Thurgegenden

… Zunächst fällt dem Beobachter das durch einen fetten Moorgrund, das Münzenried genannt, westlich sich schlängelnde Gewässer auf; es ist die Thur, welche rechts bey jener kleinen Tanne den Ursprung hat. … Sie fliesst in westlicher Richtung dem Alt St. Johanner-Thale zu und bekommt ihren ersten Zuwachs aus der freyen Alp unter dem Namen Tobbach, den zweyten vom Fusse des Kaiserrucks aus den Weyern von Hinter-Seba (rhätisch), den dritten unter dem Namen der kalten Thur aus der Thurwiese in der Alp Gämplät (Campus Intei), und den vierten unter dem Namen Starkenbach unweit dem Starkenstein, wo sie auch das stille Thälchen von Alt St. Johann verlässt. … so nimmt die Thur hier einen wilden brausenden Lauf und stürmischen Charakter an, bis sie bey Ebnat … ihren frühern glatten Lauf wieder fortsetzt. Gerade darum, weil die Thur aus der Kalksteinformation in die Nagelfluh- und Sandgebilde übergeht und sie durchschneidet, so findet der Geognost an den Ufern der Thur reichen Stoff zu Untersuchungen. – Nur etwas östlich vom Ursprunge der Thur fängt das Gelände an, sich gegen den Rhein hinunter zu senken. – Auf der sonnigen Höhe liegt das Dorf Wildhaus mit seinen ordentlichen Kirchen und einigen guten Wirthshäusern. … Sie liegt in einem sehr angenehmen Hochthale, südlich durch die sieben Kurfürsten und die daran stossende Schollbergkette vom Wallensee und dem Sarganser-Lande, nördlich durch die Säntiskette vom Kanton Appenzell getrennt. … Hier werden jährlich auch 2 Jahrmärkte gehalten. – Ist einmal der nicht mehr nur bloss im Plane liegende, sondern jetzt äusserst thätig betriebene Strassenbau durch das Toggenburg und besonders die Fahrbahrmachung des Passes in’s Rheintal gegen den Schollberg hin ausgeführt, so wird dieser Ort seiner hohen Lage ungeachtet, ungemein sich heben. …

… Ueber der Thur ist die Strasse von Wildhaus nach Alt St. Johann und weiter in’s Toggenburg hinabführend. Links erhebt sich aus dem schmalen Thalgrund die Berghalde der Kurfürsten, Herrenwald genannt; ein Wald, der in ältern Zeiten zu den Klostergütern gehörte; dann eine Domaine des Kantons St. Gallen wurde, in neuerer Zeit aber an Holzhändler verkauft und jetzt gänzlich abgeholzt wird. … Unter den übrigen Gebäuden des Dorfes ((Alt St. Johann)) zeichnet sich besonders das Wirthshaus Rössli aus. Die übrigen Wohnungen der Gemeinde sind meistens an den Berghängen zerstreut, welche, von den Abendsonne leuchtend, eine liebliche Landschaft bilden. – Die Bewohner dieser Gemeinde, so wie von Wildhaus leben noch fast einzig von dem Ertrag ihres Bodens, von Viehzucht und Alpenwirthschaft. …

… Unter dem Dorfe Alt St. Johann breitet sich im Thalgrunde die Häusergruppe Starkenbach aus. Hinter derselben erheben sich die Ruinen der alten Burg Starkenstein (gewöhnlich nur Burg genannt) … Hier befindet sich eine sehr beschwerliche Strassenstrecke, welche nun bey dem neuen Strassenbau durch’s Toggenburg von der Gemeinde Alt St. Johann beträchtlich verbessert wird. … Bey Alt St. Johann sprudeln mehrere sehr starke Quellen hervor, welche aus dem Weiher in der Alp Gräppelen den Ursprung haben mögen. …

In überraschender Aehnlichkeit erheben sich die Kurfürsten von Osten gegen Westen. An denselben aus dem Alt St. Johannerthal hinan finden sich die trefflichsten Waldungen und Viehalpen, wie z.B. die Alpen Iltios, Seelmatt und Selun. Einige dieser Kolosse können sogar bis zur höchsten Kuppe von dem Vieh abgeweidet werden, obschon sie von Norden her ziemlich kahl erscheinen. Der Zustoll und Frümsel lassen sich dagegen nur von geübten Alpenwandrern ersteigen. Diese sieben im Sonnenglanz vergoldeten Häupter werden bey hellem Wetter nicht nur in der nördlichen Schweiz sondern sogar weit in Deutschland hinaus erblickt. – Der östlichste von ihnen nennt man den Kaiserruck (Castra Caesaris). Auf diesem leicht und ganz gefahrlos zu besteigenden Berge (7123’) geniesst man eine der erhabensten Fernsichten in die Bündner- Glarner – Tiroler Gebirge und Eisfelder. Gerade zu seinen Füssen erblickt man das Städtchen Wallenstadt und den obern Theil des blaugrünen beständig tosenden Wallensees. Das den 23. Augustmonat 1445 dem räuberischen oestreichischen Hauptmann, Grafen Wilhelm von Werdenberg-Sargans hier gelieferte Treffen gab einer Gegend auf diesem Berge den Namen Schlachtboden und lange hernach wurden noch zerbrochene Waffen gefunden. Die mündliche Tradition dieses Treffens hat sich sogar bis auf unsere Zeiten erhalten. Allein von einem römischen Wachtposten und dem daher abgeleiteten Namen Castra Caesaris weiss man nichts Bestimmtes.

Der zweyte, durch einen schmalen, geognostisch sehr merkwürdigen Bergrücken mit dem ersten verbunden, heisst der Hintere Ruck. Von diesem an sind die Verbindungen herausgerissen und jeder der übrigen fünf Kurfürsten, steht isoliert auf dem an der Südseite sogenannten Ochsenkamm. –

Der dritte gegen Westen ist der Scheiben-Stoll; der vierte durch sein rundliches Haupt ausgezeichnet, der Zustoll; der fünfte breitschultrig ist die 7160’ hohe Brisi; der sechste zuckerhutförmige ist der Frümsel und endlich schliesst die Reihe der 6883’ hohe Seluner-Ruck, an dessen östlichen Seite das merkwürdige Wildemännleins-Loch befindlich ist.

Weiter nach Westen hört nun alle Regelmässigkeit ganz auf. Je mehr sich der Uebergangs-Punkt in die Nagelfluhformation gegen den 6625’ hohen Speer hin, nähert, desto mehr zeigt sich chaotische Wirrung.

In der Nähe von Neu St. Johann sind auch häufige Spuren von Steinkohle-Legern bemerkenswerth. Gegenwärtig macht ein unternehmender Privatmann den Versuch dieselben zu Tag zu fördern. Er ist schon bey 100’ eingedrungen. Schade, dass sein wichtiges Unternehmen noch nicht mit hinreichendem Erfolg gekrönt worden ist.

(Quelle: Schweizerische Ansichten aufgenommen im Osten und Norden unsers Vaterlandes. Von Johann Baptist Isenring, Landschaftsmaler. Lütisburg im Toggenburg, 1825. Erste Sammlung: Thurgegenden. Eine Sammlung malerischer Landschaften an und in der Nähe der Thur. Mit naturhistorischen, geschichtlichen und geographischen Erklärungen und Bemerkungen)

In der Churfirsten-Alvierkette

… Fährt man etwa zur Zeit der Schneeschmelze oder nach ausgiebigem Regen von Weesen nach Walenstadt, so fesselt der Absturz der Churfirsten dermassen den Blick, dass man für anderes schwerlich Augen hat. Zahlreiche Wasserfälle flattern in silberweissen, schäumenden Bändern über die hohen Felsen hinunter, und darüber tront in unbeschreiblichem Reiz die malerische Zackenreihe der Kreidegipfel. Schon vom Thall aus erkennen wir die Schichten; wir sehen den Seewerkalk der westlichen Gipfel verschwinden, bewundern die mächtige Schrattenkalkwand des breiten Brisi, den kühngebauten Zustoll mit seinem fast in Form eines Kreissegmentes angeschnittenen Käppchen von Aptien,, sodann die gewaltige, gleichsam behaglich in träger Ruhe daliegende Masse des Hinterruck-Rosenboden, welchen Gebirgsteil die Flumser Clubisten scherzhaft die «Lokomotive» nennen (das Kamin ist der trotzige Tristenkolben), wir erkennen den Südwestanschnitt der Glatthaldenfalte und verfolgen immer wieder mit Staunen die prachtvolle Muldenbiegung des Sichelkammes. …
(Quelle „Bericht über die Thätigkeit der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft während des Vereinsjahres 1894/1895“ St. Gallen. Zollikofer’sche Buchdruckerei, 1896)

… denn was ich bieten kann, ist keineswegs ein geologischer Vortrag, sondern mehr nur ein Konglomerat von Bemerkungen über ein Gebiet, das ich allerdings mit Vorliebe begangen habe. …Diese Gegend ist von hohem Interesse für den Botaniker, wie für den Geologen; nicht weniger befriedigt wird der Wanderer sein, welcher nur schöne Aussicht geniessen will. Auch der Freund des Klettersports findet hier Felsgerüste für seinen Thatendrang, und nur der Gletschermann wird seine Tummelplätze vermissen. …

Die Churfirsten-Alvierkette ist ein typisches Kalkgebirge. Da wechseln harte, feste Kalke mit weicheren, leicht verwitternden tonigen und mergeligen Schiefern. Der reiche Wechsel von verschiedenen Gesteinsstufen macht sich schon in der Terrassierung des Gehänges bemerkbar. Die harten Kalke bilden hohe, steile Wände; die weicheren, schiefrigen Schichten dagegen ertragen nicht so steile Böschung; als sanfter geneigte, mit Vegetation oder Schutt bedeckte Verwitterungsterrassen treten sie im Profil des Berges hervor, das sich als eine gebrochene Linie darstellt. Die Verwitterungsterrassen sind, im Gegensatz zu den Erosionsterrassen, niemals horizontal. Der Bergbewohner braucht für sie die Namen «Gang, Band, Schnur» etc. Daher rühren Bezeichnungen, wie «schwarzer Gang, roter Gang, schwarze Schnur, Rosschnur, in den Schnüren, auf den Bändern». Für die Erosionsterrassen findet man dagegen, jedoch ohne dass hier eine strenge Unterscheidung geübt würde, mehr die Namen «Boden, Bödeli, auf dem Stein» etc. …

Das Gebirge ist ausgezeichnet durch seine sehr bedeutende relative Höhe. Aus der Region des Maises und des Weinstocks schwingt es sich auf zu den mit alpiner Flora gezierten Gebirgskämmen, die in ihren höchsten Erhebungen (Faulfirst und Gemsberg) die Ebene des Rhein- und Seezthales um 1900m überragen. …

