Aus den Bergen von St. Antönien

Am 31. Juli blieb ich daheim, um auszuruhen und einige Correspondenzen zu besorgen, aber am 1. August zog ich wieder aus. Ueber das Kreuz, das Kühnihorn und den Schafberg wollte ich zunächst Partnun erreichen. Das Kreuz ist ein Prachtspunkt und wird von den umliegenden Orten aus mit einer gewissen Vorliebe, aber doch noch viel zu wenig besucht. Ich war wer weiss wie vielmal da oben und habe es jedesmal gut getroffen. Die Tour kann eben leicht in einem Tag, ja selbst in einem halben Tag gemacht werden, und dabei kann man auf den verschiedensten Wegen auf- und absteigen. Man riskirt also nicht, bei gutem Wetter aufzubrechen und den Fuss des Berges zu erreichen, um dann am andern Tag bei Wind und Regen auf die wolkenumhüllte Spitze zu kommen oder ganz unverrichteter Sache umkehren zu müssen. Ein einziges Mal traf ich, es war an einem Abend bei Sonnenuntergang, auf der Ostseite des Berges gegen St. Antönien das Thal mit Nebel erfüllt, wodurch aber die Aussicht in die Runde umher nicht nur nicht vermindert, sondern um ein interessantes Stück, ein wohlausgebildetes Nebelbild, vermehrt wurde. Wir waren drei Personen und sahen unsere Schattenbilder, von einem prächtigen, kreisförmigen Regenbogen umschlossen, auf der Nebelwand. Die Figuren machten alle unsere Bewegungen und Stellungen genau nach und gingen sammt dem Farbenring mit uns hin und her. Standen wir nahe bei einander, so sah Jeder alle drei Figuren, doch sich selber am deutlichsten, entfernten wir uns von einander, so sah Jeder nur noch sich selber. Solche Nebelbilder kann man im Prätigau, wenn man darauf achtet, hie und da sehen. So habe ich sie schon beobachtet vom Gyrenspitz (auf dem Gyr 2167 m), ob der Luziensteig und von Fadera bei Seewis gegen das Rheinthal, zuletzt auch, bei meiner sechszehnten Besteigung, auf der Scesaplana am 25. Juli 1890, Morgens zwischen 5 und 6 Uhr, gegen den Südrand des Gletschers, in der Richtung des Schaflochs. Das letztgenannte Nebelbild, das von mehreren Personen, u. A. auch von unserem Jahrbuch-Redactor Wäber und seinen zwei Söhnen, sowie von Hrn. Seminarlehrer Zwicky in Schiers, gleichzeitig gesehen wurde, war mir dadurch merkwürdig, dass es sich binnen einer Viertelstunde auf den vom Winde bewegten Nebelmassen mehrmals bildete und wieder verschwand. Im Prätigau und draussen im Rheinthal kann man, wenn im Thal eine Nebelschicht liegt, während auf den Höhen die Sonne scheint, die Punkte bestimmen, von welchen man mit Wahrscheinlichkeit ein Nebelbild wird beobachten können. Man muss die Punkte so wählen, dass man hinter sich die Sonne, vor und unter sich die Nebelwand hat. Die Nebelbilder können aber sehr ungleich schön und deutlich erscheinen; es hängt das ab von der Dichte und Dicke der Nebelschicht, von der Entfernung derselben vom Beobachter und von der Reinheit der obern Luftschichten. Eine ausführliche Erklärung der Nebelbilder hat Professor A. Heim im XIV. Jahrbuch des S.A.C. (pag. 406 ff.) gegeben.
