…Wattwyl, dicht am westlichen Fuss des Hembergs am Thurflusse gelegen, ist eine der volksreichsten Gemeinden Toggenburgs. Gerade gegenüber erblickt man das Weiberkloster St. Maria, und etwas höher ein altes Schloss Iberg, das einzige, welches von den 19 Adeligen, deren Reste durch das Toggenburg zerstreut liegen, noch erhalten steht. Das Thal ist nicht weit, aber anmuthig, munter, von allen Seiten mit hohem Gras und baumreichen Bergen umgeben, und belebt von zerstreuten Wohnungen. Südostwärts läuft es sich krümmend 6 Stunden hinan bis an die Felsengrenze von Sax und Gambs, und trägt überall den Charakter der Alpen und Gebirgsnatur. …
Die Landschaft Toggenburg bildet ein einziges 12 Stunden langes Thal, welches die ganze Abendseite des Kanton Appenzell umfasst. Die Thur durchfliesst es in seiner ganzen Länge, und nimmt während ihres Laufs noch einige zwanzig Gebirgswasser auf, welche von allen Seiten herabströmen. Das Thal selbst ist schmal, aber mit seinen Bergen erhält das Land die Breite von 3 bis 5 Stunden. Die Kalkgebirge der Säntiskette umschliessen Toggenburg von Osten nach Südwesten, und scheiden es sowohl von dem breiten Rheinthale, als auch von dem Wallenstadter-See, welcher in schwarzer Tiefe die nackten Füsse der grausenden Felsen bespült, welche ihre kahlen grauen Scheitel von den sieben Kuhfirsten an bis zum Speer über die breiten Alpen Toggenburgs empor starren. Der höchste Gipfel dieses ganzen Gebirgsstosses erhebt sich gerade hinter Wildhaus, das höchste und letzte Dorf im Thurthale. Der Säntis lässt sich von hier in 5 Stunden ohne Gefahr und Mühe erklimmen, und in einer guten Stunde steigt man auf einem sehr holperigen Steinwege von Wildhaus ins Thal nach Gambs nahe bei Werdenberg herab. …
… Das Hochgebirge trägt weder Gletscher noch nimmer schmelzenden Schnee; doch sind es nur wenige Wochen im hohen Sommer, während welchen die höchsten Hörner ihren glänzenden Mantel verlieren. Fast zwei Drittheil Toggenburgs ist Alpenland, wo das Auge nichts als Weiden und Tannen oder Buch-Waldungen erblickt. In dem engen Wiesenthale längst der Thur liegt ein Dorf nahe an dem andern, die breiten Berggelände sind von einzelnen Wohnungen, Häusergruppen und schönen Obstbäumen besetzt, und das Ganze bietet muntere und heitere Ansichten dar, welche bei günstigem Spiel von Schatten und Lichtwürfen sehr malerisch werden. …
Das obere Toggenburg kann ungefähr eben so viele Kühe überwintern, als auf dessen Alpen und Weiden übersömmert werden. Die Weidgänge im Gebirge sind in Stossalpen und Voralpen eingetheilt. Stossalpen werden diejenigen genannt, welche einem Districkt, einem Dorf oder gewissen Geschlechtern ausschliesslich gehören; auf diesen können 9000 Stück Hornvieh den Sommer über geweidet werden. Voralpen sind Gemeintrifften, auf welche jeder Hausvater eine bestimmte Anzahl Vieh treiben kann; ungefähr 3000 Stück Rind sollen auf diesen Weiden Sommerfutter finden. Von den Gemeinalpen zogen von jeher die Bewohner des obern Thurthales den grössten Nutzen, weil die Unterthurthaler zu weit entlegen davon wohnten; der Dürftige, welcher kein Vieh besass, wie es deren viele hunderte giebt, hatte gar keinen Vortheil von diesem Eigenthum, welches von der Weisheit der Vorältern doch hauptsächlich zur Erleichterung der ärmern Mitbürger bestimmt ward. Dies mögen wohl die Gründe gewesen sein, welche es endlich dahin brachten, dass 1786 diese Gemeintrifften unter alle Kirchenspiele des ganzen Toggenburgs vertheilt wurden. Die meisten Gemeinden des untern Thurthales haben seitdem ihre ihnen zugefallenen Theile an die Bergtoggenburger verkauft oder verpachtet. Ob diese Vertheilung