Das Wandern auf Karren ist überhaupt ziemlich unangenehm und mitunter gefährlich. Auf der einförmigen, im einzelnen aber unendlich vielgestaltigen Fläche geht’s fortwährend auf und ab, oft kriechend und kletternd, hie und da auf dem glatten Fels ausgleitend und sich die Hände verletzend oder auf schwankendem Polster durchbrechend und mit einem Bein in tiefer Spalte stecken bleibend. Dennoch wird man es nicht bereuen, einmal ein richtiges Karrenfeld besucht zu haben. Kleinere Karrenfelder liegen zwischen einzelnen der Churfirsten; dasjenige von Neuenalp ist aber von viel bedeutenderer Ausdehnung. … Die Karren werden auch Schratten genannt. Der Werdenberger nennt sie «Schrannen». … Das Karrenfeld und damit auch den Schrattenkalk verlassend, schreiten wir über unschwierige Gaultfelsen, die uns schon von weitem durch ihre bräunliche Färbung auffallen, hinauf auf eine sanft geneigte Fläche. Sie geht nach und nach in ein grosses Plateau über, das begrast ist und als Schafwiese dient. Dieser Gamserruck oder Gamsberg der Grabser darf wohl als eine sehr merkwürdige Bergform bezeichnet werden. Nicht leicht wird man in den Alpen in dieser Höhe (2060 Meter) ein so mächtiges Plateau als selbständigen Gipfelbau finden. Es hat fast elliptische Form und fällt als trotzige Feste in Felsstufen und Rasenbändchen nach allen Seiten steil ab, mit Ausnahme der Nordseite, wo es sich als Rücken über die Alp Gams gegen das Toggenburg hinunter senkt. …. Vom Gamserruck gelangt man über einen steilen, aber reichlich begrasten Abhang hinunter auf den Sattel zwischen Plisen und Schlewiz, dann aufwährts über das sanft ansteigende Gaultgelände des Schlachtbodens* an den Fuss der Rosenbodenfluh. Die Felsenwand, vor der wir jetzt stehen, lässt sich an mehreren Stellen leicht erklettern; sie ist gut gestuft und nicht so steil, wie sie aussieht. Nachdem wir sie bewältigt, stehen wir auf dem Rosenboden, einem langen, ziemlich breiten Grat mit üppigem Rasen. Dieser Grat erstreckt sich vom Kaiserruck bis zum Tristenkolben, einem trotzigen, plumpen Felskegel, der nach Osten steil in grosse Tiefe abfällt und von dieser Seite einen bemerkenswerten Eindruck macht. Der Rosenboden, den man übrigens gewöhnlich zum Kaiserruck rechnet, gewährt eine prachtvolle Aussicht, welche zwar etwas beschränkter, aber nicht weniger anziehend ist, als diejenige vom Alvier. … In dieser Gegend geriet A. Escher einst in eine rechte Klemme. Am 3. Oktober 1854 stieg er allein von Wallenstadt über den Lösispass und verwendete den ganzen Tag zur Aufnahme eines Profils des Tristenkolben und der Rosenbodenfluh. Am Abend wurde er von einem gewaltigen Gewitter überrascht und suchte am Gamserruck vorbei durch das Karrenfeld der Plisen herunterzukommen, fand sich aber in dem Chaos dieses wilden Karrenfeldes, in der merkwürdigen, an einen nordamerikanischen Canon erinnernden Schlucht fast nicht zurecht und gelangte erst in der Nacht, gründlich durchwaschen, nach Unterwasser. …

*An den Schlachtboden knüpft sich folgende Sage: Zur Zeit, als die Grabser und Toggenburger der Alpen wegen im Streite lagen, trieben einst die Toggenburger das Vieh in den Grabser Alpen zusammen, um es als gute Beute mit sich zu führen. Ein Senn, der sich rechtzeitig hatte retten können, gab mit gewaltiger Stimme vom Galferbühel aus den Grabsern Kunde von dem Überfall. Nachdem die in der Kirche anwesenden Bauern alarmiert waren, brachen sie sofort zur Verfolgung auf, erwischten auf dem Schlachtboden die Toggenburger, schlugen sie in blutigem Gefecht und nahmen ihnen das Vieh wieder ab. – Es sollen auf dem Kampfplatz Funde gemacht worden sein, die den historischen Hintergrund der Sage beweisen.

Es hat wenig Wert, die Frage zu diskutieren, wo die Grenze zwischen den Churfirsten und der Alviergruppe zu ziehen sei. Als natürliche Grenze bietet sich auf der Nordseite überhaupt der Thalkessel des Voralpsees, und es fragt sich nur, ob von hier aus die Linie über die Schlewizer Niedere oder über Naus und Gulms zu ziehen sei. …

Sehr auffällig zeigen sich in der Umgebung des Gamserruck, wie überhaupt in den Churfirsten, die Wirkungen der Erosion. Die Churfirsten sind ein schief aufgerichtetes Schichtensystem, und die Rücken der Nordseite waren früher eine zusammenhängende Gesteinsplatte von Seewerkalk, unter welcher in konkordanter Lagerung Gault, Schrattenkalk etc. folgen. Aber diese Gesteinsplatte ist durch die Erosion merkwürdig zerstückelt worden. Letztere rückte von unten schluchtenbildend gegen den Grat hinauf und teilte die schiefere Ebene des Nordabhanges in eine Anzahl von Rücken, die nun durch tiefe Einschnitte vollständig getrennt sind. Die Decke von Seewerkalk wurde grösstenteils weggenagt; einzelne Streifen, Fetzen und Lappen, die übrig geblieben, verraten noch den einstigen Zusammenhang. Sowie die von unten sich verbreiternden und vertiefenden Erosionsschluchten den Grat erreichen, begann die Schartung des einstigen zusammenhängenden Gratkammes, als deren Resultat wir heute die allbekannte Säge der Churfirsten vor uns sehen. …

Noch viel eindringlicher als die Churfirsten lehrt uns die Alviergruppe, dass unsere Gebirge nur noch eine Ruine sind. …

Wo wir uns befinden, … in der steinernen Welt des Karrenfeldes, auf dem hohen grünen Grate des Rosenboden oder sonst auf einem der aussichtsreichen Felsgipfel, überall werden wir den Eindruck erhalten, dass die Churfirsten-Alvierkette, deren Südabsturz im Verein mit dem Wallensee eines der grossartigsten Landschaftsbilder der Welt bietet, eine wahre Perle im Gebirgskranz unseres Vaterlandes ist, und der St. Galler ist um so stolzer darauf, als er hier weder mit Appenzell, noch Glarus oder Graubünden zu teilen braucht. …

(Quelle: „Bericht über die Thätigkeit der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft während des Vereinsjahres 1893/1894“ St. Gallen. Zollikofer’sche Buchdruckerei, 1895. Von A. Ludwig, Lehrer.)

Schilderung des Gebirgsvolkes

…Wattwyl, dicht am westlichen Fuss des Hembergs am Thurflusse gelegen, ist eine der volksreichsten Gemeinden Toggenburgs. Gerade gegenüber erblickt man das Weiberkloster St. Maria, und etwas höher ein altes Schloss Iberg, das einzige, welches von den 19 Adeligen, deren Reste durch das Toggenburg zerstreut liegen, noch erhalten steht. Das Thal ist nicht weit, aber anmuthig, munter, von allen Seiten mit hohem Gras und baumreichen Bergen umgeben, und belebt von zerstreuten Wohnungen. Südostwärts läuft es sich krümmend 6 Stunden hinan bis an die Felsengrenze von Sax und Gambs, und trägt überall den Charakter der Alpen und Gebirgsnatur. …

Die Landschaft Toggenburg bildet ein einziges 12 Stunden langes Thal, welches die ganze Abendseite des Kanton Appenzell umfasst. Die Thur durchfliesst es in seiner ganzen Länge, und nimmt während ihres Laufs noch einige zwanzig Gebirgswasser auf, welche von allen Seiten herabströmen. Das Thal selbst ist schmal, aber mit seinen Bergen erhält das Land die Breite von 3 bis 5 Stunden. Die Kalkgebirge der Säntiskette umschliessen Toggenburg von Osten nach Südwesten, und scheiden es sowohl von dem breiten Rheinthale, als auch von dem Wallenstadter-See, welcher in schwarzer Tiefe die nackten Füsse der grausenden Felsen bespült, welche ihre kahlen grauen Scheitel von den sieben Kuhfirsten an bis zum Speer über die breiten Alpen Toggenburgs empor starren. Der höchste Gipfel dieses ganzen Gebirgsstosses erhebt sich gerade hinter Wildhaus, das höchste und letzte Dorf im Thurthale. Der Säntis lässt sich von hier in 5 Stunden ohne Gefahr und Mühe erklimmen, und in einer guten Stunde steigt man auf einem sehr holperigen Steinwege von Wildhaus ins Thal nach Gambs nahe bei Werdenberg herab. …

… Das Hochgebirge trägt weder Gletscher noch nimmer schmelzenden Schnee; doch sind es nur wenige Wochen im hohen Sommer, während welchen die höchsten Hörner ihren glänzenden Mantel verlieren. Fast zwei Drittheil Toggenburgs ist Alpenland, wo das Auge nichts als Weiden und Tannen oder Buch-Waldungen erblickt. In dem engen Wiesenthale längst der Thur liegt ein Dorf nahe an dem andern, die breiten Berggelände sind von einzelnen Wohnungen, Häusergruppen und schönen Obstbäumen besetzt, und das Ganze bietet muntere und heitere Ansichten dar, welche bei günstigem Spiel von Schatten und Lichtwürfen sehr malerisch werden. …

