alter der kranckheit nit mag allmal in eim vßgezogen werden (das ist vff ein badenfart) sunder die ander / vnn die dritt notturfft erfordert / sol volstreckt werden. Vrsach / Das Bad ist sin eigen digestiuum vnd sirup / wz es in mittler zyt zytig macht laßts ouch vßziehen. …

Von den kranckheiten so in das Bad Pfeffers gehörend vnd dienend.

Ein yetliche contractur / das ist krümme oder verfalne glider oder lemy / so von zorn / wyn oder grimmen entspringend / beiden frouwen vnd mannen.
All zittern der henden / beinen / die die vß gebresten des marcks erwachsen / oder vß zorn / oder vnordenlichem läben / der glychen ouch vß kelty der geäder.
Ein yetlich podagra vnd artetica / das ist die sücht der glider / so sich mit dem glidwasser vermengend / ouch alle söliche rucken wee / in hüfften / vnd der glychen.
Ouch allen müden glidern so den hitzigen vonn der natur begegnend / ouch denen so vß langet arbeit / als handwercks lüten vnd botten beschicht.
Vnd ouch allen schwinenden glidern so vß der coagulation begegnend / es sy am lyb an welchen ort es wöll.
Der glychen allen alten fiebren / sunderlich den quartanen / so sich überjarend / vnn mit der artzny übermüyt vnd zehalßstarck worden sind.
Ouch allen den süchten so sich vff die gelsucht neigend / derglychen so vß der gallen sich erhebend / mit vrsach innwendiger apostemata.
Das sind die houptkranckheiten der lybartzny / so in das Bad Pfeffers am nützlichisten ire Badenfart mögend vollenden.
Darby ouch die zwo kranckheiten / der schlag oder paralisis / vnd diabetica. Habend ein söliche art an inen / so das Bad zum drittenmal inn die ernüwerung gadt / hilfflich erschiessen mag.
Derglychen ouch der toubsucht / doch nit on den nachuolgenden radt.
Also ouch den frouwen in allen kranckheiten gut / yedoch aber nach inhalt wie in disem buch bschlossen wirt.
Ouch derglychen dem grieß rot vnd wyß / Ouch den rysenden stein / mitsampt eim sölichem radtschlag: derglychen aller nieren vnd blater gebresten / wie hernach volget.

Hernach volgennd die kranckheiten der wundartzny.

Alle verborgnen kranckheiten so zwüschen hut vnn fleisch in der hut vnnd ouch im fleisch verborgen oder offenlich ligend / als die kranckheit so hernach volgt / Mager / Derre / Sürly / Jucken / Rud / Schüppen / Zittrach / Hutfressel / Kretzy / vnd all derglychen vnfletigkeit so mit kratzen vnd jucken sich erzeiget.

Das sind die kranckheiten so ouch in die wundartzny gehörend / vnd aber innwendig den vrsprung nemmend.

All offen schaden so vnder den knüwen entspringend die da rünnend / fliessend / oder der glychen mit eiter anlouffend.
All ölschenckel vnd die gewonliche lybflüß / sy syend am lyb an welchen enden sy syend.
Derglychen all offen schaden die sich vndergrabend mit renfften oder pörtern / oder die sich in vil löcher vß teilend.
Ouch all verloffen blaterlöcher durch welche die lemy vnd derglychen vßgand / vnd von artzny ermüdet sind worden.
Derglychen die fliessenden Sirig / die vmmfressenden krebs / ouch die fystel mitsampt den brüstgeschwären.
Ouch andere truckne löcher so sich mit geschwulst erzeigend.

Das sind die krafft so in den wunden vnnd von vssen zugeleiten kranckheiten erfunden werdend.

All wunden so geheilet werdend zufrü / on recht natürlich gezogen fleisch.
All wunden so versteckt werdend vnd oben zugeheilt on ingewurtzten grund.
Alle übelgeheilten wunden inn den beinen oder fragmenten verheilt werdend.
Alle übelgeheilten beinbrüchen so nit kunstrych geheilt oder zesamen gefügt werdend.
Den verrenckten glidern / vßgefalnen / verruckten / ouch denen so durch voltern verderbt sind worden / vnn so gar erkaltet.
Den glidern so nach den wunden schwinend / wie sich das selbig begeben mag.
All vngeheilten stichen vnn schützen von pfylen oder kuglen / die sich nit zur heilung schicken wöllend / Ouch die verheilten trümerpfyl oder kuglen zum vßgang bereitet.
Ouch allem gestandnen vnn verseßnen blut von fallen / stossen oder schlegen / innwendigs oder vßwendigs / alts oder nüws / resoluiertes.
Ouch alle erfrorne glider alt oder nüw / zücht es die gefrost vß / vnd bringt die natürlich werme widerumm.

Dise nachuolgende kranckheiten werdend etwan zun zyten genert / etwan nit / darumb vß radt eines Doctors gehandlet sol werden.

Als blateren on lemy vnnd on quecksilber vergifftet / Ouch herisipila / das ist gwülch oder rotlouff.

Das sind die kranckheiten so in das Bad Pfeffers nit gehörend.