Um 6 ½ Uhr marschirte ich ab und stieg raschen Schrittes über Fajauna dem Stelserberg zu. Um 7 ½ Uhr war ich schon auf dem Hof, etwa 1380 m hoch, und hatte also in einer Stunde eine Höhe von 720 m erstiegen. Nun ging’s weniger steil über üppige Alpenweiden und bei fortwährend herrlicher Aussicht, namentlich auf den Rhätikon vom Falknis bis zur Sulzfluh, am Stelsersee vorbei und über den begrasten Rücken von Cavell auf’s Kreuz (2200 m) los, das ich exact um 10 Uhr erreichte. Die Luft war rein, die Aussicht darum sehr lohnend. Die anziehendsten Stücke derselben sind der Rhätikon und das Prätigau, die man beide in ihrer ganzen Ausdehnung überblickt, wenn auch nicht gerade jedes Dorf gesehen wird. Auch die Silvrettagruppe präsentirt sich prächtig, doch nur die eine Hälfte davon vom Piz Buin bis zum Piz Linard. Was nördlicher liegt, ist vom Madrishorn verdeckt. Nach Süden erheben sich in drei Etagen das Plessurgebirge, die Albulakette und die Berninagruppe, immer eines hinter dem andern und deutlich von einander zu unterscheiden. Doch muss man bei Weissfluh, Piz Kesch und Bernina, die fast in einer geraden Linie stehen, aufpassen, sonst erscheinen sie alle drei als ein einziger Berg. Weniger günstig zeigen sich die Adulagruppe und das Bündner Oberland. Man sieht dort nichts als ein weites Gipfelmeer und hat Mühe, die einzelnen Gruppen bestimmt von einander zu unterscheiden. Besser erkennt man wieder die St. Galler Oberländer mit den Grauen Hörnern, dem Calanda, der Ringelspitze und der Sardonagruppe.
Auch botanisch ist der Berg sehr interessant und bietet einzelne Seltenheiten unserer Gegend. … Es gibt keinen schönern Anblick, als die Hochfläche des Stelserberg bis zum See hinauf, wenn sie jeweilen in der ersten Hälfte des Juni im reichen Farbenschmuck der leuchtenden Alpenblumen erscheint. Dann sollte die umwohnende Bevölkerung hinaufpilgern, um die Bergweide in ihrer Herrlichkeit zu sehen, wenn diese als duftiger, hundertfarbiger Blumenteppich von wunderbarer Pracht erscheint! Und es wäre wohl der Mühe werth, auch von weiter her zu kommen, um etwas zu sehen, was man im Hochsommer, in der eigentlichen Reisezeit, niemals sehen kann.
Nachdem ich 40 Minuten auf dem schönen Berg verweilt, eilte ich in Sprüngen über steile Grashalden hinunter nach Valpun und dann durch eine Wald- und Sumpflandschaft nach der Einsenkung von Aschuel (1624 m), wo einige schöne Bauerngüter auch im Winter bewohnt sind und über welche der kürzeste Weg von Schiers nach St. Antönien führt. Um 11 Uhr 25 Min. war ich hier und dann um 12 Uhr im Meierhofer-Aelpli (1758 m) am Südabhang des Kühnihorn. Es war unterdessen heiss geworden an diesen sonnigen Halden, und ich kehrte darum gern auf eine Weile bei einem Bauern ein, der mich freundlich willkommen geheissen hatte. Um 12 ½ Uhr nahm ich Abschied und stieg nun während der heissesten Tageszeit im Zickzack die steilen Abhänge gegen das Kühnihorn hinauf. Allein in dieser Höhe belästigte mich die Hitze nicht so sehr, und so erstieg ich die 658 m doch in genau einer Stunde, denn um 1 ½ Uhr war ich auf der Spitze.
Das Kühnihorn (2416 m) bildet einen kurzen Grat, der nach Norden mit rauhen, verwitterten Felsköpfen steil abbricht, indes im Süden die Grashalden auch nicht sonderlich sanft sich absenken, so dass man an einzelnen Stellen kaum auf ihnen stehen kann und Mühe hat, sie zu traversiren. Der zum Theil ebenfalls noch bewachsene Gipfelgrat trägt zwei Steinmännchen, wovon das eine sehr gross ist und etwa 2 m Höhe hat. Ich notirte hier 26 Blüthenpflanzen, die Gräser nicht mitgezählt. Die Rinder steigen auch bis auf diese Höhe und auf den benachbarten Schafberg. Die Aussicht ist derjenigen vom Kreuz sehr