Das obere Toggenburg kann ungefähr eben so viele Kühe überwintern, als auf dessen Alpen und Weiden übersömmert werden. Die Weidgänge im Gebirge sind in Stossalpen und Voralpen eingetheilt. Stossalpen werden diejenigen genannt, welche einem Districkt, einem Dorf oder gewissen Geschlechtern ausschliesslich gehören; auf diesen können 9000 Stück Hornvieh den Sommer über geweidet werden. Voralpen sind Gemeintrifften, auf welche jeder Hausvater eine bestimmte Anzahl Vieh treiben kann; ungefähr 3000 Stück Rind sollen auf diesen Weiden Sommerfutter finden. Von den Gemeinalpen zogen von jeher die Bewohner des obern Thurthales den grössten Nutzen, weil die Unterthurthaler zu weit entlegen davon wohnten; der Dürftige, welcher kein Vieh besass, wie es deren viele hunderte giebt, hatte gar keinen Vortheil von diesem Eigenthum, welches von der Weisheit der Vorältern doch hauptsächlich zur Erleichterung der ärmern Mitbürger bestimmt ward. Dies mögen wohl die Gründe gewesen sein, welche es endlich dahin brachten, dass 1786 diese Gemeintrifften unter alle Kirchenspiele des ganzen Toggenburgs vertheilt wurden. Die meisten Gemeinden des untern Thurthales haben seitdem ihre ihnen zugefallenen Theile an die Bergtoggenburger verkauft oder verpachtet. Ob diese Vertheilung dem Gemeinbesten des Landes Schaden oder Nutzen gebracht habe, darüber konnte ich nichts erfahren, doch sollen die armen Bürger dabei nichts gewonnen haben. Die Alpenwirthschaft, Viehzucht und Wiesenkultur werden ganz wie im Appenzell getrieben. Mehr wie 20 bis 30 Kühe überwintern die reichsten Sennen nicht, und es giebt wenige, welche für eine solche Anzahl Winterfutter besitzen. Die Menge der Ziegen ist gross; alle armen Familien, welche keine Kühe kaufen können, oder nur sehr wenige besitzen, halten einen Haufen Ziegen, welche der junge Knabe zwischen Felsen und an unwegsamen Oertern hüten muss, während die Aeltern am Spinnrade und Webstuhle arbeiten. Die Ziegenmilch wird theils so verkauft, theils Käse daraus bereitet, theils zum Aufziehen der Kälber benutzt. Die Viehzucht war immer der einzige Nahrungszweig der Einwohner des obern Thurthales, und dessen Alpen, Trifften und Wiesen ernähren einen so ansehnlichen Viehstand, dass die Bergtoggenburger bei einfacher Lebensart ein wohlhabendes Hirtenvolk bildeten. Die jetzige Bevölkerung hat jenes Verhältnis zerstört, welches ehemals zwischen dem Produkt des Alpenlandes und seiner Bewohnerzahl stattfand, und Toggenburg würde ein Gemälde des grässlichsten Elends darstellen, wenn alle dessen Kinder von den Früchten ihres vaterländischen Bodens ernährt und erhalten werden sollten. Appenzells Industrie theilte sich allen Nachbarn mit, und weckte besonders die Thätigkeit des protestantischen Bergtoggenburgers, welcher unter seinen Landsleuten zuerst und mit Eifer einen neuen Erwerbszweig ergriff. Hiermit begann neues Leben. Flachs- und Hanfgespinnst und Leinwandweberei verbreiteten sich überall, und bahnten der Mousselinfabrikation den Weg, welche aus dem reformierten Appenzell sehr schnell zu den fleissigen Toggenburgern überging. Der grössere Gewinn, welchen Spinner und Weber bei Verarbeitung der Baumwolle fanden, bewirkte dasselbe Resultat wie im Ausserroden, und schuf die Einwohner Toggenburgs zum Fabriksvolke um. Die Leinwandverfertigung ist dergestalt gesunken, dass das Verhältnis der Baumwollen-Fabrikate zu denen aus Flachs und Hanf wie 10 zu 1 sein mag; Baumwolle hingegen wird in allen Häusern gesponnen und gewoben, und die Menge der kleinen und grossen Händler mit Baumwollgarn und Mousselin ist ausserordentlich. Doch giebt es im Toggenburg keine ähnlichen Kaufmanns-Häuser wie im Ausserroden und in der Stadt St. Gallen, für deren ausgebreiteten Grosshandel die ganze Volksmenge Toggenburgs hauptsächlich arbeitet; die Kaufleute der Kantone Glarus und Zürich ziehen nur sehr wenig aus dem Thurthale. Die Folgen dieser thätigen Industrie auf Bevölkerung, Reichthum, Armuth und Sitten zeigen sich hier fast eben so auffallend als in dem reformirten Appenzell. …

Seitdem Toggenburgs Bewohner die Wolle eines indischen Strauches spinnen und weben, sind Lebensart und Sitten des Hirtenvolkes verschwunden. Kaum der vierte Theil der Einwohner beschäftigt sich jetzt mit Alpenwirthschaft. Statt dem fröhlichen Jauchzen und der Gesang des Kuhreihen tönt überall das Schnurren des Rades und das Stossen des Weberstuhls. Die Spiele und Feste der kraftvollen Aelpler, wo sie sich im Ringen, Laufen, Steinstossen übten, sind fast gänzlich in Abnahme, und wer sich noch auf seine Stärke und gymnastische Geschicklichkeit etwas zu gute thun will, wird für grob und dumm gehalten. Das Fabrikwesen hat seit 30 Jahren grosse Summen Geldes ins Thurthal geführt, die Volkszahl ausserordentlich vermehrt, und Berg und Thal mit neuen Häusern gefüllt. Die Waldungen sind durch den grössern Verbrauch des Bauholzes und durch Ausreutung vermindert, und die Grundstücke ausserordentlich zerstückelt worden. Ein Dritttheil der Einwohner muss jetzt das nöthige Bauholz kaufen, und eine Menge von Familien können aus den wenigen Wiesen und Weiden, die ihnen gehören, ohne Spinnerei unmöglich leben. Tausende giebt’s, welche nichts vom vaterländischen Boden besitzen als ihr hölzernes Obdach. Alle diese Familien treiben das ganze Jahr nichts weiter, als am Spinnrad oder hinterm Webestuhl zu sitzen. Mit den verfertigten Garn- oder Mousselinstücken läuft der Vater bei den Grosshändlern in Ausserroden und St. Gallen umher, sucht sie so hoch als möglich zu verkaufen, für das Gelöste seine Schulden zu bezahlen, und auf neuen Kredit rohe Baumwolle zurückzunehmen. Ist er weniger bedürftig, so überlässt er diese Mühe Kleinmäklern, welche die ihnen anvertrauten Fabrikate zu verschleissen suchen. Toggenburg liefert einen grossen Theil des Baumwollengarns, woraus die Appenzeller Mousseline verfertigen, und im Ganzen beschäftigen sich die Thurthaler mehr mit Spinnen als mit Weben. Die in der Landschaft umlaufende Geldsumme ist nicht so beträchtlich wie in Ausserroden, und die Preise aller Gegenstände sind nicht ganz so hoch wie dort, aber höher als in dem Innerroden. …

Die Produkte der Alpenwirthschaft, gegen welche ehemals der Obertoggenburger alles, was ihm mangelte, eintauschte, werden durch die vermehrte Menschenzahl in solcher Menge verbraucht, dass sich die Ausfuhr, und daher auch das Kapital, was jährlich dafür ins Land gebracht wurde, gar sehr vermindert haben. Die Preise aller Gegenstände sind gestiegen und neue Bedürfnisse unentbehrlich geworden. Das Wein- Branntwein- und Kaffeetrinken hat seit der Mitte dieses Jahrhunderts so zugenommen, dass bloss für diese Getränke jährlich weit über 100,000 Gulden aus dieser kleinen Landschaft gehen. Bei Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnissen wird viel geschmaust und getrunken. Das Ansehen der Aeltern ist geschwächt worden, und die Töchter streben frühzeitig sich unabhängig zu machen, um aus dem Gewinnst ihrer Spinnerei der Eitelkeit zu fröhnen. Das Aussetzen neugeborner Kinder auf Strassen, an Häuser und Ställe ist nicht so selten, und die Bettelei hat im Ganzen einen hohen Grad erreicht. Gross ist freilich die Menschenzahl, welche jetzt in Toggenburgs Bergen lebt, gross der Reichthum, welcher über dieses einfache Hirtenland geströmt ist; auch gross der frohe unverkümmerte Lebensgenuss, auch gross die Zahl der Zufriednen und gegen das dringendste Bedürfnis geschützten Menschen? O! leider keineswegs. Der Wohlstand ist nicht gleich vertheilt, Reichthum wohnt bei einem kleinen Theile, und drückende Armuth beim grössten Haufen, der bei jedem Schwanken des Mousselinabsatzes mit steter Sorge kämpft, bei der Ungewissheit seines Nahrungserwerbs nie zu einem harmlosen Leben gelangt, und in tiefes Elend stürzt, so bald die Quellen seines Fabrikhandels langsamer fliessen oder gar stocken. Die Reichen führen kein glücklicheres Leben, denn mit dem Geldüberfluss sind Aufwand, neue Bedürfnisse aller Art, Eitelkeit, Ungenügsamkeit mit allen ihren Plagen bei ihnen eingezogen. Die üblen Folgen eines gewinngebenden Handels auf Lebensgenuss und Moralität zeigen sich hier im merkbarern Grade als im reformirten Appenzell, nicht weil die Kunst, erworbnen Reichthum würdig zu gebrauchen, dort besser geübt würde – denn wo wird diese Kunst gelehrt und geübt? sondern weil die politische Verfassung Toggenburgs ganz verschiedner Natur ist. …

Die bürgerlich-politische Lage der Einwohner des Thurthales ist nicht die nämliche wie bei ihren Nachbarn. Der Appenzeller geniesst einer demokratischen Verfassung, der Toggenburger lebt in einer beschränkten Monarchie; jener ist freier Bürger und Glied des Souverains, dieser Unterthan eines geistlichen Fürsten. …

Die Appenzeller wohnen hoch an Bergen, luftig und sonnig; die Toggenburger weit niedriger in einem langen engen krummen Thale von hohen Bergen umgeben, und viele Tausende von ihnen sind Feldbauern und keine Gebirgsleute. …

Sehr glücklich vereinigen sich zwar Viehzucht und Ackerbau in dieser Landschaft, um dessen Bewohnern die ersten wichtigsten Lebensbedürfnisse und damit eine ökonomische Unabhängigkeit zuzusichern, deren sich sehr wenige Theile der Schweiz erfreuen. Des flachen Toggenburgs reiche Ernten sollen, so wollte es das Schicksal, die ganze Volksmenge mit Getreide versorgen; allein sie sind ein Eigenthum der heiligen Diener des Himmels geworden, und diese können sich nicht mit dem ökonomischen und bürgerlichen Wohl der sündigen Welt beschäftigen. Die genannten Klöster ziehen jährlich an Zehenden und Lehnzinsen von ihren Meierhöfen so viel Getreide aus der Landschaft, dass der Toggenburger seit Jahrhunderten gezwungen ist, das meiste ihm nöthige Brodkorn aus Schwaben zu kaufen. …

Dieser kurze Abriss zeigt zur Genüge, wie viel den Toggenburger seine fürstliche Regierung kostet, und welch ein auffallender Unterschied zwischen der bürgerlichen Lage des Appenzellers, und des unterthänigen Toggenburgers obwaltet. Nothwendiger Weise kann dieses Völkchen unerachtet aller Industrie und Thätigkeit, doch eines gleichen Reichthums wie Appenzell, Ausseroden, nie geniessen. Eine übergrosse Anzahl seiner Bürger muss güterlos sein, weil viele und kostbare Grundstücke in den todten Händen der regierenden Abtei und anderer Klöster liegen; allgemeiner Wohlstand wie in Appenzell kann nie stattfinden, und die Menge der Dürftigen, und der Bettler muss grösser sein als dort. …