Namlich ein ietlicher vssatz / vßgenommen der so von menstruis kommet.
Ouch die weliche die wassersucht habend / vßgenommen die so von geschwären nit kommend.
All schwangere frouwen / vnd die alt kranckheiten gehebt habend / vnd mit innwendigen gschwären beladen / Ouch die in denen die zeychen paralisis / das ist des schlags erschinend.
All die die blater mit sampt der lemy habennd / oder die lemy allein. Ouch was ein vfziehend blut hat den houpt zu.
Alle die so den fallenden siechtag habend.
All die so zu den buchlouff ald durch fluß gneigt sind.
Alle die so zum grimmen von zorn geneigt sind.
Also wie gemelt / sol ein yetlicher krancker sich selbs erkunden / vnd dises Bad Pfeffers ordnung halten / in der Ordinanz vnd Regiment wie hernach volgt.

Dise puncten söllend vor allem gehalten werden.

Namlich vollkommen an die statt Baden / vnn ob ein Badenfart nit gnugsam möchte arbeiten / die selbig volstrecken biß vff sin gnugsame.
Mit spyß vnd tranck empsig vnn flyssig halten / vnn in keinerley wäg füllery zu sölichen gebruchen. Warm halten / Mit kaltem wasser nit netzen / ouch vor den wind sich hüten / derglychen ouch mit kleidern vnd geschüch wol bewaren. Ouch der vnküschheit nit pflegen / vnd durch söliche artickel des Bads kreffte nit verwürcken.

Ordinantz in spysz vnd tranck.

Also in der gemein was zu Bads ordnung gehört zemiden sind die.
Knobloch / böllen / rättich / sennff / louch / brantenwin / Erbssen / lynsin / bonen / milchmüser / Käs / milch / ziger / sy syend dann erst gemacht. Wyldprett / es sye dann in bequemen zyten gfangen. Schwynen fleisch / geyßfleisch / vnn was alt fleisch ist. Wild oder heimisch enten / gens / alt Tuben. Jngsaltzen oder gedigen fleisch oder visch. Vor schlygen / trüschen / äl. Vor gebachens / altbachen brot / gersten brot. Vor gemengtem wyn / starckem / trüben oder suren. Was andere spyß sind werdend erloubt vnd gsund erfunden.
Vnd von gwürtz keinerley zugebruchen / als zymmat / saphrat vnd muscatblut.
Es sol ouch ein yetlicher nach siner anglegnen kranckheit sin selbs minder oder mer verschonen. Ouch denen so etwan lustshalben badent stadt beuor ir gelegenheit.
Was wyter notturfft erfordert / wirt vnderrichtung geben von denen so das Bad verwaltend / dann die täglich erfarnheit übertrifft die radtschleg der bücher.
So ist doch einem yeden der da badet nutzlich / ob er glychwol sunst kein artzny gebruchen wölte / all morgen dry reckholter bery vß einem essich nemmen zu reinigung des bluts. Ouch nutzlich nach essens morgens vnnd nachts zwey oder drü kolander körnly ouch vß essich genommen / der spyß dampff zu nidertruckung.
So wüssend ouch das disem Bad Pfeffers kein zal der stund geben mag werden / dann vnd nach dem die kranckheit ist / ouch des Bads stercky der jarzyt / dann nach sölicher krafft wirt der radtschlag vom Bad genommen / vnd nit von Doctorn. Das Bad regiert nach sinem willen. Vnn welcher wölte nach der zal handlen / vnd des Bads krafft wer nit also / so wurde ein ergers daruß entstan.
So sind vil kranckheiten die all jar etwan im anderen / etwan im dritten oder im vierdten etc. ein Badenfart begerend / denenn sol volgung beschehen / Als die lybflüß vnd gsücht arteticum vnd podagra / Ouch die rünnenden offen schaden.

Ein sonderlicher radt in den strengen hefftigen kranckheiten zegebruchen.

Wie in gutem wüssen ist das Regiment im holtz / so wüssend hie an dem ort ouch / das söliche Ordinantz mit dem Bad Pfeffers gebrucht / fürtreffenlich wunderbarlich kranckheiten heilt. Namlich alle die so vß den flüssen geursacht werdend / als inner vnd vsser kranckheit bewysend / vnnd was durch das holtz vnd sin abstinentz fürgenommen mag werden / vnn doch nit zu volkomnen end gebracht / wirdt hie in disem Bad glücklich vnd wol vollendet.
Das ist aber ouch zeradten / das die suppen so in den kanten gesotten werdend / on sin substantz zegeben von sterckung wegen nit sol verhalten werden.

Ein sunderlicher radtschlag vff etlich kranckheiten welchen die natur des Bads zu gantzer volkomner heilung zeschwach ist / nach disem radt gehandlet sol werden.

Als contractur / podagran / schwinsucht der glider / dem schlag / vnd allen offnen vsserlichen lybschäden / Ouch zum grieß vnn toubsucht / vnd was dann die wunden betreffen ist.
In der contractur also. Nach der ersten Badenfart (mit oleo Vulpino gmist mit balsamo de galbano / wie Arnoldus leert) salben morgens vnd nachts / nach der zyt eines Doctors radt: also werdend die contracten gesund. Ist ouch nutzlich grad ein baden daruff wider halten.
Zum podagran der glychen / oder mit balsam de mumijs / nach vnser beschrybung / vnn fürhin alle jar zweymalen im puncten des yngenden nüws / an füssen nach radt des Doctors die fluß adern schlahen lassen.
Zur schwinsucht vnd schlag ist am letsten nach der ersten Badenfart nutzlich / den lyb mit dem safft flamule / oder lini palustris / mit der addition cantaridum / oder was der glychen attractiue sind / vnd also mit der selbigen öffnung wider in das Bad gan biß zu end der heylung. Also wirt ouch der mager geheilt / alopicia / vnd die schrunden der henden vnd des lybs.
Zu den fliessenden offnen lybschäden söllend gebrucht werden nach vollendter Badenfart die pflaster vnnd oppodelthath / oder die gerechten apostolicon vnd diaquilon / die heilend vnd beschliessend nachuolgend was das Bad verlassen hat. Darby ouch zemercken die lässin / ouch purgationes fürhin zebruchen / nach innhalt eins erfarnen Doctors radt.
Derglychen zum grieß oder rysenden stein / litontripon / mit Benedicta laxatiua genossen / vor den ee man badet yngenommen / macht dem grieß ein gute vßgang.
Zur toubsucht wüssend das die gantz materia in dz houpt getriben wirt / darumb söllend die pulsatiles geschlagen werden / oder der centrum des houpts aperiert / oder die vier partes des houpts mit den cauterijs geöffnet werden.
Zu den übelgeheilten wunden wüssend / das sy vfbrechend vnd öffnend / vnd bereit es in der gestalt / das ein yeder geschickter wundartzet gruntlich vnd vollkommen wolenden mag.