dem Gemeinbesten des Landes Schaden oder Nutzen gebracht habe, darüber konnte ich nichts erfahren, doch sollen die armen Bürger dabei nichts gewonnen haben. Die Alpenwirthschaft, Viehzucht und Wiesenkultur werden ganz wie im Appenzell getrieben. Mehr wie 20 bis 30 Kühe überwintern die reichsten Sennen nicht, und es giebt wenige, welche für eine solche Anzahl Winterfutter besitzen. Die Menge der Ziegen ist gross; alle armen Familien, welche keine Kühe kaufen können, oder nur sehr wenige besitzen, halten einen Haufen Ziegen, welche der junge Knabe zwischen Felsen und an unwegsamen Oertern hüten muss, während die Aeltern am Spinnrade und Webstuhle arbeiten. Die Ziegenmilch wird theils so verkauft, theils Käse daraus bereitet, theils zum Aufziehen der Kälber benutzt. Die Viehzucht war immer der einzige Nahrungszweig der Einwohner des obern Thurthales, und dessen Alpen, Trifften und Wiesen ernähren einen so ansehnlichen Viehstand, dass die Bergtoggenburger bei einfacher Lebensart ein wohlhabendes Hirtenvolk bildeten. Die jetzige Bevölkerung hat jenes Verhältnis zerstört, welches ehemals zwischen dem Produkt des Alpenlandes und seiner Bewohnerzahl stattfand, und Toggenburg würde ein Gemälde des grässlichsten Elends darstellen, wenn alle dessen Kinder von den Früchten ihres vaterländischen Bodens ernährt und erhalten werden sollten. Appenzells Industrie theilte sich allen Nachbarn mit, und weckte besonders die Thätigkeit des protestantischen Bergtoggenburgers, welcher unter seinen Landsleuten zuerst und mit Eifer einen neuen Erwerbszweig ergriff. Hiermit begann neues Leben. Flachs- und Hanfgespinnst und Leinwandweberei verbreiteten sich überall, und bahnten der Mousselinfabrikation den Weg, welche aus dem reformierten Appenzell sehr schnell zu den fleissigen Toggenburgern überging. Der grössere Gewinn, welchen Spinner und Weber bei Verarbeitung der Baumwolle fanden, bewirkte dasselbe Resultat wie im Ausserroden, und schuf die Einwohner Toggenburgs zum Fabriksvolke um. Die Leinwandverfertigung ist dergestalt gesunken, dass das Verhältnis der Baumwollen-Fabrikate zu denen aus Flachs und Hanf wie 10 zu 1 sein mag; Baumwolle hingegen wird in allen Häusern gesponnen und gewoben, und die Menge der kleinen und grossen Händler mit Baumwollgarn und Mousselin ist ausserordentlich. Doch giebt es im Toggenburg keine ähnlichen Kaufmanns-Häuser wie im Ausserroden und in der Stadt St. Gallen, für deren ausgebreiteten Grosshandel die ganze Volksmenge Toggenburgs hauptsächlich arbeitet; die Kaufleute der Kantone Glarus und Zürich ziehen nur sehr wenig aus dem Thurthale. Die Folgen dieser thätigen Industrie auf Bevölkerung, Reichthum, Armuth und Sitten zeigen sich hier fast eben so auffallend als in dem reformirten Appenzell. …
Seitdem Toggenburgs Bewohner die Wolle eines indischen Strauches spinnen und weben, sind Lebensart und Sitten des Hirtenvolkes verschwunden. Kaum der vierte Theil der Einwohner beschäftigt sich jetzt mit Alpenwirthschaft. Statt dem fröhlichen Jauchzen und der Gesang des Kuhreihen tönt überall das Schnurren des Rades und das Stossen des Weberstuhls. Die Spiele und Feste der kraftvollen Aelpler, wo sie sich im Ringen, Laufen, Steinstossen übten, sind fast gänzlich in Abnahme, und wer sich noch auf seine Stärke und gymnastische Geschicklichkeit etwas zu gute thun will, wird für grob und dumm gehalten. Das Fabrikwesen hat seit 30 Jahren grosse Summen Geldes ins Thurthal geführt, die Volkszahl ausserordentlich vermehrt, und Berg und Thal mit neuen Häusern gefüllt. Die Waldungen sind durch den grössern Verbrauch des Bauholzes und durch Ausreutung vermindert, und die Grundstücke