Ich kann nicht umhin, hier eines Toggenburger Landmanns Erwähnung zu thun, dessen von ihm selbst geschriebene Lebensgeschichte (Lebensgeschichte und natürliche Abentheuer des armen Mannes in Toggenburg, herausgegeben von H. H. Füssly. Zürich, 1789.) vor einigen Jahren, wenigstens in der Schweiz, mit Antheil gelesen wurde. Dieses armen Mannes Bekanntschaft habe ich gemacht, ihn zu wiederholten Malen gesehen und herzlichst lieb gewonnen. … Bräcker, in der Jugend ein armer Hirtenknabe, im Alter ein armer Mousselinweber, …. Lesen und Schreiben war ihm Bedürfnis geworden; er griff nach jedem Buch, welches der Zufall in seine Nähe brachte, und schrieb, so oft es ihm möglich war, alles nieder, was in seiner Seele vorging. … Von seinen Landleuten wird er Bücherfresser genannt, und wenige wissen ihn nach seinem Werth zu schätzen. …

Die Landstrassen durch ganz Toggenburg sind breit und sehr gut unterhalten, welches in einem Berglande äusserst kostspielig ist. Bis 1780 waren hier keine anderen Wege als für Fussgänger, und alle Lasten, welch aus- oder eingeführt wurden, mussten von Pferden getragen werden. Die Menge des Geldes, welches der Handel verbreitet, setzte endlich die Gemeinden in den Stand, auf ihre Kosten die Anlegung grosser Strassen zu unternehmen und auszuführen. Von allen Seiten, ausgenommen von Wildhaus her, führt der Toggenburger die Bedürfnisse des Landes auf Lastwagen ein. Von Wildhaus führt ein sehr übler Felsenweg nach Gambs ins breite Rhein- und Werdenberger Thal herab, und wäre dieser kurze Strich erweitert und zum Fahren eingerichtet, so müsste Toggenburg ausserordentlich dabei gewinnen; allein bisher widersetzten sich der Eröffnung dieser Strasse die Privatvortheile der Nachbaren.

(Quelle: „Schilderung des Gebirgsvolkes“, 1802, Johann Gottfried Ebel)

Drei Tourenberichte von 1901

Die Kurfürsten. Von J. B. S. [Johann Baptist Stoop]

«Seit Ebel haben alle prosaischen Zöpfe sich abgemüht, die echt poetische und volkstümliche Benennung «Kurfürsten» zu verdrängen». Zitat Iwan Tschudi.

In den letzten Jahren sind die Kurfürsten durch Besteigungen vom Toggenburg aus wieder bekannter geworden als Aussichtsberge, welche dem Säntis, Alvier, Speer u. a. ebenbürtig sind. Einzig schön ist der Niederblick von den Kurfürsten auf den Walensee und seine Umgebung. Von der nächstgelegenen Eisenbahnstation Wallenstadt aus ist der Besuch immer noch ein auffallend spärlicher geblieben. Vermutlich schrecken die drohenden Steilwände auf der Südseite ab. Allein gerade von Wallenstadt aus sind die Kurfürsten ein Exkursionsgebiet, das an Mannigfaltigkeit und eigentümlichen Reizen seinesgleichen sucht. Ich will hier einige Aufstiege näher bezeichnen. … Unterkunft finden die Touristen in den genannten Alpen Bülz, Tschingla, Schrina, Schwaldis und Sälz überall sehr gute. …

Pfingsttour im Churfirstengebiet. Von Meier (S. Uto)

Wie das letzte, so sah uns auch dieses Jahr Pfingsten in Walenstadt und auf den Churfirsten.
Der Hahn hatte den Morgen noch nicht angesagt, als am Pfingstsonntag die Schritte von vier Männern, zwei Touristen, Führer Thoma und dessen jungem Sohn (Bergführerkandidat) in den Strassen von Walenstadt widerhallten. Gemessenen Schrittes ging’s alsdann dem Weissenberg zu und durch prächtigen Buchenwald stiegen wir zur Alp Büls (1368m) hinan, wo ein kräftiger Stärkungshalt die dieses Jahr noch nicht für Gebirgstouren trainierten Beine erfreute. ¾ Stunden später war das Kammsässli (1736m) erreicht. Ein herrlicher Punkt, welch ein Ausblick! Aber nur schade, dass das Wetter nicht so klar war, wie letztes Jahr am gleichen Ort, zur gleichen Zeit. Nun ging’s steil hinan über Zieregg bis unter die Hänge des Hinterruck. Diesen und denjenigen des Scheibenstoll folgend, gelangten wir zum «Schnürligang», nicht ohne dass es nötig war, auf den sehr schmalen und an vielen Stellen noch sehr nassschlüpfrigen Bändern grosse Vorsicht walten zu lassen. Wieder vollzog sich der Übergang über diesen gefahrvollen Pfad glücklich und 10.15 Uhr sassen wir auf einer aperen Stelle inmitten eines grossen Schneefeldes in der «Stollenfurkel» (der Name findet sich nicht auf dem T. A., wir möchten ihn aber vorschlagen, da sich hier thatsächlich die beiden Stollen gabeln). Nach einer Rastpause mit darauf folgender kurzer Rutschpartie auf gutem Schnee ward der Zustoll über den Grat (2120m) in Angriff genommen und in ca. 1 ½ Stunden bezwungen (2239m). Umsonst verlängerten wir unsere Gipfelrast; die Aussicht blieb immer mittelmässig. (Bemerkt sei noch, dass es nicht nötig ist, das Zustollband, welches von Osten nach Westen traversiert, zu benützen, man kann vielmehr den Gipfel vom östlichen Anfang genannten Bandes aus direkt sehr leicht und rasch, kletternd, erreichen). Die Abfahrt vollzog sich auf gutem Schnee sehr rasch, und sogleich ward der Scheibenstoll in Angriff genommen. Von der Sohle des Thales zwischen beiden Stollen aus war er schon in 1 ¼ Stunden erobert (2238m). Unterdessen hatte Pluvius seine feuchten Heerscharen in erschreckende Nähe herangeführt, und aus der Ferne liess Donar seine Blitze zucken und seine gewaltige Stimme hören. Also Aufbruch und rascher Abstieg! Unten erreichte uns, wenn auch nicht das verheissene Gewitter, so doch ein ausgiebiger Regen, und wir waren froh, als wir auf der allerdings noch nicht bestossenen Selamattalp nach manchem Pochen an festverschlossene Thüren doch endlich eine Unterkunft, freilich eine sehr primitive, fanden. Auf den Pritschen lag eine Spur von einem undefinierbaren Etwas, das wohl viele Jahre früher Heu oder ähnliches gewesen sein mochte. Kurz, wir waren froh, als die ersten Strahlen der Montags neu erwachenden Sonne wieder Leben in unsere froststeifen Glieder brachte und wir aufbrechen konnten. Heute galt es dem Hinter- und seinem Nachbarn und Freunde Käsernruck. Beim Schäferhüttli auf dem Sattel (1908m) wurde zum ersten Mal kurz gerastet, dann nach einer Stunde der Gipfel (2309m) erreicht. Aussicht keine! Das ganze Hochplateau lag noch in tiefem Schnee. Hatten wir schon am Tage vorher auf Alp Büls einen feisten Gemsbock auf Schussesnähe gesehen, so entfloh nun vor uns ein ganzes Rudel dieser Bergfexen, die so behende klettern. «Durch den Riss geborstner Klippen trägt sie der gewagte Sprung.» Der Übergang auf den Käsernruck (2266m) auf prächtiger Schneeschneide vollzog sich rasch und leicht; aber jetzt ging ein Strich durch unsern am Morgen gefassten Plan; das Falzloch war infolge überhängender Schneetische nicht zugänglich. So nahmen wir unsern Weg rutschend gegen Alp Schlewiz und zur Niedere (1833m).
Bald war die Alp Lüsis (1277m) und von hier aus in raschem Tempo in 1 ¼ Stunden Walenstadt erreicht. Der letzte Zug brachte uns an den Zürichsee und damit ins Alltagsleben zurück. Die Churfirsten aber sind und bleiben für diese Jahreszeit ein herrliches und zugleich reichlich lohnendes Trainierungsgebiet.

Zwei neue Pfade in der Churfirstenkette. Von Meier, Erlenbach, S. A. C. «Uto».