Vszlegung der Latinischen Synonyma so in vergangnen Capitlen gebrucht sind worden.

Sulphur ist der safft der da brünnt.
Mercurius ist der lyb in dem sich die eigentschafft erhalten.
Sal ist das zusamen hefftet in ein lyb.
Materia ist ein stuck das man in die hand nimpt.
Corpus ist der lyb in dem die tugend verborgen sind.
Arcanum ist ein houptstuck durch die erfarenheit zuergründen.
Constellatio ist ein vereinigung der vnder vnd obern.
Terminus ist ein zyl / vff das ein yetlichs ding zeherrschen hat.
Operatio ist die würckung so die natur volbringen mag.
Emunctorium ist ein ort natürlicher reinigung.
Reubarbara ist ein purgatz der gallen.
Simplicia ist ein einig stuck für sich selbs.
Attractiuum ist ein natürlich anziehen.
Podagra ist zipperly in füssen oder henden.
Arteticus ist ein glidsüchtiger.
Contractio sind die erkrümpten lamen glider.
Erisipila ist ein sucht glych der pestilentz.
Balsamus de mumijs ist die artzny vom fleisch.
Oleum Vulpinum ist die salb von gemeinem bruch.
Balsamus de galbano ist ein öl von dryen stucken.
Alopicia ist ein erbgrind vnd sins glychen.
Litontripon / Benedicta laxatiua / sind arntzny der apotecken.
Pulsatiles sind die schlaaffadern.
Cauterium ist ein kunst des vfbrennens.
Centrum ist der anfang in der kranckheit.
Aperire ist öffnen.

(Quelle: Paracelsus: Vonn dem Bad Pfeffers in Oberschwytz gelegen Tugenden, Krefften unnd Würckung, Ursprung unnd Herkommen, Regiment und Ordinantz / durch den hochgeleerten Doctorem Theophrastum Paracelsum. Zürich 1535)

Pfäfersbad und Heilquelle

Für Hebung der Badeanstalt zu Pfäfers sorgte Abt Jakob besonders, er setzte eine Badeordnung fest, veranstaltete durch den berühmten Dr. Theophrastus Parazelsus die erste Beschreibung des Bades Pfäfers und liess diese zur Verbreitung ihres Rufs 1535 im Druck herausgeben. Nicht allein hiedurch verschaffte er dieser Anstalt vermehrten Besuch, sogar aus fernen Gegenden, sondern auch durch das, zur Erleichterung des Zugangs und Beseitigung bisheriger Gefährlichkeit desselben, 1543 von ihm angeordnete merkwürdige und kühne Werk der Anlegung einer über 250 Fuss langen Holztreppe längs der steilen Felsenwand, auf in dieselbe befestigten Stützen ruhend, und über dem tiefen Abgrund schwebend; gleichzeitig wurde durch eine hölzerne Brücke und Treppe die Verbindung zwischen den beidseitigen Berggegenden und mit dem Bade hergestellt, und diese, mit steter Lebensgefahr für die an Seilen hinuntergelassenen Arbeiter und grossem Kostenaufwand für das Stift verbundenen Bauten, aller Schwierigkeiten ungeachtet, durch Beharrlichkeit zu Ende gebracht.

(Quelle: August Naef: Chronik oder Denkwürdigkeiten der Stadt und Landschaft St. Gallen. 1867)

Über Ortsnamen des Taminagebietes

Zur Nomenklatur
Heutzutage will nicht nur der Gelehrte, sondern auch jeder Bauer Alles erklären und in seinem Ursprunge nachweisen. Da wundert man sich über den Namen Vadura, oder wie er ausgesprochen wird: Fadura, was das wohl heissen möge? Natürlich via dura, harter, rauher Weg! Keine halbe Stunde davon giebt es eine Via mala; aber das spricht man aus Feia mola, ächt St. Galler-Oberländerisch. Da stimmt die Bezeichnung; der Weg ist schlecht, d.h. sehr lawinengefährdet, in der Zeit wo man ihn gerade am meisten braucht, wenn das Vieh, das im Vättnerberg „gewintert“, in’s Thal hinunter muss.

Bald soll das Va: via, bald val bezeichnen; das Thälchen von Vaplona oder Vablona sollte lange ein Val plana sein, obgleich es Alles ist, nur das nicht. Valtnov (auch schon geschrieben alpnov) und Valtüsch, mag wieder etwas anders bedeuten (Valt-nov, valt-üsch). Das Schönste ist, wenn moderne Scribaxen gar Val Teusch schreiben wollen! Um die Confusion zu vergrössern, kommt noch das Wort wala dazu, Walenbüz.