ausserordentlich zerstückelt worden. Ein Dritttheil der Einwohner muss jetzt das nöthige Bauholz kaufen, und eine Menge von Familien können aus den wenigen Wiesen und Weiden, die ihnen gehören, ohne Spinnerei unmöglich leben. Tausende giebt’s, welche nichts vom vaterländischen Boden besitzen als ihr hölzernes Obdach. Alle diese Familien treiben das ganze Jahr nichts weiter, als am Spinnrad oder hinterm Webestuhl zu sitzen. Mit den verfertigten Garn- oder Mousselinstücken läuft der Vater bei den Grosshändlern in Ausserroden und St. Gallen umher, sucht sie so hoch als möglich zu verkaufen, für das Gelöste seine Schulden zu bezahlen, und auf neuen Kredit rohe Baumwolle zurückzunehmen. Ist er weniger bedürftig, so überlässt er diese Mühe Kleinmäklern, welche die ihnen anvertrauten Fabrikate zu verschleissen suchen. Toggenburg liefert einen grossen Theil des Baumwollengarns, woraus die Appenzeller Mousseline verfertigen, und im Ganzen beschäftigen sich die Thurthaler mehr mit Spinnen als mit Weben. Die in der Landschaft umlaufende Geldsumme ist nicht so beträchtlich wie in Ausserroden, und die Preise aller Gegenstände sind nicht ganz so hoch wie dort, aber höher als in dem Innerroden. …
Die Produkte der Alpenwirthschaft, gegen welche ehemals der Obertoggenburger alles, was ihm mangelte, eintauschte, werden durch die vermehrte Menschenzahl in solcher Menge verbraucht, dass sich die Ausfuhr, und daher auch das Kapital, was jährlich dafür ins Land gebracht wurde, gar sehr vermindert haben. Die Preise aller Gegenstände sind gestiegen und neue Bedürfnisse unentbehrlich geworden. Das Wein- Branntwein- und Kaffeetrinken hat seit der Mitte dieses Jahrhunderts so zugenommen, dass bloss für diese Getränke jährlich weit über 100,000 Gulden aus dieser kleinen Landschaft gehen. Bei Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnissen wird viel geschmaust und getrunken. Das Ansehen der Aeltern ist geschwächt worden, und die Töchter streben frühzeitig sich unabhängig zu machen, um aus dem Gewinnst ihrer Spinnerei der Eitelkeit zu fröhnen. Das Aussetzen neugeborner Kinder auf Strassen, an Häuser und Ställe ist nicht so selten, und die Bettelei hat im Ganzen einen hohen Grad erreicht. Gross ist freilich die Menschenzahl, welche jetzt in Toggenburgs Bergen lebt, gross der Reichthum, welcher über dieses einfache Hirtenland geströmt ist; auch gross der frohe unverkümmerte Lebensgenuss, auch gross die Zahl der Zufriednen und gegen das dringendste Bedürfnis geschützten Menschen? O! leider keineswegs. Der Wohlstand ist nicht gleich vertheilt, Reichthum wohnt bei einem kleinen Theile, und drückende Armuth beim grössten Haufen, der bei jedem Schwanken des Mousselinabsatzes mit steter Sorge kämpft, bei der Ungewissheit seines Nahrungserwerbs nie zu einem harmlosen Leben gelangt, und in tiefes Elend stürzt, so bald die Quellen seines Fabrikhandels langsamer fliessen oder gar stocken. Die Reichen führen kein glücklicheres Leben, denn mit dem Geldüberfluss sind Aufwand, neue Bedürfnisse aller Art, Eitelkeit, Ungenügsamkeit mit allen ihren Plagen bei ihnen eingezogen. Die üblen Folgen eines gewinngebenden Handels auf Lebensgenuss und Moralität zeigen sich hier im merkbarern Grade als im reformirten Appenzell, nicht weil die Kunst, erworbnen Reichthum würdig zu gebrauchen, dort besser geübt würde – denn wo wird diese Kunst gelehrt und geübt? sondern weil die politische Verfassung Toggenburgs ganz verschiedner Natur ist. …
Die bürgerlich-politische Lage der Einwohner des Thurthales ist nicht die nämliche wie bei ihren Nachbarn. Der Appenzeller geniesst einer demokratischen Verfassung, der Toggenburger lebt in einer beschränkten Monarchie; jener ist freier Bürger und Glied des Souverains, dieser Unterthan eines geistlichen Fürsten. …