ähnlich, besonders schön der Rhätikon. Vom Prätigau sieht man weniger, aber reizend ist der kleine, himmelblaue und von hier aus kreisförmig erscheinende Garschinasee. Um 2 Uhr 15 Min. verliess ich diesen Punkt und wanderte über den Grat nach dem Schafberg (2463 m), den ich um 2 Uhr 50 Min. betrat. Der Berg hat zwei fast gleich hohe Spitzen, die durch einen nach Nordwesten geöffneten Gratbogen verbunden sind. Von einer Spitze zur andern sind es fünf Minuten. Schafberg und Kühnihorn bestehen, wie das Kreuz, aus dunkelgrauem Thonschiefer. Die Schichten fallen nach SO., die Schichtköpfe und Steilhänge nach NW. Die letzteren sind felsig und stark verwittert und von vielen Runsen und Rufen durchfurcht. Die Vegetation ist, wie auf dem Kühnihorn und dem zwischenliegenden Grat, ziemlich reich, doch überwuchert auf dem Schafberg der blaue Eisenhut. Die Aussicht ist schöner und weiter, als auf dem Kühnihorn und dem Kreuz. Namentlich sieht man die Silvrettagruppe weit besser, mit Fluchthorn, Gross- und Klein-Buin, Verstanklahorn und Schwarzkopf, Plattenhörner und Piz Linard etc. Das Schönste und Grossartigste dieser Aussicht sind aber Sulz- und Drusenfluh mit dem dazwischenliegenden Drusenthor. Etwas Grossartigeres, als die ungeheuren Felsmassen dieses Riesenpaares, kann man in unserer Gegend nirgends sehen, und der Schafberg ist für deren Anblick der günstigste Punkt, der schon dieses einzigen Schaustückes wegen verdienen würde, von Partnun und St. Antönien aus fleissig besucht zu werden. Eine besonders empfehlenswerthe Tagestour ist die von Partnun über die Garschinafurka mit Abstecher auf den Schafberg und dann über die Schierser- (Drusen), Grüscher- und Schuderser-Alp nach Schuders und Schiers oder umgekehrt, was in der ersten Richtung etwa sechs, in der zweiten etwa acht Stunden erfordert, die Aufenthalte nicht eingerechnet.
Ich verliess den Schafberg um 3 Uhr 20 Min. und marschirte über die Garschinafurka und dann über die grosse Ganda, das Brunneneck und die schönen Partnuner Mäder hinunter nach Partnun. Die grosse Ganda ist südlich im weiten Halbkreis umschlossen von einer grossen Moräne, die stellenweise aus zwei oder drei concentrischen Kreisbogen besteht und die man z. B. auch von der Sulzfluh aus sehr gut sieht. Auf der Excursionskarte ist sie deutlich verzeichnet. Die Ganda selbst ist ein grosses Bergsturzgebiet, dessen Blockmassen von der Sulzfluh heruntergekommen sind. Angenehm überrascht wird man in demselben durch eine prächtige Quelle, deren frisches und reichlich fliessendes Wasser in einem kleinen Graben nach den Partnuner Mädern geleitet wird. Ueber die weiten, theilweise moorigen und schwammigen Gras- und Riedhalden der letztern geht es dann steil abwärts zum Schanielenbach, den man am besten auf halbem Weg zwischen Partnun-Staffel und Partnunersee auf einem kleinen Steg in der Nähe des Mieschbrunnen, einer ebenfalls starken und frischen Quelle, überschreitet. Die Mäder sind, wie ganz Partnun überhaupt, botanisch sehr reich und interessant.
Um 4 Uhr 25 Min. war ich in der von unserem Clubgenossen, Herrn Pleisch, gehaltenen und bestens geführten Pension Sulzfluh in Partnun, wo ich zu meiner Freude neben andern Bekannten auch zwei hervorragende Clubisten fand: die Herren Weilenmann aus St. Gallen und Baumann-Zürrer aus Zürich. Auch eine Gesellschaft fideler Studenten aus Basel war da, die einen Theil ihrer Ferien hier zubrachten, nach allen Seiten ausflogen und nebenbei ihrem Professor in der faunistischen Erforschung der Seen von Partnun, Garschina, Gafia und Tilisuna behülflich waren. Eine fröhlichere und lebenslustigere Kurgesellschaft hat man gewiss nicht bald an so abgelegenem Ort beisammen gesehen!