Sonntag, den 11. August 1901, brachen Clubgenosse und Freund Richard Schweizer und ich morgens kurz nach 4 Uhr oberhalb Amden auf, wo wir in frischem Heu herrlich eine gewittervolle Nacht geruht, und erreichten nach prächtiger Morgenwanderung 5.30 Punkt 1673. Ein herrlicher Tag schien uns zu werden; denn Papa Sentis und seine zahlreiche Kinderschar leuchteten hell und klar zu uns herüber. Dann ging’s auf dem bekannten Gochtwege ins Thälchen zwischen Hinter- und Vorderleistkamm. Diesem letztern galt es heute; d. h. seinem nördlichen Turm (Punkt 2081), der seiner kühnen und trotzigen Form wegen unsere Kletterlust schon früher gereizt hatte. Zuerst rekognostizierten wir von Punkt 2094 aus; aber keine schwache Stelle ward entdeckt; alsdann umgingen wir den Trotzigen und griffen ihn durch ein kleines mit spärlichem Rasen ausgekleidetes, sehr steiles Couloir auf der Nordseite an und bezwangen ihn kletternd. – Eine entzückende Rundsicht! – Auf dem weichsten Polster ist’s nicht so weich zu ruhen, wie hier oben auf dem dichten Moose, das 1-3 Fuss tief den ganzen Kamm bedeckt, so dass man Schritt für Schritt tief einsinkt. Für diese sofort in die Augen springende, imponierende Berggestalt, die der topogr. Atlas als Zeichnung auffallend vernachlässigt und mit dem wenig zutreffenden Namen «Glattkamm» bezeichnet hat, möchten wir daher eine Umänderung in den Namen «Mooskamm» in Vorschlag bringen. Ob er von Touristen auch schon bestiegen worden ist, erscheint uns sehr fraglich, da oben auch nicht die geringsten Spuren menschlicher Arbeit zu finden sind. Zuoberst alles locker, verwittert, lose Felsen hart am Abgrunde, kein Steinmann, keine Gipfelflasche, die sonst ja in dieser Gegend sozusagen nirgends fehlt, wo Touristen hinkommen. So ward denn schnellstens ein Steinmännlein aufgerichtet und dessen sorglicher Obhut die Gipfelflasche anvertraut, die zu diesem Zwecke erst extra gehöhlt werden musste. Uns etliche Male auf sehr faulem Gestein abseilend, stiegen wir dann über den nördlichen Grat ab und überschritten das Bergsturzgebiet des Nägeliberges. Dieser Gipfel war ca. 11 Uhr zu unsern Füssen; dann verfolgten wir den Grat gegen die beiden Scheeregipfel, die wir nach längerem Aufenthalt ca. 1 Uhr verliessen, um noch die bescheidene Wart zu besuchen. Unterdessen war es, unsern nochmaligen Aufenthalt mitgerechnet, 2 ½ Uhr geworden, und der Himmel machte böse Miene, es hiess also eiligst aufbrechen, besonders auch deswegen, weil wir bestimmt im Sinne hatten, den letzten Zug zur Rückkehr an unseren schönen Zürichsee zu erreichen. Wir stiegen also zwischen Scheere und Wart ab, um den «Schleichübel»-Pfad zu verfolgen; aber oh weh! von einem, auch nur dem geringsten Weglein keine Spur. So hiess es, einen eigenen «Weg» – oder den sonst gebräuchlichen per Zufall – finden. Wir hielten uns zunächst, da Steinschlag nicht zu fürchten war, in der Runse des Gandbaches, welche hier oben ganz trocken war, und kletterten sorgfältig ein schönes Stück hinab; aber jetzt? Rechts uns haltend, gelang es, eine weitere Staffel hinabzusteigen. Nun aber wurde die Lage ziemlich schwierig, das Terrain immer steiler und auf glattem Fels und lockerem, spärlichem Rasen nur sehr wenig Halt bietend. Dazu kam, dass unter uns, überm Walensee, ein heftiges Gewitter losgebrochen war und auch uns bedrohte; rasch und rascher kam’s und hüllte uns ein. Wir mussten annehmen, uns in oder in der Nähe der Hagelbildungsregion zu befinden; denn mitten im dichten Regen und Nebel fielen mit ziemlich geringer Geschwindigkeit mächtige, halbfeste, halb sulzige Hagelkörner nieder. – Im Nu sind wir total durchnässt, und der Abstieg gestaltet sich doppelt schwierig. Eine heikle Stelle wird, dank des Seiles trotz des glatt und schlüpfrig gewordenen Terrains, glücklich überwunden. Noch einige Griffe, und ein Weiterkommen scheint unmöglich zu sein. Doch – da können wir ja, links und rechts uns abseilend, auf einige Rasenstufen hinunter gelangen. Es ist gethan; aber das Seil ist jetzt ganz angestreckt, wir können es nicht über den Felsen schlingen. So muss sich denn wohl oder übel auf diesem gefährlichen Standpunkt der eine vom Seil losbinden, damit es der andere ziehen kann. Nun wird zur Stärkung der Runse zugesteuert, die jetzt selbstverständlich Wasser genug, wenn auch nicht vollkommen klares, führt. Nach kurzer Rast steigen wir über die nassen, steilen Grasplanken zur Alp «Schwaldis» ab, die wir ca. 7 ½ Uhr erreichen. Die guten Sennen, die uns bereitwilligst alles Ess- und Trinkbare, was sie besitzen, anbieten, können nicht genug ihr Erstaunen darüber ausdrücken, dass es möglich gewesen, da herunter zu steigen. – Bald waren wir gestärkt und hatten uns von der zeitweise fast übermenschlichen Anstrengung erholt. Ca. 8 Uhr schlugen wir den Weg über Schrinenalp, Hohe Rugg – mit den munteren Kurgästen -, Walenstadterberg nach dem Hotel Hirschen Walenstadt ein, wo wir gegen 10 Uhr anlangten und wie früher schon aufs trefflichste aufgehoben wurden. Der erste Montagmorgenzug führte uns an unsern lieben Zürichsee.

(Quelle: Alpina IX – 1901)

Die Grafschaft Toggenburg

… Die Länge von Morgen gegen Abend, oder von den Grenzen der Frey-Herrschaft Sax bis an das Thurgau, beträgt allernächst zwölf Stunden; die Breite aber von Mittag gegen Mitternacht ist ungleich; an einigen Orten erstrekt sie sich nur auf drey, an mehrern auf vier, unten aber, wo sie am breitesten ist, auf fünf Stunden.

Herr Scheuchzer hat von der Grafschaft im Jahr 1710 eine sehr brauchbare Charte bekannt gemacht. …

Die Thur. Dieses mehr Wald-Wasser als Fluss, durchströmt die Grafschaft von einem Ende gegen das andere. Ihre zweyfachen Quellen findet man zu oberst in dem Lande, in dem Münster-Ried, unweit der Gemeine Wilden-Haus. Schon in seinem Anfang ist dieser Strom wild und ungestüm; seine öftern und schnellen Ergiessungen verursachen den Anwohnern so wol empfindliche Beschädigungen, als Schreken. Fast alle auf den zahlreichen Gebirgen des Landes entspringenden grössern und kleinern Flüsse und Bäche führen der Thur ihre Wasser zu. …

… Unweit Krumnau hat die Natur selbst über die Thur eine Felsen-Brüke gelegt. Der Strom brauset unter einem Felsen hindurch, der Sprung genannt. Ueber diese Felsen-Brüke fährt, reitet und gehet man ohne die mindeste Gefahr. …

… Der obere Theil oder das Amt der Landschaft ist sehr bergicht; es ist mit hohen Alp-Gebirgen in geraden Linien und Reihen, neben dem Wallenstatter-See, der Grafschaft Sargans, Werdenberg und Gams gleichsam umschlossen. Die höchsten sind diese:

1.) Der Seluner-Stok, auch Luner-Ruk; den erstern Namen hat er von der Alp Selun oder Sylin; 2. die Seelen-Matt, 3. die Breiten-Alp, 4.) der Stok-Berg, 5.) der Schaaf-Berg, 6.) der Sentis, 7.) der Speer; dieser, der an das Gaster grenzet, ist nach dem hohen Sentis der höchste; 8.) der Astakäser-Ruk gegen den Wallen-See, 9.) Goggeyen; ein Frey-Berg vor die Gemsen, zu oberst endet er sich in 2 Spizen, welche beynahe für das Auge die Gestalt von Krebs-Scheeren erhalten; die südliche Seite des Bergs kommt in die Landschaft Gaster; 10.) der Golmen gegen die Grafschaft Werdenberg. Die Gemeine Grabs, welcher dieser Berg ehedem angehörte, soll (nach einer Ueberlieferung) denselben um 40 Mütt dürre Birnen verkauft haben; die Vieh-Zucht ist desnahen in dem obern Amt die Hauptquelle der Nahrung der Einwohner. … Jährlich werden für grosse Summen Gelds Vieh, Butter, Käse, Häute, Unschlitt, aus dem Lande weggeführt. Man pflanzet in dem obern Amt sehr wenig Getreide. …

… Die Jagd des Landes ist an vielen Orten angenehm und reich, auch nicht gar mühsam. Nebst den Füchsen und Hasen werden auf den hohen Gebirgen nicht wenige Gemsen aufgetrieben. Die Schnepfe, Krams- oder Wachholder-Vögel sind so häuffig, dass sie ausser Lands versendt werden. Hasel- Reb- und andere Hüner sind ebenfalls zahlreich. Die Bäche geben verschiedene Arten Fische, besonders Edle- oder Gold-Forellen und Krebse.

Man findet noch hin und wieder beträchtliche Waldungen von Tannen, Forren und Buchen; allein der starke Anwachs der Einwohner, die Erbauung neuer Häuser, welche durchaus meistens von Holz sind, und Scheunen; die so genannten Reutenen, welche an vielen Orten bis an die hohen Gegenden der Berge hinaufreichen, da die ausgestokten Waldungen nicht ferner zur Holz-Pflanzung, sondern zu Pflanzung der Sommer-Früchte, genuzt werden; lassen vermuthen, dass sehr viele Gegenden in wenigen Jahren an Brenn-Holz entblösst werden könnten.

Die Strassen sind durch das ganze Land, besonders aber durch das obere Amt, sehr schlecht und enge. An den allerwenigsten Orten kann man sich der Wagen bedienen, indem diese Art Fuhr-Werk mehrmal in Gefahr stehen würde, in dem Schlamm zu versinken. Man saumet alle Waaren, die so wol in die Landschaft ein- und ausgeführt werden, durch die so genannten Saum-Rosse (Equi Clitellarii). …

… Ueber das siehet man durch das ganze Land (in der Ebene so wol, als in den Berg-Gegenden), eine beynahe unzählbare Menge zerstreuter Häuser. Die Berge sind an den mehrern Orten hoch hinauf bewohnt; man kann mit Grund behaupten, dass das Land Toggenburg eines der stärkst bewohnten Länder der Eidgenossschaft sey. …

… Das Land-Siegel stellt einen stehenden Hund, oder so genannten Englischen Dogg, mit der Umschrift vor; das Land-Wapen enthält auch einen solchen Hund von schwarzer Farbe, mit rother Zunge, und weissem Bande um den Hals, in gelbem Felde.

(Quelle: Genaue und vollständige Staats- und Erd-Beschreibung der ganzen Helvetischen Eidgenossschaft, derselben gemeinen Herrschaften und zugewandten Orten. Erster Band, Zürich, bey Orell, Gessner und Compagnie. 1765. Daraus: Die Grafschaft Toggenburg. Von Johann Conrad Fäsi)

Das Wildmannliloch am Selun

Das Bergsteigen ist bekanntlich eine schöne Sache; aber wenn man sozusagen jeden schönen Sonntag auf einem Gipfel gestanden, nimmt man gerne einmal mit einer bescheidenen Tour vorlieb, namentlich wenn sie uns Neues und Interessantes verspricht. Begleiter für solche kleine Touren während der Hochsaison zu finden, ist aber nicht einmal leicht, da eben die «wirklichen Hochtouristen» nur auf Touren gehen wollen, die auf eine Höhe von mindestens 2000m führen!

Meine Bekanntschaft mit dem bekannten Höhlenforscher und Clubgenossen Dr. Paul Egli machte es mir möglich, eine Höhle zu besuchen, die vielleicht der Sage nach vielen, durch persönlichen Augenschein aber wenigen bekannt sein dürfte: Ich meine das Wildmannliloch am Selun (Kurfirsten). Ueber diese Höhle, die sich ungefähr bei Punkt 1690 des T. A. Nr. 251 befindet, erzählt die Sage folgendes:

Der letzte dieser Wildmännlein, «der Seluner», ist im Sommer 1844 auf der Alp Selun gefangen gesetzt worden. Die Sennen dort machten nämlich die Wahrnehmung, dass einige Kühe immer weniger Milch lieferten. Sie passten auf und sahen ein Geschöpf aus dem Gebüsch hervortreten und sich der Herde nähern. Es war am ganzen Leibe nackt, aber mit einem dichten Haarpelz bedeckt. Die Sennen waren nicht wenig erschrocken; ihr Erstaunen wuchs, als der Wilde sich einer Kuh näherte und die Milch in den Mund melkte. Sie drangen auf den Arglosen ein, bemächtigten sich seiner nach harter Gegenwehr, fesselten ihn mit Stricken und führten ihn zu Tal. Der Wilde mochte etwa 15 Jahre alt sein. Man brachte ihn ins Armenhaus Alt St. Johann. Alle Versuche, ihn einigermassen zu erziehen, erwiesen sich als erfolglos; die Kleider zerriss er und sich in ein Bett zu legen, verweigerte er. Reden konnte und lernte er nicht. Anno 1889 starb er.