Aehnlich mit dem Va und Val in Valens, Vasane, Vaplona, Vasön, Valgez, Vadura, Vättis, Vallils, Valboden, Valdrux, etc. etc., steht es mit dem „Ma“ in Malans, Masans, Mastrils, Maton, Matan, Matär, Matugg, Matlina, Maltina, Maprak etc. etc. Masans will man erklären aus Mal sana, Mastrils aus Mons sterilis! Wenn man doch einmal mit dieser lateinischen Verdeutschung oder deutschen Verlateinung aufhören wollte!

Die Namen Monteluna, im Dialekt Montalu oder Montilu und Pizalun, im Dialekt Pizilu oder Pizlu, haben doch gewiss nichts mit dem Monde zu thun.

Ein merkwürdiger Name ist der des Val grausa. „Grauss wird im Dialekt des Taminerthales für Gross ausgesprochen (Grausswies hinter Pfävers); gräusser für grösser.

Die Alp Tersol, die wirklich eine terra sola ist, wird von den Besitzern selber „Der Sol“ geschrieben; den Namen Pizsol kannte Arnold Escher von der Linth noch nicht, der doch viel dort herumgestiegen – er nannte ihn immer Grauhorn.

Calfeisen ist auch erst in neuerer Zeit zu einem Calfeusen geworden; man findet es oft auch als Calfreisen, wozu das Analogon sich im Schanfigg befindet. Andere gemeinsame Namen im Tamina- und Plessurthal sind Langwies und St. Peter.

Am meisten ist schon über den Namen Pfävers, was schon zu einem Pfeffers geworden ist, gestritten worden. Man mag auswählen zwischen der Herleitung von faber (faver lignarius: Zimmermann) oder faba (Bohne, eine Mönchsspeise) oder Pfaff (papa, phafo, pfaffo) oder von was man sonst noch will, das etwa Beziehung haben könnte zu jenem Orte. Alte Urkunden geben die Bezeichnung Favares, Favaria, Faviera, Fabaria, daneben Puevers, Papharia, Pheuers, dann Pfaevers, Pfävers, Pfefers, endlich in der neuern Zeit, wo man Alles etwas kräftig haben will, Pfäffers und Pfeffers. Steckt nicht vielleicht in dem Favares das fa des fadura und fasön etc.?

Doch lassen wir die Philologie; ein kundiger Clubist bringt uns vielleicht im „Jahrbuche“ einmal Licht in dieses Dunkel.

(Fridolin Becker: Itinerarium für das Excursionsgebiet des S.A.C. 1888: Graue Hörner – Calanda – Ringelspitz. Glarus 1888, S. 45-47)

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Tamina:

Tamina erscheint urkundlich A. 1050 zuerst als Tuminga, 1405 als Tumin, 1414 Tyminnen, 1448 Tamine, 1461 Dumin, dann weiter als Taminge, Camingenbach, Camingfluss, Taminna, Caminga, Tamin etc., aus welchen Variationen dann bei Gruner das in der Folge bis heute fast ausschliesslich geschriebene und gesprochene “Tamina” entstand. Einzig in Vättis ist bis heute der Name „der grauss Bach” (der grosse Bach) im Gegensatz zum “Müllbach” (Mühlebach oder Görbsbach) häufiger im Gebrauch.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Vättis:

Vättis ist im Pfäverser Brief von 1050 schon als Villa erwähnt. Im Jahre 1220 tritt es als „Vetins” auf. Daraus wird in der Folge ein Vettens, Vettes, Vettis, Fettis etc., und schliesslich die seit ungefähr 100 Jahren gebräuchliche Bezeichnung Vättis, die auch im mündlichen Verkehr üblich ist.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Calfeisen:

1346 erscheint der Name Kalueys. Das „K” kommt aber jedenfalls nur in der Schrift vor; denn das Wort wird in den folgenden Urkunden bis gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts mit „G”, zwischenhinein sporadisch und dann später bis in die neueste Zeit häufiger mit „C” geschrieben, unter den Anwohnern aber seit jeher immer mit „G” ausgesprochen. 1379 Calueiss, 1385 Galues, 1414 Galfeissen, 1426 Gallfeissen, dann weiter: Galfeyssen, Galueisen; Salis „verbessert” das Wort zu Calveisen; offenbar nach dem Beispiel von J. J. Scheuchzer, der das „C” und „V” in seinem „Calveissenberg” und „Calveisen” wieder auftauchen lässt, während Guler und Sererhard gar „Calfreysen” und „Callfreisa” schreiben. Bei Ebel sehen wir ein „Kalfeusertal”, das später in Rechnungsbüchern des Kirchenfonds St. Martin und in der Literatur wieder in verschiedenen Variationen auftritt, wobei das „f” mit „v”, das „eu” mit „ei” und „ey”, das „er” mit „en” usw. in buntem Durcheinander wechselt. Alle diese unzähligen Abarten lassen sich je nach der persönlichen Auffassung der Sprechenden und Hörenden aus dem seit alters her ausgesprochenen „Galfeisa” (Schriftdeutsch Galfeisen) der Anwohner als Grundform erklären, wobei das „f” ursprünglich ein „v” gewesen sein mag, während das „a” der Endsilbe dem verdeutschten „en” entspricht. Um Verwechslungen mit „w” in der Aussprache zu verhüten, sollte das „v”, auch wenn es ursprünglich vielleicht (!) berechtigt war, heute doch als „f” geschrieben werden. Die überwiegende Mehrzahl der Urkunden, sowie die überlieferte und ortsübliche Aussprache reden dafür. «I gu in Galfeisa»; «in Galfeisa het’s schu orli Gras»; «Galfeisni hind no nit ihi gstellt» und so weiter können wir seit jeher hören. Die Bezeichnung Calveis, wie sie in neuester Zeit da und dort auftaucht, setzt voraus, dass das zuerst und nur einmal geschriebene „Kalueys” richtig sei; sie nimmt aber keine Rücksicht auf die später aufgezeichneten Wortformen und die heute noch geltende mündliche Überlieferung und ist daher abzulehnen.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Tersol:

1368 Trusseil, 1379 Trussal, 1426 Tharsol, 1483 Tarsoll, 1515 Darsal, 1562 Tarsol, weiter Darsol, der Sol, Alp Sol, Terrsol, Tersol. Als Grundform aller dieser Wortbildungen kann das heute noch ausgesprochene Tersol gelten, wobei als schwacher Bindelaut zwischen „T” und „r” (notabene ein r !) bald ein „a”, bald ein „e” gehört werden kann. «I ha Ziköa (Zeitkühe) in T(e)rsol.». «T(e)rsol ischt a kei schüni Alp» usw. Je nach der persönlichen Sprechweise des einen und der Auffassung des andern kann man zu derselben Zeit und bei demselben Geschlechte bald die eine, bald die andere der angegebenen Wortformen vernehmen. Ein Vergleich verschiedener Redensarten lässt uns da am ehesten das Richtige finden. Nach unserem Gefühle entspricht die Bezeichnung Tersol (von terra-sola = einsame Gegend) mit „T”, einem „r”, kurzem „e” und langbetontem „o” der überlieferten und heute noch üblichen Aussprache des Wortes am besten.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Vasön:

1385 Fusuns, Fusüns, Fusün; letztere beiden Namen im gleichen Lehenbriefe, Salis selbst schreibt Fasün. Im Pfäverser Urbar 1781 sehen wir erstmals „Vasön”. In allen diesen Formen liegt der Akzent auf der letzten Silbe. Bei Egger kommt der Name häufig, aber leider nur in verdeutschten (d.h. modernisierten) Auszügen aus den Urkunden als „Vasön” vor. Dasselbe sehen wir in den Kommentaren von Wegelin; dann bei unsern neueren Karten und Schriftstellern. Ortsunkundige sprechen das Wort als Wasön (mit Akzent bald auf „a”, bald auf „ö”) aus, während unsere Einheimischen seit jeher „Fasün” und „Fasünner” (letzteres für die Bewohner) und mit Akzent auf „ü” aussprechen, wie Salis richtig angibt, und was auch für die Schriftsprache nachdrücklich empfohlen werden muss.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Pizalun:

1394 Pitzwilon, 1426 Bizilonenkopf, 1483 Bitzelonkopf, 1492 die kleine Bitzenlon und die grosse Bytzenlon, Pizilon oder die zwei Brüder (nördlichster Strilserberg) bei Salis. Dieser Name bestand zuerst für zwei Liegenschaften auf dem St. Margrethenberg, und ist dann auf die beiden bekannten eng verbundenen Felsköpfe darüber übergegangen, die heute noch unter den Anwohnern Pizilu oder Bizilu genannt werden. Berücksichtigen wir, dass in unserer Gegend das „u” in Endungen und teilweise auch in Zwischensilben fast überall das „on” vertritt, dann dürfen wir die Endung „on” auch für die Schriftsprache gelten lassen und demnach den alten Formen entsprechend auch mit Salis Pizilon oder mit Wegelin Bizilon schreiben. Alle anderen Wortformen, wie Piz alun, Pizzalun, Piz Lun, Piz a Lun, Pizalun, Pizlu entspringen nach unserer Ansicht nur verschiedenen Auffassungen dieser gleichen ursprünglichen Grundform, deren bisherige etymologische Erklärung uns leider nicht befriedigt.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Graue Hörner:

Grauner Horn; diese werden 1483 als graue Hornen, dann graue Horen und Grauehoren und 1692 in moderner Verdeutschung Graue Hörner bezeichnet. Die Literatur kennt bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts keine besonderen Namen für einzelne dieser Hörner, offenbar, weil auch keines dieser Hörner durch Höhe, Lage oder Gestalt besonders hervortritt. So soll noch Arn. Escher von der Linth die höchste Spitze, unsern heutigen Piz Sol, nur unter dem Namen Grauhorn gekannt haben. Auch unsere Jäger kannten und redeten bis in die neueste Zeit nur von den „graua Hourä”, bis sich dann die Namen unserer Karten besser einbürgerten.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Calvina:

1433 Galt Vieh alp, als Galtviehalp der Gemeinden Ragaz, Valens und Vättis, ohne weitere Namensbezeichnung. Daraus entstand nach unserer Ansicht die Bezeichnung Galfina, das dann in der Folge in den Variationen Galfinen, Gerfinen, Garfinen, Calfina, Calfinen, Calvina etc. auftritt. Der Name Galfina tritt schon in Urkunden von 1471 auf und wird auch bis heute so ausgesprochen, obschon Curti beharrlich Calfina und unsere Karten ebenso beharrlich Calvina schreiben. Der Name entspricht lautlich dem schon erwähnten „Galfeisen” vollkommen und darf daher mit demselben Rechte auch als Galfina (verdeutscht „Galfinen”) geschrieben werden. Diese Erwägungen wecken in uns die Frage, ob nicht vielleicht die Bezeichnung Galfeisen sich auch von „Galt Wiesen” (d.h. Magere Wiesen) ableiten lasse? Wer will das ergründen? Die Ableitung des Wortes „Gerfinen” von cervus, Hirsch, erscheint mir wegen der hohen Lage der Alp (tiefster Punkt der Alp ca. 1800 m), der ständigen Nähe der Menschen (auf dem 1600 m hohen Vättnerberg), sowie wegen des Waldmangels als etwas gewagt.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Schräa:

1511 und 1782 Schrayen (Alp im Galfeisentale) ist auch auf der Zieglerschen Karte erwähnt. Die Dufourkarte schreibt Schreinen, die Siegfriedkarte „Schräen” („en” ist hier wieder aus „a” verdeutscht). Die Aussprache der Anwohner lautet seit Menschengedenken auf Schräa, das möglicherweise aus „Schreya” oder „Schreia” entstanden ist. Ob das letztere Wort die Urform unseres Alpnamens ist, darf noch bezweifelt werden; denn dieses Wort ist offenbar romanischen Ursprunges, gerade wie der Ausdruck „(ussa)-schräa” in der Bedeutung von „herausspritzen”, „herausströmen”, wie er in Vättis heute noch in Gebrauch ist.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Brändlisberg:

1515, des heiligen St. Martins Berg, als „Berg” oder Alp oberhalb St Martin, 1559 Alp „Berg”, 1559 Winsersberg und Wimsersberg, 1593 wieder des hl. St. Martinsberg, 1614 des Brändlis seligen Berg und von da an meistens Brändlisberg geheissen. Doch hört man noch oft unter den Anwohnern und den Besitzern den blossen Ausdruck „Berg” oder „Berg in Galfeisa” als Bezeichnung der genannten Alp. Der Name Wimsersberg, wahrscheinlich von einem Alpbesitzer herrührend, wurde von der Zieglerschen Karte und von Coolidge in entstellter Form als Wimmersberg auf den schönen Berggipfel (P. 2730) nordwestlich der Alp übertragen, obschon dieser Gipfel nicht mehr im Gebiete unserer Alp liegt. Trotzdem ist dieser Bergname bis heute nie in Übung gekommen und er verdient es auch nicht. Zum Angedenken an das einstige „freie” Volk der Walser oder „Walliser”, wie sie sich im Fasüner Lehenbriefe von 1385 nennen, welche über 400 Jahre lang mit andern „Stofelgenossen” aus dem Unterlande die Alpen des Galfeisentales befahren haben, möchten wir dem matterhornähnlichen Gipfel (P. 2730 m) den Namen Walserhorn geben. Wir glauben auch annehmen zu dürfen, dass der Name Sazmartin, d.h. Martinsfels, ursprünglich nicht der so genannten magern Alpweide in Tersol, sondern dem darüber aufragenden kühnen Felsbau, unserm heutigen Sazmartinhorn, gegeben wurde und erst nachher auf die erwähnte Alpweide überging. Denn die letztere hat an sich allein, besonders früher, als die Alp Tersol noch bedeutend weniger mit Geröll übersät war als jetzt, mit „Saz” und vermutlich auch mit „Martin” sehr wenig zu tun, wohl aber der Berggipfel darüber. Denn die Alp St. Martinsberg gehörte früher mehrere hundert Jahre lang zum Kirchengute von St. Martin, weshalb sie auch danach benannt wurde. Nach dem Alpbuche „von dem Berg in Calfeisen” (wie Egger in seiner Urkundensammlung schreibt) besass der hl. Martin, Patron in Galfeisen, A. 1560 noch 272 ½ Stösse, während andere Alpgenossen (aus dem Unterlande) 128 Stösse ihr eigen nannten. Es wäre demnach recht und billig, dass diese Alp ihren früheren mehrhundertjährigen Namen, St. Martinsberg, wieder zurückerhalten würde, statt den des ehemaligen Schänniser Hauptmanns Brendly, der die Alp nur für kurze Zeit (von 1557 an bis zu seinem Tode) besessen hat, und zudem mit den jetzigen Alpbesitzern, den Ragazern, mehrmals im Streit gelegen ist, zu verewigen. Ebensowenig geht es an, den Namen Brändlisberg ohne weiteren Zusatz auch noch auf den Berggipfel über der Alp zu übertragen und damit einen „Berg” im Quadrat zu schaffen, wie es seinerzeit die Zieglersche Karte und nach ihr die ersten (unfreiwilligen) Besteiger unseres Berges, sowie Besucher des Piz Sol getan haben.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Drachenberg und Drachenloch:

Der Draggaberg, erst 1836 erwähnt, in Karten und Literatur als Drachenberg aufgeführt. Man kennt und spricht auch im Taminatale seit jeher das Wort „Drach”, das nie als „Dragg” ausgesprochen wird. Wir müssen deshalb annehmen, dass unser Bergname „Draggaberg”, sowie „Draggaloch” (statt Drachenhöhle) nicht deutschen, sondern romanischen oder noch älteren Ursprunges ist, und daher auch in dieser Form geschrieben werden sollte. Die Wand, die den Draggaberg wie ein Gürtel umgibt, heisst nach ihrer Farbe die „Gähl Wand”. Von ihr hat die darunter liegende Schafalp den Namen „Gelbberg” oder „Gelbaberg” erhalten.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