Am folgenden Morgen trat ich um 5 ½ Uhr den Marsch wieder an mit dem Programm: Kammwanderung über die Grenzkette vom Schollberg bis zum Gweilkopf. Also wanderte ich zunächst über den Wiesengrund der Glatten Böden, die aber ziemlich holperig und theilweise mit grossen, von der Mittelfluh stammenden Kalkblöcken besäet sind, dahin in der Richtung gegen Weberlis-Höhle und bog dann hier rechts ab, um nach einigem Steigen in das Silberthal einzudringen. Dieses kleine, zwischen hohen Felswänden eingeschlossene Thälchen steigt steil nach Südwesten an und endigt oben in der Lücke zwischen den beiden Gipfeln des Schollberges. Es ist ganz von Schutt und theilweise auch von Schnee erfüllt, und der Schutt besteht, wie die anstehenden Felsen zu beiden Seiten, aus Urgestein (Gneiss, Glimmerschiefer und Hornblendeschiefer). Um 7 Uhr 5 Min. war ich auf der nördlichen Spitze des Schollberges (2544 m), um 7 Uhr 20 Min. auf der südlichen, die mit 2574 m der höchste Punkt in der ganzen Madrishornkette nördlich vom St. Antönierjoch ist. Beide Spitzen bestehen, wie die ganze Grenzkette vom Madrishorn bis über den Gweil- und Alpilakopf, aus krystallinischen Felsarten, und diese reichen an der Westseite des Schollberges bis unter die Höhencurve von 2400 m. Erst die unter derselben folgenden Felsabstürze gegen die edelweissreichen Mäder sind aus östlich fallenden Kalkschichten zusammengesetzt, so dass die krystallinischen Gesteine dem Kalk aufgelagert sind. Die Grenze zwischen beiden ist eine sehr scharfe und schon von Partnun und St. Antönien aus zu erkennen, denn die Kalkwände erscheinen von dort aus hellgrau, die krystallinischen Spitzen bräunlich. Die letztern sind auf dem ganzen Grat noch theilweise bewachsen und tragen manche Blüthenpflanzen. Es sind mir z.B. aufgefallen: Primula integrifolia, Soldanella alpina, rothe und weisse Androsaceen, Anemone alpina, der blaue Fingerhut, die bärtige Glockenblume, ein Vergissmeinnicht, ein gelber Ranunculus und viele andere, vor allen aber auffallend grosse und schöne Nigritellen (Bränderli).
Die Aussicht von den Schollbergspitzen ist sehr schön und umfasst das ganze diesjährige und vorjährige Clubgebiet — Rhätikon, Plessurgebirge, Graue Hörner, Calanda, Ringelspitz etc. besonders aber die Silvrettagruppe mit allen ihren Hauptgipfeln. Endlich reicht sie auch weiter nach der Albulakette, Berninagruppe, in’s Bündner Oberland, nach der Verwallgruppe u. s. w. Auch ein Theil des vordern Prätigaus und des Rheinthals bei Landquart leuchten herauf.
Um 7 Uhr 50 Min. setzte ich das Gangwerk wieder in Bewegung und marschirte oder kletterte je nach der Beschaffenheit der vielen Felsköpfe ostwärts den Rungspitzen zu und hielt mich dabei immer genau auf dem beidseitig schroff abfallenden Kamm. Die höhere Rungspitze (2552 m Riedkopf) war um 8 Uhr 45 Min. erreicht. Auf ihr steht kein Steinmann, dafür aber einer auf dem etwas weniger hohen Punkt 2532 m. Der Marsch bis hieher bietet keine nennenswerthen Schwierigkeiten. An einer einzigen Stelle musste ich einige Meter rechts unter dem Kamm durchgehen. Der vielen Zacken wegen muss man allerdings viel auf- und absteigen, aber es handelt sich dabei immer nur um wenige Meter, was nur Abwechslung in die Bewegung bringt und vor Ermüdung bewahrt. Dabei hat man fortwährend das herrliche Bild der Silvrettagruppe und ihrer westlichen und nördlichen Ausläufer vor sich.