Die Geheimnisse der Wohnstätte der Wildenmänner zu ergründen, war daher gewiss ein verlockendes Unternehmen. Wir versahen uns mit allem Nötigen, das die Höhlenforschung erfordert: Seile, Acetylenlampen, photographische Apparate, Messinstrumente u. a. – Es war ein schöner Herbsttag, der uns nach Alt St. Johann führte. Fast reute es mich, bei dem Wetter nicht eine andere Tour in Angriff genommen zu haben.

Als wir von Alt St. Johann zum «Strichboden» hinaufsteigen, ist es schon dunkel und im Westen wetterleuchtet es. Die Luft ist schwül und die Säcke drücken. Nur der monotone Schritt der zwei einsamen Wanderer unterbricht die nächtliche Ruhe. Alles ist still und schweigsam. So geht es wohl eine Stunde lang aufwärts. Plötzlich fängt es in den Baumwipfeln an zu rauschen, erst ganz leise, dann stärker. Und dann fallen einige Regentropfen. Der Wind nimmt an Heftigkeit zu und die schlanken Stämme der jungen Buchen reiben sich wild aneinander. Doch nicht genug; der Regen verwandelt sich in Hagel und peitscht uns seinen Gruss auf Kopf und Hand. Wir beeilen uns, denn die Hütte kann nicht mehr weit sein. Hell leuchten die Acetylenlaternen, auf deren Gehäuse der Hagel wilde Wirbel schlägt. Kreuz und quer durchstreifen wir keuchend das hügelige Gelände, auf dem wir endlich das ersehnte Obdach finden. Wir legen die nassen Joppen ab und begeben uns zur Ruhe. Doch bald weckt uns das Hagelwetter wieder auf. Die Hagelsteine prasseln mit dämonischer Wucht auf das Hüttendach hernieder, Blitze durchleuchten die schwarze Nacht und Schlag auf Schlag ertönt der Donner, in endlosem Echo wiederhallend. Nach einer Stunde war auch der zweite Akt des grossartigen Naturschauspieles vorüber und wir legten uns wieder ins Heu.

Am Morgen suchten wir die Höhle auf, die in einer halben Stunde erreicht war. Von deren Tor geniesst man einen hübschen Ausblick auf das obere Toggenburg und die Säntisgruppe. Wir befestigten einen Bindfaden, der als Mass zu dienen hatte, am Höhlentor und begannen den Einstieg. Den Aufzeichnungen meines Begleiters entnehme ich nun folgendes: Der Eingang der Höhle befindet sich auf 1640m Meereshöhe. Temperatur morgens 7 Uhr am Boden 8,2 Grad, an der Decke 14 Grad, 6m vom Eingang gemessen.

Der Gang ist anfänglich sehr weit, aber dass man mit einem Wagen hineinfahren könnte, wie Rochholz in den «Schweizersagen» erzählt, davon ist keine Rede. Der Boden war anfänglich trocken, dann feucht und dann betraten wir eine Lehmschicht und kleine Wassertümpel. Bis zirka 50m kann man stehend, von da an ein Stück weit nur kriechend oder knieend vorwärts kommen. Während der Durchmesser des Höhlenganges bis hierher ungefähr 2m beträgt, verengert er sich plötzlich auf 50 bis 60 cm, seine Höhe steigt aber bis auf 3m, um dann allmählich wieder abzunehmen, bis ein Vorwärtskommen schliesslich nur noch auf dem Bauche möglich ist. Ungefähr 100m vom Eingang entfernt teilt sich die Höhle in zwei Gänge, die aber nach wenigen Metern wieder zusammenlaufen. Von Distanz 150 bis 200 zeigen sich im Boden und an den Wänden merkwürdige Höhlungen (sogenannte Wannen), die bis 1m lang, 3 dm tief und 3 bis 4 dm breit sind. Der Boden ist namentlich gegen das Ende der Höhle äusserst schlammig; überall liegen faulende Holzstücke und Kohlenteilchen. Wir fanden ferner Skeletteile einer Fledermaus. Die Gesteinsschichten sind fast horizontal und oft mit schönen Bänken geziert. Die Deckenoberfläche ist manchmal ganz flach. Zu hinterst ist der Gang mit Sturztrümmern bedeckt. Die Höhle hat eine Länge von 220m und verläuft in der Richtung von Nordost nach Südwest. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Höhle ursprünglich die Quelle eines Flusses bildete. Merkwürdigerweise fanden wir keine Spur eines Menschen oder grösseren Tieres.

Einige photographische Aufnahmen und eine Schlammkruste, die meinen Anzug vollkommen bedeckte, war der einzige Gewinn, den ich von der Entdeckungsreise mit nach Hause brachte; glücklicherweise war der meines Begleiters etwas grösser, was mich einigermassen tröstete. Immerhin muss ich zugeben, dass mein Talent als Höhlenforscher einer weitern Entwicklung nicht fähig zu sein scheint.

(Quelle: Alpina XVII – 1910. Von Willy Baumann, S. A. C. Uto)

Das Wildenmannlisloch

… Begleite mich nun, freundlicher Leser, ins weiden- und tannengrüne Obertoggenburg. Schon von Wattwil oder Ebnat aus betrachten wir jene eigenartige prächtige Gebirgskette der Churfirsten, die in ihrer Siebenteilung wie die Zähne einer Säge uns entgegenblinken. (Ihre Namen sind von Westen nach Osten: Selun, Frümsel, Brisi, Zustoll, Scheibenstoll, Käserruck und Hinterruck). Einstens bildeten diese sieben Berge einen einzigen zusammenhängenden Felsenrücken, der wie heute, einem Dache gleich, seine Gesteinsschichten nach Norden, dem Tale von Alt St. Johann zuwendet. Am Fusse derselbigen Schrägdächer breiten sich über dem herrlichen Alpenfichtenwald weitgedehnte fruchtbare Matten aus, die «Alpen» von Selun, Breitenalp, Selamatt usw., wo im Sommer zahlreiche Viehherden weiden. –

Hier oben, angesichts der stolzen Bergwelt des Säntis, des Wildhauser Schafberges und der Churfirsten, hauste vor vielen Jahrtausenden der Urmensch als Höhlenbärenjäger. Als schützende Unterkunftsstätte bei Wind und Wetter und während der Nacht hatte er sich jene grosse Höhle erwählt, die im Volke schon lange bekannt gewesen ist als das Wildenmannlisloch.

Es findet sich auf der Ostseite des langen Felsrückens, der vom westlichsten der Churfirsten, dem Selun, als Selunerruck gegen das Dorf Starkenbach hinunterzieht und die beiden Alpweiden Seluneralp und Breitenalp voneinander trennt. Das Höhlentor schaut gegen die östlich gelegene Breitenalp und liegt 1628m über Meer.

Nach der Volkssage sollen hier einstens Zwerglein gewohnt haben, die den Sennen viele gute Dienste erwiesen, dann aber von ihnen vertrieben und seither nie mehr gesehen wurden. Im Sommer 1844 hielt sich in der Höhle ein kaum zwanzigjähriger Mann auf, der wie ein Wilder lebte und gar nicht reden konnte. Der «Seluner», wie er hiess, wurde dann gefangen genommen, verlebte viele Jahre im Armenhaus zu Alt St. Johann und Nesslau, lernte aber weder arbeiten noch sprechen und starb anfangs Oktober 1898 im Alter von etwa 74 Jahren. Im Volksmunde wird von ihm noch vieles erzählt, aber niemand hat erfahren können, woher er stammte und wem er angehörte. Wahrscheinlich ist er ausgesetzt worden.

Es ist merkwürdig, wie die alten Sagen sich oftmals an jene Orte knüpfen, wo in undenklich früheren Zeiten der urgeschichtliche Mensch Einzug gehalten hatte. Auch im Wildmannlisloch bestätigte sich unsere Ahnung von dessen einstiger Besiedelung durch den Urmenschen. Schon die ersten Nachgrabungen durch Theodor Schweizer von Olten im Sommer 1923 förderten die Knochenüberreste von Höhlenbären zu Tage. Allein erst die gründlichen wissenschaftlichen Forschungen, die ich unter der tüchtigen Mithilfe von A. Ziegler in Unterwasser und mit den getreuen Höhlenarbeitern K. Huser Vater und Sohn, und E. Egli in Alt St. Johann in den letzten drei Jahren (1923-25) unternahm, ergaben das wirkliche prähistorische Bild einer früheren urmenschlichen Besiedelung. Das naturhistorische Museum bezw. der Bürgerrat der Stadt St. Gallen leistete zu Beginn die nötigen Geldmittel, während sich der folgenden Arbeitskampagnen mit rühmenswerter Tatkraft die Sektion Toggenburg des Schweizerischen Alpenklub angenommen, die sich dadurch ein Ehrenblatt in ihrer Vereinstätigkeit und in der Förderung der wissenschaftlichen Forschung der Schweizeralpen gestiftet hat.

Am Eingangstor zum Wildenmannlisloch geniesst man einen herrlichen Ausblick auf die ganze Westseite des Säntisgebirges und wenige Schritte in der Höhle drinnen grüsst durchs Felsenfenster der kühngebaute Wildhauser Schafberg herein. Die Höhle selbst bildet ein regelrechtes, oben gewölbtes, am Boden fast ebenes Tunnel von 60 Meter Länge, 4-2 Meter Breite und etwa 2,4 Meter Höhe, so dass man aufrechten Hauptes bis zu jener Stelle schreiten kann, wo der Urmensch einen weiterausgedehnten, günstig gestalteten Wohnplatz besass. Hinter diesem schliesst sich ein über 100 Meter langer, stellenweise über 2 Meter hoher, schmaler Gang an, der blind schliesst, weshalb man von dort nicht weiter vorzudringen vermag.