Draggaberg und Draggaloch. Im Jahrbuch IL, pag. 179, habe ich der Vermutung Raum gegeben, daß diese Namen statt der auf dem topographischen Atlas eingeführten „ Drachenberg ” und „ Drachenhöhle ” nicht deutschen, sondern romanischen Ursprunges seien. Carigiet, P. Basil, Rätoromanisches Wörterbuch, erwähnt dracca — starker, anhaltender Regen. Demnach könnte dracca auch ein beständiges oder starkes Heruntertropfen, und Draggaloch kurz ein feuchtes oder nasses Loch bedeuten. Ein solches Loch ist unser Draggaloch, besonders die zweite und dritte Höhle, sowie der Verbindungsgang zwischen den einzelnen Höhlen, was jeder Besucher des Draggaloches bezeugen kann. Die Schreibweise „ Draggaloch ” und „ Draggaberg ” erscheint mir daher gerechtfertigt. Dafür spricht auch der Umstand, daß im Taminatale das Bestehen einer Drachensage, die sich gewiß an eine „ Drachenhöhle ” knüpfen müßte, weder für die Gegenwart noch für die Vergangenheit nachgewiesen werden kann.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1916)

Pizol:

1836 Monte Sol (deutsch Sonnenberg) als Name des höchsten der „grauen Hörner”, die bisher in der von uns angeführten Literatur keine anderen Namen aufweisen. Dieser Name bildet das Seitenstück zu dem bereits erwähnten Namen Monte Luna (Mondberg). Beide Namen (und wahrscheinlich auch der Name terra sola = Tersól) sind offenbar dem Lateinischen entnommen und vermutlich von Pfäferser Klostergeistlichen aufgestellt worden, nach welcher Seite hin sich besonders der Monte Luna auffällig präsentiert. Doch scheint es, dass der Name des Monte Sol, der mit keiner Alp in näherer Berührung steht und daher in früherer Zeit den Menschen wenig Interesse bot, ziemlich wenig gebraucht wurde oder bei wenigen damit bekannten verborgen blieb. In den Schriften über die Heilquelle zu Pfäfers vom Jahre 1822 und 1861 sind neben dem „Monteluna” nur die „grauen Hörner” ohne „Monte Sol” oder „Piz Sol” erwähnt. Auch der Geologe A. Escher von der Linth kannte nach Fr. Becker den Berg nur unter dem Namen „Grauhorn”. Die topographische und die Zieglersche Karte brachten dann den alten Namen Monte Sol in der neuen, romanisch klingenden Form „Piz Sol”, ebenso J. v. Tschudi, Theobald und der touristische Erstersteiger des Berges, Frey-Gessner. In dieser Form ist dann der Name in der Literatur mit wenigen Ausnahmen bis heute erhalten geblieben, obschon unsere neueren Karten wahrscheinlich infolge falsch verstandener Aussprache des Namens dafür die ohne Zweifel unpassende Bezeichnung „Pizol” einführten. Wer an einem klaren Wintermorgen, wie wir es schon des öftern getan haben, von Vättis nach Pfäfers wandert und den rosafarbenen Morgenglanz der Wintersonne zuerst an unserer Bergspitze und dann allmählich erst an den niederen Hörnern leuchten sieht, der versteht, warum dieser Berg seinen „grauen” Namen nicht mehr länger tragen, sondern „Sonnenberg”, „Monte Sol” heissen wollte; der versteht auch, warum das Tälchen oberhalb der Alp Zanei mit dem scharf hervorstehenden Gratrücken des „hinteren Zaneihorns”, der im rosigen Morgenlichte leuchtet, wenn seine Umgebung noch lange im Schatten liegt, „Sonnental” genannt wurde.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1913)

MonteSol — MonteLuna — Tersol.

Zur Bekräftigung meiner Vermutung, dass diese drei Namen dem Lateinischen entnommen sind und seinerzeit von den Klostergeistlichen von Pfävers aufgestellt wurden, sei beigefügt, dass die Grenze der ehemaligen Herrschaft Pfävers von der Saar in die Grauen Hörner also wohl auch zum jetzigen Piz Sol, von dort dem Tersolbache entlang zur Tamina, dieser entlang nach Sardona und von hier durch den Ebnebach auf den Hauptkamm des Ringelgebirges etc. verlief. Der Monte Luna lag demnach ganz, der Piz Sol, bzw. Monte Sol und das einsame Tal Tersol teilweise auf Pfäverser Gebiet. Das Kloster hatte also ein Interesse für diese Örtlichkeiten, wie das heute noch jeder Bauer für seine „Marchen” besitzt. Die Annahme liegt also nahe, dass es solchen, bisher vielleicht unbenannten Marchpunkten, wie dem Monte Sol und anderen nennenswerten Örtlichkeiten seines Gebietes, eigene Namen gab, und hierfür das bei den alten Klöstern beliebte Latein verwendete, also Monte Sol, Monte Luna, Tersol, vielleicht auch Via dura (Vadura), campus (Gams) und andere Namen, die uns heute romanisch entgegenklingen, schrieb. Geistliche des Klosters Pfävers besorgten auch die Pastoration von Vättis und mussten bis zur Erbauung eines besonderen Pfarrhauses daselbst den Weg von Pfävers nach Vättis auch im Winter des öftern unter die Füsse nehmen. So kam es wohl, dass denselben unser heutige Piz Sol, besonders an Wintermorgen, gar oft als Sonnenberg (Monte Sol), das Tälchen am Nordfusse des grossen Zaneihorns als Sonnental erschien. Möglicherweise ist das letztere auch von anderen und später so genannt worden. Der Monte Luna aber zeigt sich schon von Pfävers aus, besonders in winterlicher Mondnacht, in seiner vollsten träumerischen Pracht, die wohl den Anlass zu seiner jetzigen Benennung gab.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1916)

Wildsee.

