Den Namen haben ihr die Bewohner des Seeztales gegeben, denn Gauschla stammt von lateinisch casula = Häuschen, und von Süden bietet sich der Gipfelgrat tatsächlich als ein richtiger Dachfirst dar. Trotzdem ist die Gauschla der Wartauerberg. Von allen Dörfern aus sichtbar, reckt er sich als kühner Wächter über den bewohnten Teil der Gemeinde. Der hinter ihm liegende Alvier ist zwar einige Meter höher, wirkt aber nirgends so beherrschend. Auch er steht ganz auf Wartauerboden, doch ist man hier grosszügig geneigt, den Sevelern und Buchsern einen ideellen Anteil zu überlassen, und das Hüttenbuch auf dem Gipfel beweist, dass von diesem Recht ausgiebig Gebrauch gemacht wird. Die Gauschla hingegen bleibt ungeteilt, wenn sie sich schon am allerschönsten von einigen Punkten ausserhalb der Gemeinde präsentiert, so etwa vom Fläscherberg oder von Ragaz. Die Ragazer mögen sich an den eleganten Pyramide freuen, sollen aber bitte die weiblich grazile Gauschla nicht mit dem männlich klotzigen Alvier verwechseln. Dagegen müssen wir Protest erheben, auch wenn diese Namensunterschiebung im Interesse der Fremdenwerbung geschehen sollte.
Die Gauschla ist ein Grasberg und deshalb besser mit Tricouni als mit Vibram zu ersteigen. Wo das Gestein hervortritt, ist es meist morsch und lose, so dass man sich bei Kraxeleien vorteilhafter auf ehrliche Grasbüschel verlässt. Auf der Normalroute ist allerdings auch das nicht nötig. Sie führt von der Schaneralp über den breiten, nach Osten gewendeten Rücken und bietet keinerlei Schwierigkeiten.
Die „klassische“ Grastour auf die Gauschla ist die Kammegg, welche die Fortsetzung der Wasserscheide vom Gonzen her bildet. Ohne schwierig zu sein, verlangt dieser luftige Anstieg einen sichern Tritt und Schwindelfreiheit. Das hat ihm „im Volke“ den Ruf einer gewissen Gefährlichkeit eingetragen, und es ist schon darum der Stolz jedes Wartauerbuben, ihn bezwungen zu haben.
Noch höher im Kurs steht wohl der Übergang zur Abgelösten Gauschla. So nennt man hier jenen nördlich gelegenen Gratzacken, der durch einen tiefen Schnitt vom Hauptgipfel abgetrennt ist. Einen besonderen Anreiz bildet natürlich das vor einigen Jahren von einem Piz Söler gestiftete Gipfelbuch im Steinmann dieses Punktes. Zur Scharte gelangt man auf steilem Grasband in der Südflanke; ein paar Meter leichter Felskletterei ermöglichen von dort den Zutritt zum kecken Haupt. Im Frühjahr und bis weit in den Sommer hinein erleichtert der Schnee in der schattigen Lücke den Übergang, kann ihn allerdings unter Umständen auch erschweren, wenn er sich zu einem messerscharfen und eisigharten Grätchen aufbaut.
Von der Abgelösten lässt sich die Traversierung Richtung Alvier fortsetzen, indem man nicht ganz harmlos links in ein steiles Couloir absteigt und die schmale Gratkante bis an ihr Ende verfolgt. Den senkrechten Abbruch umgeht man rechts und gelangt wiederansteigend zum bekannten „Chemmi“ und damit zum Alvierweg.
An seinem „Hausberg“ probiert man alle möglichen Auf- und Abstiege aus und freut sich an Neuentdeckungen. So stiegen wir einmal zu zweit von Palfries direkt zur erwähnten Lücke vor der Abgelösten. Eine schluchtartige Rinne zerreisst hier die Bergflanke und legt den Fels bloss. Manche Steinsalve ging zunächst in die Tiefe, mit zunehmender Steilheit und Verengung wurde es aber interessanter, kaminartige Windungen und gutgriffige Stufen folgten sich, und wir bekamen wenigstens die Illusion, in einer grossen Wand zu stecken. Irgendwo fanden wir sogar einen Haken mit Ring, an dem sich einst kletterzünftige Piz Söler abgeseilt haben sollen.
Vielleicht das schönste, was man an der Gauschla erleben kann, ist eine Frühlingsfahrt mit Ski. Wenn die Skilifts ihren Betrieb schon allerorts eingestellt haben, liegt der Schnee noch herunter bis zur Schaneralp und es lohnt sich, die Bretter bis dort hinauf zu tragen. Wir werden entschädigt durch eine Abfahrt von 1000 Meter Höhendifferenz, die ihresgleichen sucht. Wenigstens wenn man die rechte Sulz erwischt. Die obersten Hänge sind allerdings sehr steil, sodass im Frühling mit zunehmender Tageswärme Schneebrettgefahr besteht. Man mache sich deshalb frühzeitig auf die Socken oder gehe das letzte Stück zu Fuss.
Sind schon die Wege zu unserm Gipfel gar nicht langweilig, so ist es noch viel weniger der Ausblick. Die Fernsicht reicht vom Tödi zur Bernina und in die Silvretta, doch besonders eigenartig und reizvoll ist dank der vorgeschobenen Lage der Tiefblick ins Rheintal und Seeztal. Man wird nicht müde, hinunterzuschauen, schon darum, weil man dann wieder wochenlang tagtäglich die umgekehrte Perspektive hat.
(Jakob Frigg in: Der Piz Sol. Nachrichten der Sektion Piz Sol 1951)