Der Marsch von der Rungspitze über den Grat nach Norden bietet im Ganzen wenig Bemerkenswerthes. Der Grat sieht freilich sehr verwittert und zerrissen aus, besteht aber durchweg aus krystallinischen Felsarten, und zwar herrschen in der südlichen Hälfte mehr die dunklen, hornblendereichen Casannaschiefer (Theobald) und Hornblendeschiefer, in der nördlichen Hälfte mehr hellgefärbte, glimmerreiche Gneisse und Glimmerschiefer. Diese Gesteine bilden hier nirgends so grosse, compacte, glatte Wände und Flühe, wie der Kalk an der Sulz- und Drusenfluh; auch grössere, abschüssige Gneissplatten, wie sie in der Silvrettagruppe sich häufig finden, sind hier seltener und lassen sich immer mit leichter Mühe umgehen. Der Grat und die vielen aus demselben hervorragenden Köpfe, Zacken und kleinen Pyramiden stellen oft nur wilde Blockmassen dar, über und zwischen welchen man leicht fortkommt, da man überall gut auftreten und, wenn nöthig, sich mit den Händen festhalten kann. So gestaltete sich denn mein Marsch zu einem äusserst angenehmen, genussreichen Spaziergang, in den das vielfache Auf- und Absteigen und einzelne kleine Klettereien etwas Abwechslung brachten. Die vielen Lücken zwischen je zwei Spitzen sind natürlich ungleich tief eingeschnitten, manche nur 20 bis 30 m, andere aber auch 100 bis 150 m tief, und so brauchte ich denn von einer Spitze zur andern oft nur wenige Minuten, hie und da aber auch eine halbe Stunde oder mehr. Mit Hartnäckigkeit überkletterte ich jedes auch noch so kleine Spitzchen des Grates, selbst so kleine Zähne oder Stöcke, wie sie am Vierecker- und am Sarotlapass vorkommen. Der dicke Felsklotz des Vierecker, ein vierschrötiger Obelisk, ist auf seinem Scheitel durch einen tiefen Einschnitt mit senkrechten Wänden von Ost nach West zerspalten, den ich allein nicht zu passiren wagte. Ich war darum gezwungen, nach dem Viereckerpass zurückzukehren und von da östlich unter dem Trotzkopf durch nach dem Punkt 2464 der Excursionskarte hinüberzusteigen. Das ist die einzige Stelle, an der ich den Grat für kurze Zeit verlassen musste. Auf den bedeutendem Spitzen, Rothspitz, Vierecker u. s. w., blieb ich jeweilen einige Zeit stehen oder sitzen, um die bei dem schönen, warmen Tag prächtige Aussicht, namentlich gegen die Silvretta- und Verwallgruppe, zu geniessen, diesen oder jenen Punkt mit Hilfe der Karte zu bestimmen und Notizen über Aussicht, Gesteine und Pflanzen, Beschaffenheit der Berge etc. zu machen. Auf der ersten und höchsten der Röbispitzen (2467 m) hielt ich von 11 Uhr 45 Min. bis 12 Uhr 15 Min. Mittagsrast. Um 1 Uhr 30 Min. war ich auf dem kleinern (2544 m), 1 Uhr 45 Min. auf dem grössern Sarotlaspitz (2562 m). Von hier sieht man den Tilisunasee und weiter draussen St. Bartholomäusberg an den grünen Halden über dem bei Schruns ausmündenden Silberthal. Die Vorarlberger und Algäuer Alpen sind überhaupt jetzt besser ins Gesichtsfeld gerückt, vom Rhätikon aber sieht man nur noch die Scheienfluh, die Sulzfluh und den Falknis, alles Zwischenliegende ist verdeckt. Herrlich ist immer noch die Silvrettagruppe, namentlich das Litzner- und Fluchthorngebiet.
Auf den beiden Sarotlaspitzen steht kein Steinmann von Menschenhänden gemacht, dagegen ein natürlicher auf dem nordöstlichen Vorsprung des höhern Gipfels, dann ein künstlicher, der offenbar als Wegweiser dienen muss, unten auf dem nördlichen Sarotlapass (2478 m). Hier fand sich auch ein kleiner See aus Schneewasser, der auf drei Seiten noch von einem dicken Schneewall umgeben war und nur im Osten ein Landufer hatte. Die Sarotlapässe führen von der Höhe des Plasseckenpasses nördlich und südlich von den Sarotlaspitzen durch über die Punkte 2395 m und 2478 m nach der Alp Sarotla und ins Gargellenthal. Ich überkletterte nun zunächst noch die beiden Spitzen zwischen dem nördlichen Sarotlapass und dem Gweiljoch, die beide wildzackige Gräte darstellen und besonders nach Osten steil und tief abfallen. Die südliche ist auf unserer Excursionskarte ohne Namen und Zahl, die nördliche heisst Platinakopf. Man würde beide wohl am besten als nördlichen und südlichen oder äussern und innern Platinakopf unterscheiden. Die Lücke zwischen beiden heisst Platinapass und ist ebenfalls mit einem kleinen See geschmückt, der aber möglicherweise in einzelnen Sommern austrocknet. Dieser Pass führt im östlichen Abstieg lange über ein steiles Trümmerfeld von meist feinem Gneiss- und Glimmerschieferschutt nach der Alp Platina. Man sieht, an Pässen fehlt es hier nicht; jeweilen zwischen zwei Spitzen kann man durchgehen von der schweizerischen nach der österreichischen Seite. Der ganze Kamm ist für Schmuggler wie gemacht und wird von diesen auch wacker benutzt. Gipfel und Pässe haben meist ihre Namen nach den ostseitigen Alpen. Dies gilt auch noch für das nun nördlich folgende Gweiljoch und den Gweilkopf, welch letzterer den Endpunkt meiner Gratwanderung bildete. Auf dem nördlichen Platinakopf war ich um 2 Uhr 50 Min., auf dem äussern Gweilkopf um 3 Uhr 45 Min. Als Aussichtspunkte sind vom ganzen von mir überschrittenen Grat der erste und letzte Gipfel oder also der Schollberg und der Gweilkopf jedenfalls die günstigsten. Der letztere bietet ausser der mehrfach angedeuteten Gebirgsansicht namentlich einen schönen Blick ins Montavon, besonders nach Schruns und St. Gallenkirch, und ist schon deshalb eines Besuches von der nahegelegenen Tilisunahütte aus werth.