Dieser Name des bekannten Sees in den „grauen Horen” rührt ohne Zweifel von der im Taminatale durch die alten Jäger verbreiteten und vererbten Sage her, dass der See beim Heranziehen eines „Wetters” und während desselben sich wild gebärde, aufschäume und „wellne”, brülle und donnere, dass man es weit herum hören könne. Dann sei es nicht geheuer in diesen Bergen, Geister spuken herum und dergleichen. So ist der Name Wildsee ein Denkmal für die vielen immer mehr verschwindenden Geister- und Bergmannlisagen, die einst fast alle unsere Alpen und Maiensässe bevölkert haben und Zeugnis ablegten für das Naturempfinden und den poetischen Sinn unserer Altvorderen.
(Quelle: SAC Jahrbuch 1916)

(Verfasser: Friedrich Wilhelm Sprecher)

Geschichtliche Würdigung der Rhätikonpässe

Zahlreiche Pässe verbinden das Prättigau mit dem Montafun. Doch dienen dieselben nur in beschränktem Masse dem Verkehr zwischen hüben und drüben; Schmuggler, Jäger und Touristen sind beinahe die einzigen, welche sie noch benutzen. Doch hat es Zeiten gegeben, da wohlbewaffnete Heeresabteilungen herüber- und hinüberzogen; …

Von Ganey gelangt man in nördlicher und nordöstlicher Richtung in die Seewiser Alpen Fasons und Vals und zur Scesaplanahütte auf Tanuor; gegen Westen kommt man nach Stürvis und weiter ins Fläschertal mit seinen lieblichen Seen. An Steller der Alphütten von Stürvis war vor Zeiten ein von 15 Walserfamilien bewohntes Dörfchen. … Sererhard schreibt von Stürvis: «Als ich hieher (nach Seewis, im Jahr 1716) kommen, war noch an dem Kirchlein das halbe Tach und ganze Gewölb zu sehen, so aber jetzund eingegangen und ganz zerfallen ist. Die Häuser waren den Gütern nach zerstreuet. Der Maienfelder Capellan musste zu gewissen Zeiten hineinkommen, Mess zu halten. Der Ort liegt drei gute Stund ob Maienfeld.»

Aus den Maienfelder Alpen Stürvis und Eck kommt man in westlicher Richtung ins Fläschertal mit seinen drei Seelein; rechts erheben sich Grauspitz und Falknis, links das Gleckhorn. Der oberste der drei Seen ist der grösste, unergründlich tief, und wer seine Tiefe messen will, erregt den Zorn der Berggeister. Die Sage erzählt: Ein ruchloser Hirt sprengte einmal eine Kuh in den See. Dieselbe verschwand alsbald auf Nimmerwiedersehen in der Tiefe des nassen Elementes, und erst nach Jahren kam die Glocke des Tieres im Katharinenbrunnen bei Balzers zu Tage. Der böse Hirt aber sucht in Gewitternächten die Kuh aus den empört aufschäumenden Fluten zu ziehen und erschreckt Vorübergehende durch sein Stöhnen und Jammergeheul.

(Quelle: Alpina 1909. Aus einem Vortrag von Herrn Reallehrer Thöny)

Geier-Jäger in den Churfirsten

Auf den Churfirsten in der Nähe von Ammon wurde der Geier früher öfter auf der Beize geschossen. Jede andere Jagd, selbst wenn der Horst ausgekundet ist, ist höchst unsicher. … Manchmal gelingt es den kühnen Söhnen des Gebirges, sich der jungen Geier im Neste zu bemächtigen, – eine mühsame, lebensgefährliche Arbeit, da die Vögel an furchtbar steilen und wilden Felsen horsten und ihre Brut ebenso wüthend als hartnäckig vertheidigen. … Der berühmte Gemsenjäger Josef Scherrer von Ammon ob dem Wallensee erkletterte barfuss mit der Flinte auf dem Rücken einen Geierhorst, in dem er Junge vermuthete. Ehe er denselben erreicht hatte, flog das Männchen herbei und wurde durchbohrt. Scherrer lud die Flinte wieder und kletterte in die Höhe. Allein beim Neste stürzte mit fürchterlicher Wuth das Weibchen auf ihn, packte ihn mit den Fängen an den Hüften, suchte ihn vom Felsen zu stossen und brachte ihm tüchtige Schnabelhiebe bei. Die Lages des Mannes war entsetzlich. Er musste sich mit aller Gewalt an die Felswand stemmen und den alten Geier abwehren, ohne die Flinte aufnehmen zu können. Seine ausserordentliche Geistesgegenwart rettete ihn aber vor dem sicheren Verderben. Mit der einen Hand richtete er den Lauf der Flinte auf die Brust des an ihm haftenden Vogels, mit der nackten Zehe spannte er den Hahn und drückte los. Der Geier stürzte todt in die Felsen hinab. Für die beiden alten und die zwei jungen Vögel erhielt der Jäger vom Untervogte in Schännis – fünf und einen halben Gulden Schussgeld. Die tiefen Wundmale am Arm aber behielt er sein Leben lang.

(Quelle: Das Thierleben der Alpenwelt. Friedrich von Tschudi. 1856)