Die ganze Höhle ist nicht durch Menschenhand, sondern einzig durch die Natur und ihre Kräfte (Gesteinsverschiebungen, Bruchspalten, chemische Auflösungstätigkeit des Höhlenwassers) entstanden. … Diesen ((Höhlenboden)) hatten wir nun zu durchgraben, um die Funde (Tierknochen, menschliche Werkzeuge usw.) ans Tageslicht zu fördern. … erscheint in etwa 60-80 Zentimeter Tiefe die rötlich-braune, 30-50 Zentimeter dicke Fundschicht mit massenhaft Knochen vom Höhlenbären, mit Knochen-Instrumenten und Steinwerkzeugen des Urmenschen, die aber nur spärlich vorhanden sind, weil der Mensch bei seinen wiederholten Wegzügen von der Höhle die besten seiner Werkzeuge mitgenommen hat. … Nicht alle Funde können in dem klebrigen, nassen Lehm schon hinten am Fundplatze mit dem Lichte der Azetylenlampen erkannt werden. Die Funderde (Lehm) wird deshalb mittelst Karette vor die Höhle hinaus ans Tageslicht geführt, wo auch der kleinste Lehmkloss aufs genaueste zur Untersuchung gelangt. Alles Wichtige muss vom Leiter der Ausgrabungen ins Notizbuch vermerkt werden.

Die Steinwerkzeuge des Wildenmannlisloch-Menschen bestehen nicht aus dem Kalkstein der Höhle (wie im Drachenloch), sondern aus hartem Quarz (Oelquarzit, Hornstein), der in der Höhle und ihrer Umgebung nirgends zu finden ist. Der Urmensch hat das Steinwerkzeug-Material aus dem Tale von Alt St. Johann und Wildhaus heraufgeholt und es dort zum Werkzeug (Messer, Schaber) zubearbeitet. …

Unter den Tierknochen befinden sich auch solche des Höhlenlöwen, sowie des Steinbockes, der Gemse, des Edelhisches und von anderen Alpentieren. Der Löwe deutet an, dass das damalige Klima günstiger, d. h. wärmer gewesen sein muss als das heutige, …

Nach der Lage der Fundschicht lässt sich beweisen, dass die Bewohnung unserer Höhle in der letzten Zwischeneiszeit stattgefunden hat. Nach dieser folgte erst die letzte Vergletscherung der Alpentäler. Der Höhlenmensch flüchtete sich vor dem Eise in die ausserhalb des Gletschers gelegenen, nicht vereisten Gegenden und kehrte nie mehr zu den Bergen zurück. Jahrtausende lang lag das Gebirge ohne menschliche Besiedelung da. Erst in der geschichtlichen Zeit wagte sich der viel spätere Mensch wieder in diese Höhen hinauf (Alpwirtschaft, Bergreisen, Bergsport).

So erfahren wir, wie der Höhlenmensch hier oben in freier Alpenluft wohl ein gesundes, teilweise aber hartes Leben geführt hat. Der Kampf mit den gewaltigen Bären, dessen Junge er in mit Zweigen verdeckten Löchern (Fallgruben) erbeutete, verlangte von ihm den tüchtigen Gebrauch seines scharfen Auges und des seines Ohrs. Mit List wusste er des Raubtieres Meister zu werden.

Der Fang eines einzigen Jungbärs versorgte ihn für Tage und Wochen mit Nahrung. Daneben benützte er zum Essen saftige Kräuter, Wurzeln, Beeren und Früchte. Die steinerne Wohnung, die Höhle, bot ihm Schutz vor schlimmer Witterung und wilden Tieren. Hieher brachte er seine Beute und verfertigte seine Werkzeuge am lustigen Höhlenfeuer.

Den schönsten Teil der Jagdbeute, d. h. die Schädel des Höhlenbären betrachtete der Urmensch als Heiligtum und brachte sie in den dunkelsten Gemächern dem Gotte des Waldes als Dank- und Sühnopfer dar. Seine Toten begrub er nie in der Wohnhöhle, sondern brachte sie an andere verborgene Orte. …

(Quelle: Appenzeller Kalender Band 206, 1927. Von E. Baechler)

Gabriel Walser

Der Erste, von dem Wanderungen im Alpstein aus touristischen und wissenschaftlichen, besonders topographischen Interessen sicher bezeugt sind, ist der Chronist und Geograph Gabriel Walser (geb. 1695 in Wolfhalden, gest. 1776 in Berneck).

… Seiner Appenzeller Chronik stellt Walser eine kolorierte Karte des Kantons voran, welche, in der damals gebräuchlichen Verbindung von horizontaler Projektion und vertikaler Ansicht, eine erfreuliche Leistung war und ihrem Urheber einen gewissen Ruf verschaffte, sodass das berühmte Homannische Institut in Nürnberg ihn die Erstellung eines Schweizer-Atlasses übertrug. Auf zahlreichen Fussreisen, die ihn durch die östliche und mittlere Schweiz bis ins Wallis führten, bereitete er sich gewissenhaft auf das grosse Werk vor; und als es 1769 unter dem Titel «Neuer Atlas der Helvetischen Republik» in 20 Blättern erschien, da bedeutete es, obwohl nicht auf genauen Vermessungen, sondern nur auf Schätzungen und eigenen Beobachtungen aufgebaut, einen entschiedenen Fortschritt gegenüber seinen Vorgängern. – Als Kommentar zu seinem Atlas liess Walser dann 1770 in Zürich eine «Kurzgefasste Schweitzer Geographie» erscheinen.

… Trotz seiner Gewandtheit beobachtete Walser aber alle Vorsichtsmassregeln gegen Unfälle und empfahl sie auch seinen Lesern: Wer die hohen Alpen besteigen will, der trette im Namen Gottes seine Reise an, befehle sein Leib und Seel seinem Gott. Demnach lasse er sich ein Paar Schuhe mit dicken Sohlen zurichten, und die Absätze und Sohlen mit Schirm-Nägel-Köpfen dichte an einandren beschlagen, gleich als ob er mitten im Winter über glattes Eis reisen wollte. Man kann sich auch mit Fusseisen, deren die Gemsjäger sich bedienen, versehen. Man nehme ferner einen starken, mit Eisen beschlagenen, spitzigen Stock, um denselbigen in den Schnee und das Eis zu stecken, sonderbar wo man über die Gletscher gehet, um zu sehen, ob keine Spalten unter dem Schnee sich finden, in die man fallen könnte. … Zu den Bergreisen sehe man sich um nach einem erfahrenen Wegweiser.»

Völlig zu Hause aber fühlte sich Walser in den Appenzeller-Bergen, und vor allem liebte er den Säntis, «denn hier ist der schönste Prospekt, den man wol finden mag, weilen er als ein König der Bergen über alle andere erhöhet liget».

(Quelle: Die ersten fünfzig Jahre der Sektion Säntis S. A. C. 1869-1919. Zitiert aus: «Pfarrer Gabriel Walser, der Chronist und Geograph», Vortrag von Prof. J. Dierauer an der Hauptversammlung des st. gallischen Historischen Vereins in Berneck, 1895. Und: «Pfarrer Gabriel Walser» im Appenzellischen Monatsblatt von 1826.)

Johann Jakob Scheuchzer

… Wagner’s Schüler Jakob Scheuchzer (1672-1738) nahm Gessner’s «Bewunderung der Berge» in seinen grossen Plan einer Natur- und Landeskunde der Schweiz auf. Er suchte Leute der verschiedensten Berufsarten für diesen Gegenstand zu interessiren und machte im Anfange des 18. Jahrhunderts, von Schülern und jungen Freunden begleitet, alljährlich eine Schweizreise. Die Gegenden und speciell die Thäler und Berge, welche er besuchte, gehören jetzt zu den allgemein bekannten, waren es aber damals durchaus nicht. …

… Scheuchzer gab neun Reisen nacheinander mit Karten und Plänen im Druck heraus, …

… Scheuchzer reiste als Naturforscher mit Barometer und Steinhammer, aber die Geschichte und die Culturverhältnisse seines Vaterlandes interessirten ihn auch im hohen Grade. …

… In origineller Weise sucht Scheuchzer, um Fremde zum Bergwandern in der Schweiz anzulocken, den Glauben an die damit verbundene Beschwerlichkeit zu widerlegen und nimmt dabei Aristoteles zu Hülfe: «Ich will», sagte er, «zum Trost der Reisenden beweisen, dass ihre durch die schweizerischen und andere hohe Gebirge vorzunehmenden Reisen mit mehr Lust und weniger Arbeit zugehen als auf der Ebene. Die eigentliche Ursach dieser Begebenheit besteht kurz darin: Weil bei abwechselnder Auf- und Absteigung alle Glieder des Leibes in Bewegung kommen, aber nicht zugleich, sondern also, dass, wenn die einten Mäuslein arbeiten, andere, so kurz zuvor sich abgemattet haben, ruhen können, und in der Zeit, da diese an Dantz müssen, jene hergegen durch diese Ruhe wiederum sich erholen. Nebst dem ist in Betracht zu ziehen, dass durch fortgesetzte Bewegung aller Leibes-Zäsern der Lauff des Geblüts und der Geistern Einfluss merklich befördert wird, welches nicht wenig zur Gesundheit der fremden Reisenden beiträgt, sowol als denen Einwohnern selbst, deren starke, ansehnliche und gesunde Leiber der ganzen Welt bekannt sind.»

(Quelle: Wanderstudien aus der Schweiz, von Eduard Osenbrüggen. Schaffhausen Fr. Hurter’sche Buchhandlung, 1867. Die Entwicklungsgeschichte des Schweizreisens)

Wanderung auf den Selun

Ein sonnerhellter Juliabend führte uns, drei Freunde, begleitet von einer jugendfrischen Knabenschaar, dem tief in den Thalkessel gebetteten Dörfchen Stein im Obertoggenburg zu. Unten die rauschende, geschwätzige Thur, hier in ihrem Oberlaufe ihr krystallhelles Wasser noch in schmalem Bette fortwälzend, rechts und links Weide und Wald mit Vogelschall, über uns die Häupter der nahen Bergriesen, des Schindelnbergs im Osten, der Churfirsten im Südosten, des Speers und Grobenbergs im Westen und höher über all der Pracht den tiefblauen Himmel – wer sollte da nicht begreifen, dass die heiterste Stimmung bald durchgebrochen! Wir überschreiten beim Dörfchen Stein die hölzerne Thurbrücke und gelangen nach einer Viertelstunde nach der Klus «Burg», wo sich die Hauptstrasse und die Thur mühsam zwischen den hier zusammentreffenden breiten Füssen des Hädernbergs und Schindelnbergs durchwinden.