Die Appenzeller wohnen hoch an Bergen, luftig und sonnig; die Toggenburger weit niedriger in einem langen engen krummen Thale von hohen Bergen umgeben, und viele Tausende von ihnen sind Feldbauern und keine Gebirgsleute. …
Sehr glücklich vereinigen sich zwar Viehzucht und Ackerbau in dieser Landschaft, um dessen Bewohnern die ersten wichtigsten Lebensbedürfnisse und damit eine ökonomische Unabhängigkeit zuzusichern, deren sich sehr wenige Theile der Schweiz erfreuen. Des flachen Toggenburgs reiche Ernten sollen, so wollte es das Schicksal, die ganze Volksmenge mit Getreide versorgen; allein sie sind ein Eigenthum der heiligen Diener des Himmels geworden, und diese können sich nicht mit dem ökonomischen und bürgerlichen Wohl der sündigen Welt beschäftigen. Die genannten Klöster ziehen jährlich an Zehenden und Lehnzinsen von ihren Meierhöfen so viel Getreide aus der Landschaft, dass der Toggenburger seit Jahrhunderten gezwungen ist, das meiste ihm nöthige Brodkorn aus Schwaben zu kaufen. …
Dieser kurze Abriss zeigt zur Genüge, wie viel den Toggenburger seine fürstliche Regierung kostet, und welch ein auffallender Unterschied zwischen der bürgerlichen Lage des Appenzellers, und des unterthänigen Toggenburgers obwaltet. Nothwendiger Weise kann dieses Völkchen unerachtet aller Industrie und Thätigkeit, doch eines gleichen Reichthums wie Appenzell, Ausseroden, nie geniessen. Eine übergrosse Anzahl seiner Bürger muss güterlos sein, weil viele und kostbare Grundstücke in den todten Händen der regierenden Abtei und anderer Klöster liegen; allgemeiner Wohlstand wie in Appenzell kann nie stattfinden, und die Menge der Dürftigen, und der Bettler muss grösser sein als dort. …
Ich kann nicht umhin, hier eines Toggenburger Landmanns Erwähnung zu thun, dessen von ihm selbst geschriebene Lebensgeschichte (Lebensgeschichte und natürliche Abentheuer des armen Mannes in Toggenburg, herausgegeben von H. H. Füssly. Zürich, 1789.) vor einigen Jahren, wenigstens in der Schweiz, mit Antheil gelesen wurde. Dieses armen Mannes Bekanntschaft habe ich gemacht, ihn zu wiederholten Malen gesehen und herzlichst lieb gewonnen. … Bräcker, in der Jugend ein armer Hirtenknabe, im Alter ein armer Mousselinweber, …. Lesen und Schreiben war ihm Bedürfnis geworden; er griff nach jedem Buch, welches der Zufall in seine Nähe brachte, und schrieb, so oft es ihm möglich war, alles nieder, was in seiner Seele vorging. … Von seinen Landleuten wird er Bücherfresser genannt, und wenige wissen ihn nach seinem Werth zu schätzen. …
Die Landstrassen durch ganz Toggenburg sind breit und sehr gut unterhalten, welches in einem Berglande äusserst kostspielig ist. Bis 1780 waren hier keine anderen Wege als für Fussgänger, und alle Lasten, welch aus- oder eingeführt wurden, mussten von Pferden getragen werden. Die Menge des Geldes, welches der Handel verbreitet, setzte endlich die Gemeinden in den Stand, auf ihre Kosten die Anlegung grosser Strassen zu unternehmen und auszuführen. Von allen Seiten, ausgenommen von Wildhaus her, führt der Toggenburger die Bedürfnisse des Landes auf Lastwagen ein. Von Wildhaus führt ein sehr übler Felsenweg nach Gambs ins breite Rhein- und Werdenberger Thal herab, und wäre dieser kurze Strich erweitert und zum Fahren eingerichtet, so müsste Toggenburg ausserordentlich dabei gewinnen; allein bisher widersetzten sich der Eröffnung dieser Strasse die Privatvortheile der Nachbaren.
(Quelle: „Schilderung des Gebirgsvolkes“, 1802, Johann Gottfried Ebel)