Nach einem Aufenthalt von 15 Minuten auf dieser letzten schönen Spitze eilte ich nach dem Gweiljoch zurück und zur Alp Tilisuna hinunter, dann westwärts wieder hinauf nach der Tilisunahütte des D. u. Oe. A. V., wo ich um 5 Uhr ankam. Um 5 Uhr 25 Min. nahm ich wieder Abschied von dem alten, gemüthlichen Hüttenwirth, um nach Partnun zurückzukehren. Seitdem in Partnun und Tilisuna Absteigequartiere für Touristen entstanden sind und der Verkehr zwischen beiden grösser geworden ist, ist auch ein directerer Verbindungsweg entstanden. Derselbe führt von der Tilisunahütte direct gegen Punkt 2222 m und zieht sich dann, etwas rechts umbiegend, durch die Gruben, um gegen den Südrand derselben wieder auf den alten Grubenpassweg zu stossen. Man muss sich aber hüten, den nicht überall gut erkennbaren Weg zu verlieren, weil man sonst in dem wilden Felslabyrinth sich leicht verirren oder auch an den glatt geschliffenen Felsen und in den karrenartig durchlöcherten und zerschnittenen Kalkflächen in schlimme Situationen kommen kann. Namentlich bei Nebel oder am Abend, wenn die Nacht heranrückt, heisst’s aufpassen. Hat man sich verirrt, so ist es am besten, wenn man den östlichen Rand der Gruben zu erreichen sucht, auch wenn dies in ziemlich grossem, nach Norden gerichtetem Bogen geschehen müsste. Am Ostrand ist der Boden weniger felsig, es finden sich mehr beraste Flecken und weniger Schratten, so dass man da besser überall durchgehen kann. Auch wird man dort den meist gut kenntlichen alten Weg finden.
Ich unterlasse es, den gewaltigen Felsencircus der Gruben mit seinen gebleichten Kalkwänden und wirren Trümmermassen, seinen Rundhöckern, Gletscherschliffen, Schratten und Dolinen weiter zu beschreiben. Ebenso will ich nicht versuchen, ein Bild zu geben von dem auf drei Seiten von himmelanstrebenden Felsmassen — Sulzfluh, Scheienfluh und Gruben — umschlossenen und von leuchtenden Alpenblumen umkränzten Partnunersee. Aber so viel ist gewiss, eigenartige Landschaften sind es, diese beiden aufeinanderfolgenden Gebirgskessel, das untere, seengeschmückte und wenigstens auf der Westseite noch von grünen Halden eingefasste Thal und der 300 m höher liegende kahle und todte Felsencircus. Als ich da eilenden Laufes durchzog, lag schon Alles in tiefem Schatten, nur die weissen Wände der Scheien- und Sulzfluh und die braunen, vielgestaltigen Spitzen der Madrishornkette erglühten in dem feurigen Rosa der untergehenden Sonne. Um 6 Uhr 45 Min. kehrte ich in dem Gasthaus wiederum ein, von dem ich am frühen Morgen meine Wanderung angetreten hatte.
Am folgenden Tag regnete es zur Abwechslung wieder einmal, und da ich die Erfahrung gemacht hatte, dass die Schönwetterperioden diesen Sommer je nur ein bis zwei, die Regenperioden aber vier oder fünf oder noch mehr Tage dauerten, so sagte ich gegen Mittag meinem Wirth und seinen Gästen Lebewohl und marschirte bei strömendem Regen hinaus nach Küblis, um von da per Bahn nach Schiers zu kommen und hier eine neue, kurzlebige Schönwetter- und Reisezeit abzuwarten.
(E. Imhof, Section Scesaplana)
(Quelle: SAC Jahrbuch 1890)

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