Tief unten wälzt der Fluss die schäumenden Wogen, die durch eine natürliche Quermauer aus hartem Kalkfels, die halbe Breite des Bettes einnehmend, gebrochen werden. Die interessante Klus, die weiter keinen Ausblick gewährt, hat ihren Namen von der frühern Feste Starkenstein, deren Ruinen noch sichtbar sind, am westlichen Ende des zur Gemeinde Alt St. Johann gehörenden Weilers Starkenbach. Aus der Klus heraustretend, sehen wir diesen vor uns ausgebreitet. Mit dem Dorfe Alt St. Johann und dem noch östlicher vorgeschobenen Weiler Unterwasser bildet er eine der vielen Thalschaften, die, gleichsam wie Stockwerke übereinander liegend, in alter Zeit die Betten von Seen gebildet haben mögen, deren Wasser sich durch gewaltsamen Durchbruch der Hindernisse nachmals sichtbar vereinigten. Die nahen Vorberge haben inzwischen unser Reiseziel, das Haupt des westlichst vorgeschobenen Berges der sieben Churfirsten, des Seluns, dem Auge entrückt, um so lieber weilt es auf dem stillen Bergthal und dem im Nordosten auftauchenden Säntis. Ostwärts liegen die höchstgelegenen Dörfer der toggenburgischen Landschaft: Alt St. Johann und Wildhaus, letzteres mit 1011 Meter absoluter Höhe seinem Namen namentlich in der rauhern Jahreszeit alle Ehre machend. Da beginnt nun der ernstere Aufstieg, anfangs durch Vorweiden, dann durch den grossen Bergwald, der glücklicherweise den mühsamsten Theil unserer Tour nicht offen legt, ein Weg mit 77 langen Windungen. Allmälig geht die Sonne zur Rüste; nur der Säntis ist seines Sieges gewiss, am schönen Abend der Gegend das letzte Glühen als Scheidegruss entgegenzustrahlen. Endlich führt uns der Weg hinaus aus dem Waldesdunkel auf die freie, ausgedehnte Seluneralp. Die hereinbrechende Dämmerung mahnt, ein schützendes Obdach zu suchen, das uns denn auch bald ein freundlicher Senne in seiner Hütte gewährt.

Für die Jungen ist ein Heulager für die Nachtruhe ausersehen, die erwachsene Mannschaft soll indessen besser gebettet sein. Vorher aber noch ein kräftiger Imbiss, ächte Alpenkost. Das Lager wird aufgesucht; den süssen Schlummer findet man leicht. Doch nicht so Einer aus der Gesellschaft der hart nebeneinander Gebetteten, was die Veranlassung zu einer lustigen Episode bieten sollte. Er beneidet die Andern um den zeitkürzenden Schlaf und ist Schalk genug, seinen dritten Nebenschläfer zu rütteln. Dieser, schlaftrunken, weiss sich im Moment nicht zu orientiren, glaubt sich ernsthaft angegriffen und wirft sich mit Todesverachtung über den schuldlosen, schlummernden Nebenmann her, der aus denselben Gründen das Faustrecht geltend macht. Diese nächtliche Schlacht zweier Getreuer hat uns später viel Freude gemacht. Natürlich konnte sie nur in vollkommener Dunkelheit geschlagen werden.

Der Morgen weckte uns zu früher Stunde; galt es ja, den langen Bergrücken bis zum Sonnenaufgang noch zu erklimmen. Ein hehrer Friede lag auf dem Alpengelände am thauigen Sommermorgen. Nun nach dem Gipfel! eine etwas anstrengende Arbeit und doch auch wieder so leicht und angenehm im ermunternden Vorgefühl winkenden Genusses. Es dämmert herauf: Zeit und Weg sich kürzend wird manch’ stummer Genosse der Alpenflora gepflückt, von den Knaben natürlich in Menge die durch ihren geliebten, intensiven, feinen Geruch bevorzugte «Kammblume», Nigritella augustifolia, deren nächste Verwandte N. suaveolens hin und wieder, doch bedeutend seltener, auch in den Toggenburger Bergen, namentlich am Lütispitz, getroffen wird. Beide werden von den Aelplern, in Menge gepflückt, gedörrt in den Kleiderkästen zur Abwehr der schädlichen Schaben oder Motten aufbewahrt und dienen so auch einem praktischen Zweck.

Halb 5 Uhr haben wir endlich den Gipfel erreicht, beiläufig 2200 Meter hoch. Die Klarheit des Morgens ist überraschend; erst nimmt man mit einer allgemeinen Uebersicht des dem Auge sich darstellenden Gemäldes vorlieb, um nachher um so genauer Revue zu halten. Vorher aber stärkt man sich noch mit einem Morgenimbiss und wärmenden Trunk. Im Osten, unserm Standpunkt in gerader Linie vorgelagert, erheben sich die Häupter der übrigen Churfirsten (nicht Kurfürsten, wie nach falscher Ableitung oft noch geschrieben wird) die Firsten mit dem Ausblick auf die Herrschaft Chur, des Frümsel, Brisi, Zustoll, Scheibenstoll, Hinterruck und Kaiserruck, alle mit dem Selun, um mit Jung Stilling, der diese Berge vom Hohentwiel aus bewunderte, zu sprechen, eine Säge bildend, mit der man Planeten spalten könnte*. Ueber diese benachbarten Berge hinaus werden auch die Berge im Vorarlberg sichtbar. Gegen Südosten erglänzt im Morgensonnenstrahl das stolze Rhätikongebirge, während südwärts der graue Mürtschenstock mit seiner weissschäumenden Wasserader Murg ins Auge fällt. Ganz malerisch aber nimmt sich auf dieser Seite der zu Füssen liegende Wallensee mit der Eisenbahn am Ufer aus. Man glaubt, Sorge tragen zu müssen, um nicht in das Riesenwasserbecken zu purzeln. Unwillkürlich kam mir da eine auf einer Säntistour miterlebte Episode in den Sinn. Meinte dort ein junger Westschweizer, der mit dem Deutschen auf noch etwas gespanntem Fusse lebte, als er einen schmalen Weg über dem Seealpsee auf Meglisalp passiren sollte: «Nein, da wollen wir nicht; man könnte da unten ertrinken! Natürlich, nachdem man, wie im «Gemsjäger» steht, schon längst die Ewigkeit «erdrohlet» hätte. Gegen Westen erblicken wir den Eingang in’s romantische Glarnerländchen mit seinen stolzen Riesen, gegen Norden einen Theil Zürichs und Thurgaus, während der nahe gegenüberstehende Alpstein oder Säntis die Aussicht nach Norden und Nordosten theilweise beschränkt. Rund um uns her aber all’ die schönen Thalschaften und Ortschaften mit ihren Verkehrslinien: einer der Knaben meinte, das wäre die wahre Geographie und ich stimmte ihm freudig bei und bildete mir seither die Idee, man sollte der Jugend wirklich solche Genüsse zu verschaffen suchen. Sie sind so edel und nicht nur von momentaner Wirkung. Nun zum Abstieg! Es wird den gewaltigen Schneelagern zwischen Selun und Frümsel noch ein Besuch gemacht; gar so gerne hätten die Jungen auch eine Gemse, die hier oben noch gute Zuflucht findet, erspäht. Die Churfirsten sind als Kalkgebirge, ähnlich dem Jura, vielfach unterirdisch zerklüftet und zeigen auf der Nordseite kein oberirdisches, zu Tage tretendes, grösseres Gewässer. Das Wasser sammelt sich in sogenannten Milchbächen am rechten Ufer der Thur – nachdem es sich also unter dem Bette dieses Flusses durchgearbeitet – aus dem Erdinnern. Eine der grossen Verklüftungen heisst «Donnerloch» und ist von unergründlicher Tiefe, eine andere, am Eingang horizontal führende ist beim Volk unter dem der Sagenzeit entstammenden Ausdruck «Wildlimannshöhle» bekannt. Sonderbar sind auch die sog. Wetterlöcher, denen zu verschiedenen Zeiten warme und kalte Luft entströmt, den Aelplern als Wetterpropheten auf regnerische oder gute Witterung deutend. Von höchster Bedeutung für das Volk des hochgelegenen Thales sind aber die prachtvollen Alpweiden, die mehrern Hunderten von «Stössen» Vieh reichen Unterhalt gewähren. Sie heissen von Westen nach Osten Seluneralp, Breitenalp, Selenmatt und Iltios. Es wäre noch interessant gewesen, diese Gebiete alle zu durchschreiten und von Alp Iltios den zwei tief eingebetteten, fischreichen Schwendiseen einen Besuch zu machen, um nachher in die Landstrasse beim Dorf Wildhaus einzulenken. Doch die Zeit drängte und so wurde von Breitenalp aus rasch der letzte Theil des Abstieges wieder durch einen langen Wald nach dem Weiler Starkenbach im Thalesgrunde zurückgelegt.

(Quelle: Alpenpost Nr. 6, VI. Band, 7. Februar 1874. Autor unbekannt)

* Johann Heinrich Jung (genannt Jung-Stilling), 1740-1817, deutscher Augenarzt, Staatsrechtler, Wirtschaftswissenschaftler und pietistischer, mystisch-spiritualistischer Schriftsteller

Zitat aus: Heinrich Stillings Lehr-Jahre. Eine wahrhafte Geschichte. 4. verbesserte Auflage. Stuttgart bei Eberhard Friedrich Wolters, 1828. Seite 114:

Auf dem Wege von Tuttlingen nach Schaffhausen – wenn man nämlich über die Höhe fährt, giebt es einen Ort, von dem man eine Aussicht hat, die für einen Deutschen, der noch nie in der Schweiz war und Sinn für so Etwas hat, erstaunlich ist: man fährt von Tuttlingen aus, allmälich die Höhe hinan, und über diese hinaus, bis vorn auf die Spitze; hier hat man nun folgenden Anblick: linkerhand gegen Südosten, etwa eine Stunde weit in gerader Linie, steht der Riesenfels, mit seiner nunmehr zerstörten Veste; Hohen-Twiel, und rechter Hand gegen Südwesten, ungefähr in der Entfernung trotzt einem sein Bruder, ein eben so hoher und starker Riese, mit seiner ebenfalls zerstörten Veste, Hohenstaufen – der Postillon sagte: der hohe Stoffel – entgegen. Zwischen diesen beyden Seiten-Pfosten zeigt sich nun folgende Landschaft: links, längs Hohen-Twiel hin, etwa drey Meilen weit, glänzt einem der Bodensee, weit und breit wie schmelzend Silber entgegen; an der Südseite desselben übersieht man das paradisische Turgau und jenseits die Graubündtner Alpen; mehr rechts den Canton Appenzell mit seinen Schneebergen, den Canton Glarus mit seinen Riesengebürgen besonders den über alle emporragenden Glärnitsch, der hohe Sentis mit den sieben zackichten Kuhfirsten, liegt mehr östlich; so sieht man die ganze Reihe der Schneeberge, bis in den Canton Bern hinein, und man überblick einen grossen Theil der Schweiz – für Stilling war das eine herzerhebende Augenweide. Wenn man die ganze Alpenkette längs dem Horizont hinliegen sieht, so kommt sie einem wie eine grosse Säge vor, mit der man Planeten spalten könnte.